• Keine Ergebnisse gefunden

Unsere Gastrezension:

Im Dokument Unternehmerin Kommune: (Seite 60-64)

Von Prof. Dr. Thomas Edeling

Das kommunale

Nagelstudio. Die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.

Nun hat der Herausgeber dieser Zeitschrift wieder ein Buch geschrieben. Nach seinem 2014 beim renommierten Verlag Springer-Gabler erschienenen ersten Standardwerk

„Kommunalwirtschaft. Eine gesellschaftspoli-tische und volkswirtschaftliche Analyse“ folgt nun das im gleichen Hause verlegte Buch

„Das kommunale Nagelstudio. Die populärs-ten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“. Mit diesem Titel startete Springer eine neue Sachbuchreihe. Viel Ehre für eine Schrift zum Thema Kommunalwirtschaft, das im Regelfall eher ein Nischendasein führt.

Dass der Autor, Michael Schäfer (Co-Autor ist Sven-Joachim Otto) diese Edi-tion in seiner Zeitschrift nicht vorstellen kann, liegt auf der Hand. Andererseits wäre es töricht, es in UNTERNEHMERIN KOMMUNE mit ihrer fachlich wahr-lich „passenden“ Leserschaft quasi unter den Tisch fallen zu lassen. Bücher werden ja doch bitte schön – jetzt folgt eine Binsenwahrheit – geschrieben, um gelesen zu werden!!! Wie raus aus diesem kleinen Dilemma? Die

„Prob-Eine Lanze für die Kommunalwirtschaft!

Die kommunale Wirtschaft in Deutschland ist seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert umstritten und in ihrer Existenzberechtigung neben der Privatwirtschaft ideologisch und politisch umkämpft. Öffentliches Eigentum generell wie kommunales Eigentum im besonderen werden

tung, die sich aus dem demografischen Wandel, den Auswirkungen der Finanzkrise, der Energiewende und dem geplanten TTIP-Abkommen ergeben. (Verlag) Bolsenkötter, Heinz:

Öffentlich-Rechtliche

Unternehmen der Gemeinden:

länderübergreifende Darstellung.

Stuttgart: Kohlhammer, 2015.

ISBN 978-3-17-019872-2, Senatsbibliothek: R 641/3 Dieses länderübergreifende Handbuch erläutert so-wohl die einschlägigen kommunalrechtlichen Vor-schriften als auch relevantes anderes Recht, insbe-sondere Handels- und Steuerrecht. Den Hauptteil des Buches bildet – auch in der vorliegenden Auflage – die Kommentierung der Vorschriften über Wirt-schaftsführung und Rechnungswesen einschließlich Bilanzierung und Abschlussprüfung. Die aktuellen Entwicklungen in den Ländern seit der Vorauflage werden anschaulich dargestellt. Ausführlich behandelt wird außerdem die Anstalt des öffentlichen Rechts (Kommunalunternehmen) mit ihren Gemeinsam-keiten und Unterschieden zum Eigenbetrieb. (Verlag)

Geisz, Johannes:

Die Grenzen der Privatisierung kommunaler öffentlicher Einrichtungen.

Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2015.

ISBN 978-3-86573-876-9, Senatsbibliothek: R 641/1 Die Kommunen der Bundesrepublik Deutschland stellen ihren Einwohnern verschiedene öffentliche Einrichtungen zur Nutzung bereit. Die vorliegen-de Arbeit untersucht, ob und wie diese im Rah-men kommunaler Daseinsvorsorge vorgehaltenen kommunalen öffentlichen Einrichtungen nach der geltenden Rechtslage privatisiert werden dür-fen, welche Vorgaben bei der Umsetzung der ver-schiedenen Privatisierungsarten zu beachten sind und welche kommunalen Pflichten in der Priva-tisierungsfolgephase fortbestehen. Exemplarisch werden einzelne Einrichtungen aus dem Bereich der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben sowie der kommunalen Pflichtaufgaben einer näheren Betrachtung unterzogen. So untersucht der Au-tor die Privatisierungsmöglichkeiten kommunaler Volksfeste und Märkte, der Wasserversorgung so-wie der Abwasserbeseitigung. (Verlag)

lemlösung“ ist eine Gastrezension. Dass ich Prof. Dr. Thomas Edeling darum gebeten habe, liegt daran, dass er als Wissenschaftler über die anerkannte Sachkunde verfügt. Mindestens ebenso wichtig war mir bei der Auswahl sein Ruf als kritischer und unbestechlicher Geist. Ich wusste, er wird das aufschrei-ben, was er denkt. Eine Jubelbotschaft konnte ich also nicht per se erwarten.

Insofern war meine Neugier auf das Fazit aus seiner Feder ebenso groß wie der Respekt vor notwendigen kritischen Anmerkungen.

Üblicherweise stellen wir unsere Gastrezensenten den Lesern kurz vor: Tho-mas Edeling wurde 1948 in Halle/Saale geboren. Nach kaufmännischer Lehre im Maschinenbauhandel, dem Studium von Wirtschaftswissenschaf-ten und Soziologie und einer AssisWirtschaftswissenschaf-tenzzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin wurde Edeling 1993 zum Professor für Organisations- und Verwal-tungssoziologie an der Universität Potsdam berufen. Einschlägige Publi-kationen aus seiner Feder zur Kommunalwirtschaft sind unter anderem:

Öffentliche Unternehmen zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Verwal-tung (zusammen mit Stölting und Wagner), Wiesbaden 2004; Brüchige Grenzen: Delegitimierung kommunalen Wirtschaftens durch Angleichung an die Privatwirtschaft? In: Haug/Rosenfeld (Hg.): Neue Grenzen städti-scher Wirtschaftstätigkeit, Baden-Baden 2009. Kommunalwirtschaftlich ausgewiesen ist er auch durch die Studie „Kommunalwirtschaft im gesamt-wirtschaftlichen Kontext“, die er 2006 im Rahmen eines Lehrforschungs-projekts am Kommunalwissenschaftlichen Institut der Universität Potsdam als einer der wissenschaftlichen Leiter verantwortete. Thomas Edeling ist nach seiner Emeritierung im Jahr 2013 weiter wissenschaftlich engagiert.

mit „organisierter Verantwortungslosigkeit“

gleichgesetzt, die auf wirtschaftliche Anreize des Marktes nicht reagiere und Risiken und Kosten wirtschaftlicher Entscheidungen kollektiv so umverteile, dass weder die Aussicht auf Gewinn noch die Furcht vor Verlusten öffentliche Eigen-tümer zu rationalem Handeln veranlasse.

Aus einer solchen von der Figur des „homo oeconomicus“ bestimmten Perspektive scheinen

sich Effizienz und Effektivität, Unternehmertum und Innovation für öffentliche wie kommunale Betriebe per se auszuschließen, während Träg-heit und Schlendrian quasi von Natur zum Erscheinungsbild dieser Betriebe gehörten. Genau diesem Zerrbild kommunaler Unternehmen, das bis heute viele öffentliche Diskurse prägt, ruft Michael Schäfer und Sven-Joachim Otto auf den Plan, in einer zugegebenermaßen „etwas

INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN

parteiischen Auseinandersetzung“ eine Lanze für die kommunale Wirtschaft zu brechen und auf der Grundlage langjähriger und umfassender Kenntnis des Feldes gegen die „populären Irrtümer“ über die kommunale Wirtschaft zu Felde zu ziehen.

Das bei Springer in diesem Jahr heraus-gekommene Buch von Schäfer und Otto gliedert sich in fünf Kapitel, von denen die ersten drei in den Gegenstand der Untersuchung einführen (S.

1 – 47), indem sie „Kommunalwirtschaft“ als die

„Gesamtheit der wirtschaftlichen Betätigung der Kommunen im Rahmen von Strukturen, die voll-ständig oder mehrheitlich in kommunalem Eigen-tum sind“ (S. 5), vom Umfang her definieren und inhaltlich durch das für kommunale Betriebe handlungsleitende Prinzip „Nutzenstiftung vor Gewinnmaximierung“ (S. 15) von der Privatwirt-schaft abgrenzen.

In privater Rechtsform auftretende Unter-nehmen zählen damit zur Kommunalwirtschaft, sofern sie sich mehrheitlich im Eigentum von Gemeinden, Städten oder Landkreisen befinden und – das bleibt natürlich immer die Krux – sich in der Art ihres Wirtschaftens von Privatunter-nehmen unterscheiden. Den Kern des Buches bildet das 4. Kapitel (S. 49 – 181), das landläufige Irrtümer, Unterstellungen und Fehldarstellungen kommunalen Wirtschaftens aufspießt, um sie zunächst argumentativ zu zerlegen und dann im abschließenden 5. Kapitel (S. 183 – 233) zu widerlegen.

Da ist zunächst das kommunale Nagelstudio, das dem Buch zum Titel verholfen hat. Es steht – gleich Weinbergen oder Stadtgärtnereien – für die angeblich immense Zahl kommunaler Unter-nehmen, die der mittelständischen Wirtschaft den Atem nehmen und Privatbetriebe verdrängen.

Direkt beleidigt fühlen könnten sich kommunale Unternehmen, wenn sie als

„Beamtenladen“ diffamiert und bar jeg-licher Unternehmungslust hingestellt werden.

Abgesehen davon, dass Beamte besser sind als ihr Ruf, fragen Schäfer und Otto zurecht, wie auf diese Weise geschmähte Stadtwerke seit zwanzig Jahren in offenen Märkten unter Wett-bewerbsbedingungen erfolgreich – und ohne Sub-ventionen – überlebt haben und als Auftraggeber für die Privatwirtschaft lokal eine große Rolle spielen, und das erst recht in strukturschwachen Regionen.

Ein nicht minder beliebtes, aber trotzdem falsches Bild zeigt kommunale Unternehmen als „Versorgungsstation für verkrachte Politiker“.

Verkracht allerdings sind solche Leute durch-aus nicht, vielmehr bilden sie – politisch erfahren und mit Führungsqualitäten aus-gestattet – die nötige Scharnierstelle zwischen Kommunalpolitik und Kommunalwirtschaft, über die politische Steuerung ausgeübt wird.

Personalpolitik dient hier (als „Herrschafts-patronage“ im Verständnis Theodor Eschen-burgs) der für alle kommunalen Unternehmen unerlässlichen Sicherung politischen Ein-flusses auf das wirtschaftliche Handeln des Managements im Sinne politisch definierter öffentlicher Interessen. „Gewinnmaximierung vor Nutzenstiftung“ bleibt in Markt und Wett-bewerb immer eine Versuchung!

Die Liste der „populären Irrtümer“ über die kommunale Wirtschaft ist länger als bisher angesprochen und endet auch bei Schäfer und Otto an dieser Stelle noch längst nicht. Erwähnt werden soll aber immerhin noch ein erster Ver-such, auf Grund einer empirischen Erhebung im Rahmen einer Masterthesis an der Hoch-schule für nachhaltige Entwicklung (betreut von Michael Schäfer, der dort eine Professur für Kommunalwirtschaft innehat) dem Vor-wurf entgegenzutreten, Korruptionsfälle seien in der Kommunalwirtschaft häufiger als in der Privatwirtschaft.

Die umfassenden empirischen Daten zur relativen Häufigkeit von diesbezüglichen Ermittlungsverfahren in der öffentlichen und privaten Wirtschaft sprechen eine andere Sprache und entlasten die kommunale Wirtschaft vom Verdacht, anfälliger für Korruption zu sein als die Privatwirtschaft. Ansatz und Methode der Erhebung von Korruptionsfällen versprechen mehr Licht in diesem Dunkelfeld und sollten zur Fortsetzung und Vertiefung ermutigen.

Interessant schließlich ist auch die Aus-einandersetzung, die die Autoren nicht nur mit den Kritikern kommunalen Wirtschaftens führen, sondern auch mit manchen ihrer gutwilligen und zuweilen naiven Befürworter: Dürfen

kommunale Unternehmen in das Gewand einer privaten Rechtsform schlüpfen, und dürfen sie überhaupt Gewinne machen? Schäfer und Otto betonen zurecht, dass kein Unternehmen ohne Gewinne investieren und überleben könnte. Das gilt auch für kommunale Unternehmen.

Gewinne sind also nichts Anrüchiges, sofern sie dazu beitragen, diese Unternehmen als Instrumente zur Verwirklichung öffentlicher Interessen zu erhalten und zu stärken. Über die Übernahme einer privaten Rechtsform ließe sich länger diskutieren. Realistisch muss man sehen, dass die Mehrzahl der kommunalen Unter-nehmen heute in der Rechtsform der GmbH existiert. Eben dies gibt ihnen größeren Hand-lungsspielraum und beschränkt die Haftung der Kommunen, wie die Autoren erläutern.

Unbestritten ist aber auf der anderen Seite auch, dass die Übernahme einer privaten Rechtsform, erst recht wenn sie mit Teilprivatisierungen ein-hergeht, zu politischen Steuerungsverlusten führt.

Wer am Ende der Lektüre dieser flüssig geschriebenen Streitschrift das Buch zuklappt, hat sich nicht nur einen Lesegenuss gegönnt, sondern ist auch besser gewappnet, Irrtümern über die kommunale Wirtschaft entgegenzutreten. Das Buch immer mal wieder aufzuschlagen, ist dennoch nicht verkehrt, denn Vorurteile und Legenden leben lange und tauchen in veränderter Gestalt immer wieder auf. Angesichts von Zeit-geist und Ideologien, wechselnden Theoriewellen, Organisationsmythen und Managementmoden, mit deren Brille wir die Welt beobachten, wird die Vorstellung irrig, nur glauben zu wollen, was man sieht.

Wäre es so einfach, hätten sich all die Irrtümer auch und gerade über die kommunale Wirtschaft längst erledigen müssen. „Ich werde es sehen, wenn ich es glaube“, provoziert der amerikanische Organisationsforscher Karl Weick, und macht so darauf aufmerksam, wie unsere Vorstellungen von Vorurteilen bestimmt werden.

Wer glaubt, dass ein kommunales Unter-nehmen ein „Beamtenladen“ oder „politischer Zirkus“ ist, wird diesen Laden oder Zirkus auch überall sehen. Den Glauben aber an Trugbilder dieser Art gründlich und hoffentlich andauernd erschüttert zu haben, ist das Verdienst des Buches von Schäfer und Otto. Wer es gelesen hat, sieht besser!

Michael Schäfer / Sven-Joachim Otto

Das Kommunale Nagelstudio.

Die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.

Springer-Verlag, Heidelberg 1. Auflage 2016

ISBN 978-3658098711 www.springer.com Personalien / Veranstaltungen / Bücher

i infos

Abweichend von der sonstigen strengen Struktur dieses Rezensionsteils möchte ich an dieser Stelle eine kurze Vorbemerkung ma-chen. Ich gebe zu, dass ich die Bücher, die ich nachfolgend kurz vorstelle, alle (noch) nicht so gründlich zur Kenntnis genommen habe, dass eine wirklich fundierte Rezension verant-wortbar wäre. Das liegt einfach daran, dass ich mich mit meinem Pensum vor meinem Urlaub – wie seit vielen Jahren bin ich auch 2016 in den ersten beiden Juniwochen an der dänischen Nordseeküste in Jütland – hoff-nungslos übernommen habe. Dass die Zeit nicht reichte, liegt vor allem an ein paar per-sönlichen Umständen, auf die ich hier nicht eingehen will. Wer mich kennt, weiß, dass ich Preuße durch und durch bin, und weiß auch, es müssen schon besondere Dinge sein, die dazu führen, dass ich einmal nicht ganz so gründlich bin. Im nunmehr 42. Arbeitsjahr darf ich bitte auch mal „schwächeln“. Es wird also auch im unmittelbaren Wortsinn „nur“ eine Vorstellung.

Deshalb verzichte ich auch auf eine Be-wertung, sondern urteile für alle Bücher summarisch:

- Sehr lesenswert (alle)

- Originelle Gedanken und Informatio-nen, gottlob nicht mit der „political correctness“-Schere im Kopf zu Papier gebracht (Sarrazin, Wagenknecht, Gysi/

Schorlemmer)

- Brillante Populärwissenschaft (Dawkins) Also haben Sie bitte Nachsicht. Dass manche Kollegen eh nur die Klappentexte abschrei-ben, ist natürlich kein Maßstab. Mir ging es nur darum, Ihnen diese ganz druckfrischen Werke (außer Dawkins) zeitnah ans Herz zu legen. Der Weg in die Buchhandlung lohnt sich.

Das, was Sie gerade lasen, war der Stand der Dinge am 26. Mai, dem Tag unserer Abreise ins Dänenland. Eine Tasche mit Arbeit – Din-ge, die einfach noch erledigt werden müssen, weil Termine drücken, und solche, die mir Spaß machen – ist im Urlaub immer dabei.

Die Termin“-fälle“ waren schneller abgearbei-tet als vermuabgearbei-tet. Also war Lesezeit angesagt.

Start mit Belletristik: „Der Überläufer“ von Siegfried Lenz.

Dieser Anfang der 50er Jahre entstandene Roman wurde als Manuskript erst im Nachlass des großartigen, 2014 verstorbenen Erzählers gefunden. Ein wunderbares, ein aufrüttelndes Buch. Kaum vorstellbar, dass ein 25jähriger das so zu Papier bringen konnte. Vermutlich nur dadurch erklärbar, dass Lenz wie ande-re Literaten seiner Generation so durch das

unvorstellbare Grausen des Kriegs geprägt wurden, dass sie quasi noch im Jünglingsalter diese unglaublich Reife hatten.

Kaum vorstellbar auch, dass Hoffmann und Campe, diesem Verlag hielt Lenz bis an sein Lebensende die Treue, das Manuskript ver-warf – Lenz akzeptierte das, und so landete es im Nachlass – und zwar mit der Begründung, dass man einen solchen Text im Jahr 1946 hätte eventuell noch vertreten können. Nicht aber in der Bundesrepublik des Jahres 1952.

Zu dieser Zeit sei ein Wehrmachtssoldat, der zur Roten Armee übergelaufen war, als posi-tiver Held eines Romans einer Mehrheit der Menschen nicht mehr zu vermitteln. Das war der „neue Zeitgeist“ der Restauration, und das Lesen darüber ließ mich ähnlich erschauern wie die Lektüre von Ursula Krechels „Landge-richt“, das ich im Dezemberheft 2012 vorge-stellt habe.

Die damalige Empfehlung will ich hier aus-drücklich wiederholen: die alte Bundesrepu-blik hat mindestens genauso viele Gründe, mit Scham auf ihre Nachkriegsgeschichte, in der Hundertausende Nazis weißgewaschen in die Schulzimmer und Gerichtssäle als Lehrer und Richter zurückkehrten und fröhlich weiter-machten, zu schauen, wie der Osten auf die demokratiefeindliche Pervertierung der per se doch guten Idee, die Menschheit von Ausbeu-tung zu befreien.

Nachdem Lenz gelesen war, schaute ich auf den verbliebenen Stapel (nach wie vor schlep-pe ich die Bücher kiloweise ins Dänenreich und verschmähe die neumodischen Lesege-räte), und es regte sich eine Mischung aus Preußentum – siehe oben – und Neugier. In dieser Melange war Sarrazin der Nächste, und deshalb bekommen Sie zu einem der in die-ser Ausgabe „nur“ vorgestellten Bücher eine richtige Rezension.

Wunschdenken

Werden wir gut regiert? Oder bleibt die Politik hinter ihren Möglichkeiten zurück? Und wenn das so ist – woran liegt das? Wie kommen politische Fehlentwicklungen zustande und wie kann man sie vermeiden? Thilo Sarrazin beschreibt die Bedingungen und Möglichkeiten guten Regierens und unter-sucht typische Formen politischen Versagens.

Daraus generiert er die fünf Erbsünden der Politik: Unwissenheit, Anmaßung, Bedenken-losigkeit, Opportunismus und Betrug, Selbst-betrug. Diese Typologie ist schon auf dieser abstrakten Ebene schockierend. Sarrazin hat sie aber auch konkret für Politikfelder belegt, die für unser Gemeinwesen existentielle

Dimensionen haben. Ob Flüchtlinge oder die Energiewende, um dafür nur zwei Bei-spiele zu nennen. Überall treffen wir auf diese Entscheidungen, die als Sündenfälle gelten müssen. Thilo Sarrazin hat Recht: Wir werden überwiegend schlecht regiert. Es ist nicht tröstlich, dass sich Deutschland dabei in „guter Gesellschaft“ befindet. Im Gegen-teil. Es muss uns noch mehr Angst machen.

Wie wir aus dieser bestandsgefährdenden Lage herauskommen, habe ich bei Sarrazin nicht gefunden. Aber vielleicht gibt’s ja gar keine Lösung?!

Diesen knappen Vorstellungstext hatte ich noch in Berlin geschrieben. Nachdem ich nun-mehr die 570 Seiten komplett gelesen habe, also sogar den umfangreichen Anhang, kann ich diese Zusammenfassung mit gutem Gewissen stehen lassen. Es bleibt dabei: Sarrazin hat wieder ein Buch geschrieben, das ich für gut, wichtig, mithin also für lesenswert halte.

Allein die Tatsache, dass meine intellektuelle und emotionale Lage bei der Lektüre die Skala von großer Begeisterung und Zustimmung über kritische Skepsis zu den Thesen und Argumenten Sarrazins bis hin zu Wut über die Ignoranz großer Teile des uns regierenden politischen Personals umfasste, dürfen Sie als rundum positives Votum werten. Welches Sachbuch auf den Bestsellerlisten mit so welt-erschütternden Themen wie unseren Gedärmen oder den Befindlichkeiten unserer Bäume hat ein solches Potenzial?

Was im Einzelnen lohnt es, den neuen Sarrazin zu lesen? Erstens ist der inhalt-lich-methodische Ansatz, Politikversagen an Personalien / Veranstaltungen / Bücher

INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN

Gegenständen zu zeigen, die für den Bestand unseres deutschen Heimat- und Vaterlandes eine existenzielle Dimension haben. Der Autor hat folgende Felder ausgewählt:

(1) Der souveräne Staat und seine Grenzen (2) Staat und Währung

(3) Wohlstand mit den Unterkapiteln Bildung sowie Demografie und Einwanderung (4) Gerechtigkeit

(5) Klima und Umwelt

Wer die Vita Sarrazins kennt und zudem seine bisherigen Bücher gelesen hat, der weiß, dass er sich zu den Themen Staat, Währung, Finanzen, Migration und Bildung bestens aus-kennt. Es ist also nur folgerichtig, dass unter den gerade genannten fünf Feldern die Punkte 1 – 3 herausragen. Dort brilliert Sarrazin mit Argumentationskraft, die sich auf eine sorgfältige und durch viele seriöse Quellen gestützte Analyse stützt. Wer die Passagen zur deutschen Flüchtlingspolitik liest, kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die in Verantwortung stehenden deutschen Politiker dazu ernsthafte Gegenargumente vorbringen könnten. Sie tun’s ja auch nicht! Weil – so die These von Sarrazin – fünf „Erbsünden“

prägend für die deutsche Politik sind:

(1) Unwissenheit – Täuschungen über die Wirklichkeit

(2) Anmaßung – Täuschungen über die eigenen Handlungsmöglichkeiten (3) Bedenkenlosigkeit – Kollateralschaden

politischen Handelns (4) Egoismus und Betrug (5) Selbstbetrug

Diese von Sarrazin strukturierte Typologie (S. 194f) wendet er auf die gerade genannten Politikfelder an. Nach einer jeweils umfassenden Sachdarstellung endet der Autor, dass er für diese Bereiche konkret zeigt, dass sein Erb-sündenmodell auch praktisch funktioniert.

Das ist sehr überzeugend bei den Themen, bei denen sich Sarrazin bis ins Detail auskennt.

Das ist auch noch plausibel bei Überschriften wie Gerechtigkeit, Klima und Umwelt. Dass Sarrazin diese Segmente ausgewählt hat, leuchtet mir ein. Was mir nicht schlüssig ist, dass sich der bekanntlich sehr fleißige und bestens strukturierte Autor hier nicht gründ-licher eingearbeitet hat (das ist eine Zeitfrage, und ob man die hat oder sich nimmt, das ist schon eine komplizierte Entscheidung, wenn Autor und Verlag auf der Erfolgsspur sind und verständlicherweise diesen guten Lauf nicht durch allzu lange Pausen unterbrechen wollen).

Wenn der Rezensent auch der Lektor gewesen wäre, hätte er ersatzweise die Themen Renten-politik und Staatsfinanzen empfohlen. Da steht

Sarrazin im Stoff, existentiell sind sie alle Male, und bezogen auf die Intention, Politikversagen nachzuweisen wäre die Analyse profunder und weniger angreifbar gewesen.

Apropos Intention: dazu passt der Buchtitel – siehe die von Sarrazin identifizierten fünf Erb-sünden – überhaupt nicht. Wunschdenken ist ja per se etwas allzu Menschliches und grund-sätzlich auch nichts Unanständiges. Sarrazin prangert aber den Vorsatz an, und die Bereitschaft inklusive dem Vollzug zu Lüge und Täuschung.

Was ich am Titel kritisiere, das führt hin zu einer grundsätzlich kritischen Anmerkung:

Anders als bei „Deutschland schafft sich ab“

und „Europa braucht den Euro nicht“, wo Sarrazin einen zentralen Gegenstand definiert und ihn ebenso komplex und hervorragend strukturiert bearbeitet, habe ich bei „Wunsch-denken“ das Gefühl, der Autor sei seltsam unentschlossen, was die durchgängige Haupt-aussage dieses Buches betrifft. Das beginnt schon bei den drei Eingangskapiteln, mit denen der Autor in einer Mischung aus Geschichts- und Politikwissenschaft sowie Philosophie zum Kernthema, dem Politikversagen hinleiten will.

Natürlich ist es richtig, heutige Politik aus der historischen Perspektive zu betrachten. Sarrazin zeigt auf diesen ersten 166 Seiten, dass das aktuelle Dilemma vieltausendjährige Wurzeln hat, und bestätigt einmal mehr, dass sich Geschichte zwar nicht einfach wiederholt, aber doch immer wieder bestimmten elementaren Regeln und Abläufen folgt. Ja, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, nach Transparenz, nach Demokratie ist so alt wie die Menschheit.

Doch selbst in utopischen Phantasien gelingt dies nicht einmal ansatzweise, erinnert sich der Rezensent, wenn er Sarrazins knappes Fazit zum Land „Utopia“ von Thomas Morus liest.

Aber dort und erst recht bei dem Versuch, den philosophisch-ökonomischen Welter-klärungsversuch von Karl Marx auf knapp zwei Buchseiten auszubreiten, muss Sarrazin scheitern. In dieser Reduktion bleibt von Hegel als genialem „Erfinder“ des dialektischen Prinzips nicht mal ein Torso übrig. Ganz sicher ist Thilo Sarrazin ein herausragender Volkswirt, aber gerade deshalb sollte er in aller Bescheiden-heit würdigen, dass Marx der bis heute beste und theoretisch fundierteste Erklärer jenes Wirtschaftssystems ist, das wir – wenn es denn gepaart ist mit einer wehrhaften und tatsächlich vom Volke ausgehenden Demo-kratie – mit einiger Berechtigung für das Beste halten, was wir bis dato auf unserem Erden-rund als gesellschaftliche Existenzform hatten.

Und natürlich – hier irrt Sarrazin – hat Marx seine gesellschaftliche Entwicklungstheorie in Korrelation zum Menschen entwickelt, und ebenso können wir bei ihm nachlesen, dass

Demokratie im Grundsatz den Status eines zwingenden Postulats hat.

Heftiger Widerspruch auch zur Aussage, dass

„Utopien gefährlich sind“ (S. 73): Wie arm, lieber Thilo Sarrazin, wäre unsere Welt, und auf welch noch viel desaströserem Niveau stünde sie heute, wenn es diese Menschen nicht geben würde, die sich nicht nur eine bessere Erde wünschen, sondern auch darüber nachdenken, wie sie aussehen könnte, und auf welchen Wegen man sie erreicht!!! Und damit meine ich ausdrücklich nicht jene, die uns als deren Karikatur, als sogenannte Gutmenschen daher kommen, indem sie solitäres individuelles Tun von Minoritäten als Universalformel zur Lösung der Menschheitsprobleme erheben.

Statt der bruchstückhaften und damit auch unzulässig groben und oft auch einseitigen Dar-stellung der politischen Menschheitsgeschichte hätte Sarrazin besser damit getan, sich noch viel intensiver auf die Linien jener Denker zu konzentrieren, aus denen er seine eigenen Positionen ableitet: Immanuel Kant und Max Weber. Bei Kant nimmt er in erster Linie den kategorischen Imperativ als Maxime, bei Weber ist es die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsphilosophie. Beide Kern-aussagen begegnen uns im Buch immer wieder.

Sarrazin wendet sie einleuchtend an, wenn er Vorschläge für ein modernes Gesetzes- und Regelwerk von Kant herleitet oder Absurdi-täten der Flüchtlingspolitik unter Hinweis auf Weber beleuchtet. Aus einer nationalen Ver-antwortungsethik leitet der Autor zu Recht ab, dass wir selbstverständlich die Frage stellen müssen, wieviele Flüchtlinge wir tatsächlich integrieren können. Und selbstverständlich sind hier die vorwiegend fehlgeschlagenen Ein-gliederungsbemühungen der Vergangenheit zu berücksichtigen.

Ebenso richtig ist es, in diesem Zusammen-hang darauf hinzuweisen, dass die in Deutsch-land gewachsenen moralischen, ethischen, kulturellen, politischen und juristischen Regeln und Strukturen das Primat haben. Logische Konsequenz aus dieser Prämisse ist dann wiederum die Frage, ab welcher Dimension von Ein- und Zuwanderung dieser Werte-kanon dahingehend gefährdet ist, dass er ein-fach nicht zur Kenntnis genommen wird, und im zweiten Schritt ein anderer Kanon mit der Überzeugungskraft einer großen Zahl ein-fach dagegen gesetzt wird? Diese Fragen darf man nicht nur stellen, man muss es. Sarrazins leidenschaftliches Plädoyer für unsere offene Gesellschaft, der ich mich ebenso leidenschaft-lich anschließe, schließt doch ausdrückleidenschaft-lich ein, dass wir solche Prozesse im Diskurs, und mit Blick auf das staatliche Gewaltmonopol auch nur recht ohnmächtig steuern können. Gottlob Personalien / Veranstaltungen / Bücher

Im Dokument Unternehmerin Kommune: (Seite 60-64)