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5. Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht

5.2. Urbane Einsamkeit – Situation

5.2.3. Unnatur

Im vorangegangen Kapitel wurde Jonas‘ Bewegungsraum vorgestellt und immer wieder darauf eingegangen, dass sich der Protagonist, ungleich Schmidts oder Haushofers Protagonisten, in einer Großstadt aufhält. Doch auch Jonas treibt es auf der Suche nach Erinnerungsorten einige Male ins Grüne.

Jonas ist der typische Stadtmensch des 21. Jahrhundert. Er fühlt sich in der urbanen Atmosphäre der Großstadt wohler und sicherer als in der Natur, die etwas Unbekanntes darstellt. Für Jonas gibt es „keinen erkennbaren Anlass, sein Verhältnis zur Natur zu überdenken.“384 Die Frage aufs Land zu übersiedeln stellt sich für den Protagonisten nicht, da er seine Situation nicht akzeptieren kann und somit auch nicht versucht sich bestmöglich in ihr einzurichten. Die einzigen Reisen ins Grüne, die Jonas unternimmt, haben das Ziel Orte der Erinnerung aufzusuchen. Dabei muss zwischen zwei Typen von Orten unterschieden werden: „Echte Natur“ und „Kultivierte Naturräume“, wie der grüne Prater oder der Campingplatz Mondsee. Diese stellen nach Daniela Hempen Zwischenorte zwischen wilder Natur und Zivilisation dar. Diese Zwischenorte zeigen auffällige Ähnlichkeiten mit loci amoeni.

Es roch nach Wald. Im Schatten der Bäume war es weitaus kühler als zwischen den Ständen des Vergnügungsparks. […] Am Heustadlwasser stieg er schwanend in eines der Boote. […] Als die Hütte des Bootsverleihers außer Sicht war, hob er die Hölzer ins Boot. Er legte sich auf den Rücken. Ließ sich treiben. Über ihm blinkte die Sonne durch die Bäume. Er schrak aus einem Alptraum auf.385

An diesem Moment scheint es gerade so, als schaffe es der Protagonist sich zu entspannen und die Natur zu genießen, als er plötzlich aus einem Alptraum aufschreckt. Für Jonas besteht eine direkte Verbindung zwischen dem freiwilligen Akt der Selbstaufgabe und dem

384 Hempen: Ungezähmte Natur, S. 292

385 Glavinic: Arbeit, S. 50

79 Ausgeliefertsein. Die Grenze zwischen Traum und Alptraum ist fließend.386 Auch die Episode am Mondsee beginnt mit einem Bild der Ruhe und des Friedens. „Hier war es schön. Die Bäume, deren Laub im Wind sanft rauschte. Die Wiese in sattem Grün. Die Sträucher am Ufer. Der See auf dessen Oberfläche Sonnenstrahlen blitzten. In der Ferne die Berge, die in einen tiefblauen Himmel aufragten.“387 Doch auch die idyllische Szene am Mondsee kann nicht andauern, erst schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, dann erwacht Jonas vor Kälte und findet sich unter einem grauen Himmel, zehn Meter von seinem Zelt entfernt, wieder. Das Wetter hat sich geändert und wieder ist in der Nacht etwas geschehen, das er nicht beeinflussen konnte. Der Benzinhahn seines Mopeds ist offen und der Motor in Benzin ertränkt. Immer nervöser werdend versucht er den Campingplatz zu verlassen, da zum Nebel auch noch immer stärker werdender Regen kommt. „Jonas hüpfte wild auf die Kurbel, glitt ab, kippte mit dem Moped um. Stellte es wieder auf, versuchte es von neuem. Der Regen wurde stärker. Die Reifen rutschten […] Jonas war von Nebel eingehüllt.“388 Aus der idyllischen Seestimmung wird eine horrorfilmartige Alptraumstimmung, aus der Jonas zu entkommen versucht. Auch wenn er völlig durchnässt ist und friert, hält er nicht an, bevor er den nächsten größeren Ort erreicht. Die Natur hält für Jonas nur scheinbar positive Momente bereit, die schon nach kurzer Zeit in Alpträumen enden.

Als wahrer Alptraum entpuppt sich auch Jonas Ausflug nach Kanzelstein, wo er als Kind oft seine Sommerferien verbrachte. Er sieht sich dort mit alten Ängsten konfrontiert. „Die Wiesen ringsum, der Wald, der hinter dem Haus aufragte, er hatte alles schon gesehen, als Junge.“ 389 Auch diese Episode beginnt eigentlich ganz friedlich und voll schöner Erinnerungen an seine Kindheit und seine Familie, doch die Ruhe kann nicht die Oberhand behalten. Das Haus in Kanzelstein ist von dichtem Wald umgeben, der für Jonas das Ungewisse per se symbolisiert. Ein Bild, das bereits in der mittelalterlichen Literatur genutzt wurde. Während die Protagonisten mittelalterlicher Werke jedoch auf der Suche nach Abenteuer und Gefahr waren, ängstigt Jonas diese Ungewissheit. Bei seinem Ausflug in den Wald stößt Jonas auf die Grenze zwischen Zivilisation und ungezähmter Natur, als sein Mobiltelefon anzeigt, keinen Empfang mehr zu haben.390 „Die Uhr an seinem Mobiltelefon zeigte halb sechs an. Der Akku war beinahe leer. Ihm fiel auf, daß er kein Sendesignal empfing. Das beunruhigte ihn. […] es war ein Hinweis zu weit gegangen zu sein. Er drehte

386 Vgl. Hempen: Ungezähmte Natur, S. 296

387 Glavinic: Arbeit, S. 148

388 Ebd., S. 153

389 Ebd., S. 252

390 Vgl. Hempen: Ungezähmte Natur, S. 297

80 um.“391 Auf seinem Rückweg hört Jonas jedoch plötzlich eine Glocke ertönen. Erneut auf ein Zeichen hoffend, beginnt er dem Klang zu folgen und verläuft sich schließlich.

Er blickte zurück. Dichter Wald. Er wußte nicht einmal aus welcher Richtung er gekommen war.

[…] In der Mitte einer Lichtung ließ er sich nieder. […] In diesem Moment wußte er, daß an diesem Tag das Wolfsvieh kommen würde. […] ‚Nein, bitte nicht‘, flüsterte er schwach, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Die Dunkelheit ängstigte ihn.392

Wie schon an jenem Morgen am Mondsee, fühlt sich Jonas der Natur hilflos ausgeliefert.

Nach Daniela Hempen machen sich bei Jonas fast schon ecophobische Züge bemerkbar.393 Weiters wird hier das Wolfsvieh, ein Mischwesen aus Wolf und Bär, genannt, das der Protagonist vor allem unter der Dusche fürchtet. „Jedesmal wenn er die Augen zumachte, stieg in ihm die Furcht vor diesem Wesen auf, das herantanzte und ihn bedrohte. […] Es sprengte herbei, rüttelte an der Duschkabine, wollte sich auf ihn stürzen.“394 Jonas realisiert, dass er häufig von tierischen Mischwesen träumt. „Das verwunderte ihn. Tiere waren ihm nie wichtig gewesen. […] Sich etwa ein Haustier anzuschaffen wäre ihm nie in den Sinn gekommen.“395 Trotzdem erinnert er sich etwa an einen Kindheitstraum, in dem er einem überdimensionalen Dachs im Obstgarten gegenübersteht. „Er fürchtete sich vor dem mächtigen Vieh, das doppelt so breit war wie er selbst, doch es benahm sich ihm gegenüber nicht feindselig.“396 Auch nach der Episode im Wald in Kanzelstein träumt er von einem Mischwesen, das ihm jedoch nicht mehr wohlgestimmt ist.

Ein Ungeheuer war unterwegs. […] Das Vieh hatte einen Buckel, ähnlich wie ein Kamel, doch es war viel breiter, viel schwerer, und es ging halb aufrecht. Aus seinem Rücken ragten verkümmerte Flügel. […] Flüchtende Menschen schrien in Panik. […] das schlimmste war nicht der Anblick.

Nicht die Erschütterungen […] nicht die Gefahr. Das schlimmste war die Tatsache, daß es dieses Vieh wirklich gab.397

Mara Stuhlfauth verweist darauf, dass Ungeheuer in Form tierischer Mischwesen ein besonders markantes Bild in Jonas Träumen darstellen. Dieses Ungeheuer manifestiert sich schließlich im Wolfsvieh und stellt Jonas personifizierte Angst dar.

Der Fakt, dass das Objekt, das Angst macht, ein Mischwesen ist, ist nach Stuhlfauth auf zwei Punkte zurückzuführen. Einerseits stehen die verschiedenen Tiere für verschiedene Faktoren,

391 Glavinic: Arbeit, S. 266

392 Ebd., S. 268f

393 Vgl. Fußnote: In: Hempen: Ungezähmte Natur, S. 301

394 Glavinic: Arbeit, S. 191

395 Ebd., S. 282

396 Ebd., S. 254

397 Ebd., S. 282

81 die dem Protagonisten Angst machen398 und andererseits sind sie eine Spiegelung seiner selbst. Auch Jonas wird, durch die voranschreitende Persönlichkeitsspaltung geprägt, zum Mischwesen. Diese zeigt sich konkret ebenfalls in einem tierischen Traum. Jonas ersetzt hier den eigenen Kopf durch den eines Vogels, Hirsches, Schweines, Hundes oder Bären ersetzt.

Diese Metamorphose symbolisiert die zunehmende Spaltung seiner Persönlichkeit.399

Die Natur und ihre tierischen Vertreter sind in Die Arbeit der Nacht also durchwegs negativ konnotiert und die vermeintlichen loci amoeni entpuppen sich als eigentliche loci terribili.400