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4. Marlen Haushofer: Die Wand

4.2.1. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit

Allgemein ist der Roman auf zwei Großräume aufgeteilt - innerhalb und außerhalb der Wand.185 Cristof Laumont bezeichnet den Raum „innerhalb“ der Wand auch als isolierten Überlebensraum und jenen jenseits der Wand als Todesraum.186 Von der Welt außerhalb der Wand erfahren sowohl der Leser als auch die Protagonistin nur was die Augen der Frau erfassen können: Erstarrung und Tod. Die Menschen und Tiere auf der anderen Seite der Wand scheinen zu Stein erstarrt. Doch dieser Raum betrifft die Protagonistin nicht und beeinflusst auch ihre Situation nicht weiter, weshalb sich die folgende Analyse auf die konkreten Schauplätze innerhalb der Wand beschränkt. Hier lassen sich zwei Plätze ausmachen, die im Folgenden näher beschrieben werden sollen – das Jagdhaus und die Alm.

Das Vorherrschen von nur zwei Orten im ganzen Roman zeigt schon, dass die Welt hinter der Wand per se durch Immobilität und Reduktion des Bewegungsraums charakterisiert ist.187 Diese vorherrschende Situation beruht einerseits auf dem buchstäblichen Eingesperrt-Sein durch die Wand, andererseits kann die Protagonistin nicht einmal den gesamten Raum innerhalb der Wand erkunden, weil sie durch ihre Arbeiten und die Sorge um ihre Tiere an das Jagdhaus beziehungsweise die Alm gefesselt ist. „Inzwischen war mir klargeworden, daß diese Kuh zwar ein Segen, aber auch eine große Last war. Von größeren Erkundungsausflügen konnte nicht mehr die Rede sein.“188, kommentiert die Frau, als ihr klar wird, welche Verantwortung und Arbeit das Tier mit sich bringt.

Im Laufe des Romans kommt der Leser, so Seidel, weiter zu dem Schluss, dass Mobilität hinter der Wand nicht nur schwer möglich ist, sondern auch zu Tod und Verlust führt.

Konkret verweist sie dabei auf den mühsamen Aufstieg zur Alm, die schließlich Schauplatz des Mordens wird, weil sich die Protagonistin zu lange davon entfernt hat.189 Nur aufgrund der örtlichen Distanz kommt sie zu spät, um ihre Tiere zu retten. Doch nicht nur an dieser Stelle wird klar, dass Bewegung hinter der Wand zum Tod führt, auch die Katzenjungen, um die sich die Frau von Beginn an Sorgen macht, können nur dann überleben, wenn sie zu Hauskatzen werden und sich nicht wirklich vom Jagdhaus entfernen. Ihrer Natur entsprechend

185 Vgl. Ebd., S. 78

186 Vgl. Laumont, Christof: Die Wand in der Wirklichkeit. Zu Marlen Haushofers allegorische Realismus. In: Bosse, Anke und Ruthner, Clemens (Hrsg.): „Eine geheime Schrift aus diesem Splitterwerk enträtseln…“ Marlen Haushofers Werk im Kontext. Tübingen: Francke 2000, S. 139

187 Vgl. Seidel: Reduziertes Leben, S. 78f

188 Haushofer: Wand, S. 28

189 Vgl. Seidel: Reduziertes Leben, S. 78f

44 laufen die Katzen aber doch von zuhause fort, woraufhin sie bald der Tod ereilt. Die Protagonistin kann überleben, weil sie selbst, wie sie schon zu Beginn des Romans feststellt, ein Wesen ist, das sich zu Hause am Wohlsten fühlt.190 Die Sesshaftigkeit ist Teil des Charakters der Frau, weshalb sie sich auch im Jagdhaus am Sichersten fühlt. Es ist ihre Basisstation. Dort finden sich die meisten Ressourcen, die ihr Überleben und das ihrer Tiere sichern. Auch wenn „das Jagdhaus in einem kleinen Kessel, am Ende einer Schlucht, unter steil aufsteigenden Bergen“191 liegt und diese Schlucht als dunkel, feucht und düster192 beschrieben wird, ist doch für alle Bewohner klar, dass es das wahre Heim der kleinen Familie ist. So schreibt die Frau im dritten Sommer über ihre Ankunft im Jagdhaus „Um sieben Uhr brachen wir [von der Alm] auf, und um elf erreichten wir das Jagdhaus. […]

Luchs begrüßte das Jagdhaus freudig. Er begriff, daß wir nach Hause gekommen waren.“193 Auch die alte Katze, die sich im Gegensatz zu ihrem Jungen, Tiger, nicht zur Übersiedelung auf die Alm zwingen lässt, kehrt weiterhin jeden Morgen in das Jagdhaus zurück, um im Bett der Frau zu schlafen. „Als ich das Jagdhaus betrat sah ich gleich die kleine Mulde im Bett“.194 Die Alm stellt den Gegenort zum Jagdhaus dar. Sie befindet sich auf einem Berg, von dem aus man das Tal überblicken kann. „Es war ein seltsames Gefühl, unbehindert von Bergen und Bäumen, eine weite Fläche überblicken zu können.“195 Die Wiesen, auf denen die Almhütte liegt, sind saftig grün und die Atmosphäre ist hell und leuchtend. „Die Referenzlosigkeit der Alm und die Abgeschiedenheit von allem, lässt es zu, dass die Protagonistin diesen Ort für sich neu besetzen kann.“196 Im ersten Sommer auf der Alm scheint es, als wäre die Zeit stehen geblieben und als würden nur Ausgeglichenheit und Ruhe existieren. Die Frau selbst kann die Geschichte zu diesem Ort schreiben. „Ich begriff, daß alles, was ich bis dahin gedacht und getan hatte […] nur ein Abklatsch gewesen war. Andere Menschen hatten mir vorgedacht und vorgetan.“197 Dieser Gedanke bekommt auf der Alm eine ganz neue Bedeutung, weil die Alm ein noch unbesetzter, freier Ort ist. „Vergangenheit und Zukunft umspülten eine kleine Insel des Jetzt und Hier.“198 Die Alm scheint der Protagonistin eine Insel außerhalb jeder Zeit zu sein. Sie geht spazieren und bewegt sich unbeschwerter und leichter als in der Nähe des Jagdhauses. Die Alm ist prinzipiell positiv

190 Vgl. Haushofer: Wand, S. 9f

191 Ebd., S. 11

192 Vgl. Ebd., S. 152

193 Ebd., S. 177

194 Ebd., S. 156

195 Ebd., S. 243

196 Torke, Celia: Die Robinsonin. Repräsentationen von Weiblichkeit in deutsch- und englischsprachigen Robinsonaden des 20. Jahrhunderts. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 215

197 Haushofer: Wand, S. 173

198 Ebd., S. 175

45 konnotiert und fungiert zunächst auch insofern als locus amoenus, so Celia Torke, als sie die

„traditionsfreie Gegenwelt zur historischen Last“199 darstellt. Die weitläufigen sonnigen Wiesen der Alm stehen im Gegensatz zum tannenbesetzten, dunklen Revier des Jagdhauses, das eindeutig männlich konnotiert ist. Die blühende, weibliche Natur der Alm bildet ein Gegenbild zum Flachland des Jagdhaues, in dem Ordnung und Disziplin herrschen. Dem männlich rationalen Weltbild wird also diese weiblich, freie Ausflucht, die fast wie eine Traumwelt erscheint, gegenübergestellt. Die positive Besetzung endet aber abrupt mit dem Auftauchen des Mannes, mit dem die Alm zum Schauplatz für Mord und Totschlag wird, was ihre Konnotation radikal ändert.200 „Alles, was ich nicht unbedingt brauchte, liegt heute noch auf der Alm, und ich werde es nicht holen.“201 In der kritischen Werkausgabe von Reclam, 2013, wird die Alm als zu Beginn offener Raum beschrieben, an dem eine Loslösung von sich selbst möglich wird. Nach der finalen Szene auf der Alm wird diese jedoch zu einem Ort nackter Einsamkeit.202 Ulf Abraham bezeichnet die Alm auch als „Sommerquartier Utopias“, was sie erneut zu einem locus amoenus macht. Allerdings verweist auch er auf die Wandlung der Alm, die von einem utopischen zu einem unbetretbaren Ort wird. Der Paradiescharakter war reine Illusion.

Der auf zwei Plätze beschränke Raum, den die Protagonistin für sich nutzen und besetzen kann, hat auch symbolische Bedeutung. Die Alm als paradiesischer Ort in der Höhe steht dem Jagdhaus als Ort der Mühsal und Arbeit auf der Erde gegenüber. Diese Gegensätze spiegeln den Dualismus von Himmel und Erde wider. Die Mühsale des Jagdhauses geben zwar Sicherheit, doch die Zeit auf der Alm wird zunächst als eine Art Belohnung dargestellt.203 Dieses Bild kann aber aufgrund der Geschehnisse auf der Alm nicht durchgehalten werden, stattdessen wird der Bewegungsraum der Frau, mit dem Tod von Luchs und der Unmöglichkeit eines erneuten Betretens der Alm, noch begrenzter. Der Lebensraum der Protagonistin zu Ende ihres Berichts ist auf das Jagdhaus und dessen direkte Umgebung beschränkt. „Aber wenn ich es auch nicht sehen will, ohne Luchs bin ich eine Gefangene des Kessels geworden.“204 Doch nicht nur ihr Bewegungs-, auch ihr Spielraum ist begrenzt, worauf Haushofer selbst in einem Interview verweist, wenn sie davon spricht, dass die Frau ja

199 Torke: Robinsonin, S. 242

200 Vgl. Ebd., S. 243

201 Haushofer: Wand, S. 225

202 Vgl. Kaukoreit und Brandtner: Erläuterungen, S. 100

203 Vgl. Ebd., S. 122

204 Haushofer: Wand, S. 103

46 wirklich nichts anderes hätte tun können, als sie im Roman beschrieben hatte.205 Die Möglichkeiten der Protagonistin sind aber nicht nur geographisch stark eingeschränkt, sondern auch durch die zahlreichen Arbeiten, die sie zu erledigen hat. Um diese soll es im nächsten Kapitel gehen.