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3. Arno Schmidt: Schwarze Spiegel

3.4. Narratologische Anlage

3.4.3. Wortgewirx im Wald – Sprache

3.4.3.3. Intertextualität

Bevor die Intertextualität in Schmidts und später auch in den anderen beiden Werken behandelt werden kann, muss der Begriff kurz definiert werden, da er je nach Ansatz und wissenschaftlicher Disziplin weiter oder enger gefasst werden kann. Ich halte mich dabei an den von Weise 1997 definierten Begriff von Intertextualität, der vor allem über die besondere Qualität von Intertextualität in literarischen Texten spricht. Nach Weise ist jeder literarische Text insofern intertextuell, als in der Regel zu allen Texten Prätexte bestehen, auf die diese referieren. Allerdings müssen bei Intertextualität zwei Dimensionen unterschieden werden.

Horizontale Intertextualität nennt Weise die sinnverknüpfende Dimension, bei der der Text hinsichtlich semantischer Aspekte auf den Prätext referiert. Vertikale Intertextualität beschreibt dagegen die klassifizierende Dimension und bezieht sich auf die Zuordnung von Texten zu bestimmen Genres oder Textklassen.127 In den drei Werken finden sich beide Dimensionen.

Schmidts Intertextualität kann als explizit bezeichnet werden128, da seine Verweise nicht nur unterschwellig, sondern direkt vorhanden sind. Sie sind teils Reminiszenzen an Dichterkollegen und teils Verweise auf bestimmte Werke. Umgesetzt wird das mittels Namens- oder Titelnennungen sowie durch Zitate und Anspielungen, die nach Weise einen wichtigen Teil intertextueller Bezüge ausmachen. 129 Zitate stehen bei Schmidt meist unmarkiert im Text, werden also nicht als solche ausgewiesen. Das Zitat „einmal lebt ich […]

bedarfs nicht“130 stammt etwa aus dem Schlussvers Friedrich Hölderleins Gedicht An die Parzen, wo es heißt „Einmal lebt ich, wie Götter und mehr bedarfs nicht.“ Es zeigt, dass der Protagonist sein Leben nicht mehr sehr wichtig nimmt. Er hat gelebt und an „mehr bedarfs nicht“. Als Grund dafür, dass die Zitate unmarkiert im Text stehen, nennt Preußer, dass der Protagonist so eine Geisteswelt produziert, die einerseits der objektiven Realität des Werks entgegengesetzt wird, diese andererseits aber auch verändert und die Möglichkeit der

126 Schmidt: Spiegel, S. 22

127 Vgl. Weise, Günter: Zur Spezifik der Intertextualität in literarischen Texten. In: Klein, Josef (Hrsg.): Textbeziehungen.

Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Tübingen: Stauffenberg-Verlag 1997, S. 39

128 Vgl. Preußer: Aufbruch, S. 210

129 Vgl. Weise: Intertextualität, S. 39

130 Schmidt: Spiegel, S. 18

32 Spiegelung von Denk- und Erzählverläufen über intertextuelle Referenzen ermöglicht.131 Zusätzlich kann noch angefügt werden, dass das Einbauen der Zitate in den Fließtext die Einheit des Textes verstärkt.

Neben echten Zitaten nutzt Schmidt auch Anspielungen. Der Unterschied besteht darin, dass Anspielungen keine wörtlichen Wiedergaben, sondern indirekte Bezugnahmen auf Prätexte sind132, die jedoch auf verschiedenen Ebenen realisiert sein können. Bei stilistischen Anspielungen bedient sich der Dichter eines repräsentativen Sprachduktus und charakteristischer Neologismen, während bei motivischen Anspielungen die Figurenkonstellationen, Handlungselemente oder die Gestaltung der Atomsphäre von anderen Texten übernommen werden.133 Motivisch angespielt wird in Schwarze Spiegel zum Beispiel auf ein Volkslied von Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Mit den Worten „sind wir nicht Knaben hübsch und fein“134 werden bei Schmidt Knaben statt Mädchen besungen und auch der weitere Wortlaut ist leicht verändert.135

Weise nennt als wichtigste Funktion von Intertextualität die Sinnstützung und -erweiterung136. Auch in Schwarze Spiegel dienen die intertextuellen Bezüge als Ergänzung und Stützung der objektiven sowie subjektiven Realität des Werks.137 Um also die Situation des letzten Menschen verständlicher zu machen, finden sich wiederholte Verweise auf Robinsonaden und andere Insulanergeschichten. Gina Kaiser ordnet in ihrer Dissertation von 2011 Schmidts Kurzroman der Gattung Robinsonade zu,138 wofür durchaus einiges spricht. Jedes Werk der Gattung Robinsonade ist im Grunde intertextuell, da sie alle an Daniel Defoes Robinson Crusoe angelehnt sind. Zu dieser, dem Roman zugrunde liegenden Intertextualität, kommen jedoch noch explizite, intertextuelle Bezüge, die in Form von Namens- und Titelnennungen realisiert werden. So versteht sich der Protagonist selbst etwa als „Robinson mit 2 Flinten“139 und nennt anschließend an seinen Leserbrief verschiedene literarische Werke, die Wanderung und Leben in der Natur zum Thema haben. „Kennen und schätzen Sie Meyerns ‚Dya-Na-Sore‘, Moritzens ‚Anton Reiser‘, Schnabels ‚Insel Felsenburg‘?“140 Der Ich-Erzähler verweist so mehrmals darauf, dass sich seine Situation an diversen literarischen Werken messen lässt.

131 Vgl. Preußer: Aufbruch, S. 213

132 Vgl. Weise: Intertextualität, S. 43

133 Vgl. Preußer: Aufbruch, S. 214

134 Schmidt: Spiegel, S. 14

135 Vgl. Hagestadt und Kischel: Kommentiertes Handbuch, S. 58

136 Vgl. Weise: Intertextualität, S. 40

137 Vgl. Preußer: Aufbruch, S. 210

138 Vgl. Kaiser: postapokalyptische Robinsonade, S. 177

139 Schmidt: Spiegel, S. 63

140 Ebd., S. 61

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„Die Literatur- bzw. Kunstsucht“ der Schmidtschen Erzähler bringt es demnach per se mit sich, dass sie in einer Welt der intertextuellen Bezüge leben…“141 Durch die verschiedenen intertextuellen Referenzen erfährt der Leser mehr über den Charakter der Figur und kann tiefer in deren Innenleben eintauchen.142

Auch die vielen Fremdwörter, derer sich der Ich-Erzähler bedient, sind einerseits intertextuelle Anspielungen und untermauern andererseits den Intellekt und das Gelehrtentum des Protagonisten. „Cherchez les Constables“, „capita aut navim“, „Edward the seventh, fidei defensor“, „Bon!“, flash and report“ und „no use“143 sind nur die ersten der unzähligen fremdsprachigen Ausdrücke, die Schwarze Spiegel birgt. Der Ich-Erzähler bedient sich, wie die Zitate zeigen, englischer, französischer, aber auch italienischer und lateinischer Ausdrücke. Zurückzuführen könnte dies auf Schmidts Arbeit als Übersetzer sein.144 Ein anderer Ansatzpunkt kann eine Referenz auf die Siegermächte des zweiten Weltkriegs sein, da sich der Erzähler vorrangig eben jener Sprachen bedient.

Im Allgemeinen wird der Eindruck erweckt, dass die intertextuellen Verweise Maßstab des Intellekts von Erzähler und Leser sind. Der Protagonist zeigt anhand von Titel- und Autorennennungen, aber auch anhand zahlreicher Zitate sein enzyklopädisches Wissen.145 Dies gibt Anlass zu glauben, er wolle, dass nur belesene Personen seine Schriften verstehen.

Untermalt wird das durch die Kritik an „leichter“ Lektüre wie etwa an Liedern oder Illustrierten, die er mit den Worten: „Illustrierte: die Pest unserer Zeit! Blödsinnige Bilder mit noch läppischerem Text“146 kommentiert. Ulrike Preußer versteht das Unmaß intertextueller Referenzen jedoch nicht als Ausschlusskriterium der weniger Gebildeten, sondern als Anlass mehr zu lesen. Sie ist der Meinung Schmidt gehe von einem prinzipiellen Nicht-Verstehen der Leserschaft aus, das jedoch Neugierde produziere und zum Anreiz werde, mehr zu lesen,147 um das Werk entschlüsseln zu können.

141 Preußer: Aufbruch, S. 211

142 Vgl. Ebd., S. 214

143 Vgl.: Schmidt: Spiegel, S. 9-12

144 Arno und Alice Schmidt arbeiteten in den Jahren vor 1950 in Benefeld als Dolmetscher für Englisch. Arno übersetzte etwa Stanislav Lem, James Joyce und Edgar Allen Poe ins Deutsche.

145 Vgl. Doll, Jürgen: Gehirntiere und Schreckensmänner. Intellektuelle Überlegenheit und Aggressivität im Frühwerk Arno Schmidts. In: Germanica 49/2011, S. 122

146 Schmidt: Spiegel, S. 16

147 Vgl. Preußer: Aufbruch, S. 212

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