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5. Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht

5.3. Die Personen Jonas – Charakteristik

5.4.2. Unter Beobachtung – Vermittlung

Die Erzählsituation in Die Arbeit der Nacht ist sicher die spannendste der drei zu analysierenden Werke. Die Protagonisten bei Schmidt und Haushofer beschreiben ihre Erlebnisse aus ihrer Sicht, was insofern logisch erscheint, als außer ihnen niemand mehr existiert. In Glavinics Roman existiert neben Jonas auch niemand mehr, trotzdem werden seine Erfahrungen, Erlebnisse und Aktionen aus Sicht einer dritten Person geschildert. Es gibt einen personalen Erzähler, der mittels interner Fokalisierung aus Jonas Sicht von den

441 Vgl. Glavinic: Arbeit, S. 51

442 Ebd., S. 96

443 Vgl. Stuhlfauth: Moderne Robinsonaden, S. 99

89 Geschehnissen berichtet. „In der dritten Person geschrieben, hat der Roman eine starke Außenperspektive […] Der Leser sieht alles nur aus der Perspektive des Protagonisten, weiß nur was dieser weiß.“444 Die Perspektive aus der erzählt wird, ist also schnell geklärt.

Schwieriger ist die Frage nach dem Erzähler zu beantworten. Wer beobachtet Jonas?445 Auch die Frage, ob dieser Erzähler nun homo- der heterodiegetisch ist, kann eigentlich nicht beantwortet werden, da es in der fiktiven Realität des Romans überhaupt keinen Beobachter mehr geben kann. Doch genau das ist der Erzähler - ein Beobachter. Auch Kristina Werndl verweist in ihrem Artikel darauf, dass Glavinic während des gesamten Romans mit dem Motiv des unsichtbaren, aber ständig präsenten Beobachters spielt.446 „Er hatte das Gefühl, es sei jemand da, zugleich wußte er, daß niemand da war. Und ihn quälte der Gedanke, daß beides stimmte.“447 Dieses Zitat, das vorrangig die ansteigende Paranoia des Protagonisten zeigt, lässt sich auch auf die Erzählerfigur anwenden. Zwar kann es diese eigentlich nicht mehr geben und doch ist sie da.

Ein erklärender Ansatz könnte sein, dass Jonas im Zuge seiner Persönlichkeitsspaltung eine so starke Außenperspektive annimmt, dass er zu seinem eigenen Beobachter wird. Wolfgang Müller-Funk führt diesen Gedankengang insofern weiter als er, sich auf Derridas beziehend, die Möglichkeit aufwirft die Gedoppeltheit von Protagonist und Erzählinstanz in Analogie zu den Spiegelszenen im Roman zu lesen. So gesehen, funktioniert der Roman selbst wie ein Spiegel, in dem sich Jonas von außen betrachtet.448 Der Erzähler wäre dann sowohl Teil als auch kein Teil von Jonas. Das genaue Beobachten der Handlungen auch mittels Medien ist jedenfalls ein zentraler Punkt des Romans, der nicht nur inhaltlich, sondern auch narrativ umgesetzt wird, wie das folgende Zitat zeigt. „Er war sich vollkommen bewusst, dass er eine Grenze überschritten hatte, aber war machtlos. Er konnte nur noch zusehen, und er war gespannt, was er als nächstes tun würde.“449 Erzähler, Leser aber auch der Protagonist selbst beobachten hier, „was mit einem Mann passiert, der auf einen Schlag alle sozialen Kontakte und Verhaltensziele verliert.“450 Die paradoxe Außenperspektive ist hier komplett, der Protagonist wartet ab, was er als nächstes tun würde, auch wenn er das, was er sich in der Szene auf Video ansieht, Stunden zuvor selbst erlebt hat.

444 Holzner: Thomas Glavinics Endzeitroman, S. 222

445 Vgl. Müller-Funk: Nach der Postmoderne, S. 19

446 Vgl. Werndl, Kristina: Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht. In: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=1127 (15.03.2015; 11:30)

447 Glavinic: Arbeit, S. 45

448 Vgl. Müller-Funk: Nach der Postmoderne, S. 20

449 Glavinic: Arbeit, S. 207

450 Stuhlfauth: Moderne Robinsonaden, S. 75

90 Dass aber eigentlich kein anderer als Jonas neben der wahrnehmenden auch die erzählende Figur sein kann, zeigt etwa das folgende Zitat, wenn Jonas zu Beginn durch die leeren Straßen fährt. In erlebter Rede wird hier wiedergegeben, was in Jonas Kopf vor sich geht. „Er hielt nach Leben Ausschau. […] Aber alles, was er sah, waren abgestellte Autos. Geparkt ganz vorschriftsmäßig, als seien ihre Besitzer nur für einen Moment in einen Hausflur verschwunden.“451 Spannend daran ist die Wortstellung des letzten Satzes. Jonas nimmt zuerst die geparkten Autos wahr, ohne noch weiter darüber nachzudenken, erst danach wundert er sich, dass diese alle ganz vorschriftsmäßig abgestellt sind. Jonas Gedanken werden hier genauso wiedergegeben, wie sie ihm in den Sinn kommen. Ein „echter“ außenstehender Erzähler hätte diese wahrscheinlich grammatikalisch korrekt zusammengefasst, stattdessen erlebt der Leser die Szene aus Jonas Augen.452 Die Erlebte Rede ist besonders geeignet, um das Figurenbewusstsein darzustellen, da so einerseits die psychischen Zustände und Vorgänge wiedergegeben werden, durch die Verwendung der dritten Person und des epischen Präteritums jedoch andererseits Distanz geschaffen wird. Der Leser findet in dieser Episode einen mehr oder weniger nahtlosen Übergang von Erzählerbericht und erlebter Rede. Dieser erlaubt einen Wechsel zwischen Figuren- und Erzählersicht und fördert die Beweglichkeit des Erzählens.453 Das Phänomen zeigt sich auch in anderen Teilen des Romans, etwa auf einer seiner zahlreichen Erkundungsfahrten. „Das Brecheisen warf er in den Kofferraum. Er ließ den Motor an […] Das letztemal als er hier gesessen hatte. Was war da gewesen? Wann hatte er das letztemal hier gesessen? Wer hatte zuletzt hier gesessen? Entweder jemand anderer.

Oder er selbst.“454 Auch hier findet ein fließender Wechsel von Erzählerbericht und erlebter Rede statt.

Neben Erzählerberichten und erlebter Rede treten noch andere Sprechaktstrukturen auf.

Zitierte und autonome direkte, indirekte und erlebte Reden werden von Erzähler- und Bewusstseinsberichten abgelöst. Jonas, der die vollkommene Stille nicht erträgt, schaltet nicht nur Sirenen und Musik ein, sondern beginnt auch mit sich selbst und den Objekten zu sprechen. Immer wieder wiederholt er Phrasen wie, „Hallo, Niemand/Jemand hier“ und Ähnliches. Aussagen wie „Ha, ha, ha! Jetzt werden wir schmausen! Jetzt werden wir löffeln!

Ha, ha, ha!“455 deuten dagegen auf seinen nicht mehr ganz stabilen Geisteszustand hin. Eine weitere Form der Vermittlung sind die Visitenkarten und Zettel mit kurzen Botschaften, die Jonas überall hinterlässt. Diese Nachrichten sind kursiv gedruckt und bestehen meist aus dem

451 Glavinic: Arbeit, S. 10

452 Vgl. Stuhlfauth: Moderne Robinsonaden, S. 77

453 Vgl. Martinez und Scheffel: Erzähltheorie, S. 59f

454 Glavinic: Arbeit, S. 201

455 Ebd., S. 214

91 aktuellen Datum, seinem Namen und seinem Aufenthalt, wie etwa „Hier ist jemand. 6. Juli.

[…] Salzburg, Marriott, 7. Juli“456

Mindestens so komplex wie die Frage nach dem Erzähler ist aber auch die Frage nach dem Leser. Jede Geschichte richtet sich normalerweise an einen intendierten Leser oder Adressaten. In einer Gegenwart, denn Glavinic Werk ist nicht in die Zukunft versetzt, wie es in traditionellen Erzählungen der Apokalypse üblich ist,457 in der es keine Menschen mehr gibt, kann es auch keinen Leser mehr geben. Diesen Fakt zu ignorieren fällt bei Haushofer und Schmidt leichter, da deren Protagonisten ihre Aufzeichnungen auch aufgrund des Schreibprozesses an sich machen. Bei Glavinic scheint das weniger klar zu sein, denn weshalb schreibt dieser Erzähler? Mara Stuhlfauth hat darauf eine Antwort gefunden, die sich weit von der eigentlichen Geschichte entfernt. Sie schlägt vor den Roman wirklich als Roman zu lesen und den Erzähler als fiktiven Autor eines Gedankenexperiments zu verstehen.

Stuhlfauth untermauert diese Theorie anhand des Textes. Auf den letzten Seiten findet sich etwa ein sprachliches Bild, in dem Jonas in ein Buch eingeht.458 „Durch diese poetologische Metapher wird Jonas auch innerhalb der Romanwelt zur Romanfigur und das dichterische Vorgehen selbst zum Thema des Romans.“459 Sie stellt weiter die Hypothese auf, dass Jonas im Laufe des Geschehens erkennt, bloße Fiktion zu sein. Sie begründet dies mit dem ständig wiederkehrenden Gefühl des Protagonisten, nicht selbst entscheiden zu können und von außen geführt zu werden. Weiters verweist sie auf die Episode, in der Jonas zu Ende des Romans eine Schriftstellerwohnung betritt, in der sich die Werke Glavinics befinden und er über das Schreiben reflektiert.460 Diese Herangehensweise ist zwar durchaus spannend, für die vorliegende vergleichende Analyse ist die offensichtlichere Lesart, die die Arbeit der Nacht als radikales Gedankenexperiment einer postapokalyptischen Welt darstellt, aber passender.

Erzähltechnisch interessant ist außerdem die Vermittlung von Gefühlen, auf die bereits in Kapitel 4.4.2. eingegangen wurde. Das vorherrschende Gefühl in Glavinics Roman ist, wie bereits einige Male erwähnt wurde, die Angst. Der ganze Roman wird von einer beunruhigenden und beängstigenden Stimmung, die sich nicht nur auf den Protagonisten beschränkt, sondern auch auf den Leser ausstrahlt, begleitet. Dennoch wird die „Emotion Angst an kaum einer Stelle explizit benannt“461. Anders als Haushofer, deren Protagonistin in ihrem Bericht häufig darauf verweist Angst zu haben, wird Jonas‘ Angst nur indirekt

456 Ebd., S. 39, 41

457 Vgl. Müller-Funk: Nach der Postmoderne, S. 20

458 Vgl. Glavinic: Arbeit, S. 392

459 Stuhlfauth: Moderne Robinsonaden, S. 111

460 Vgl. Ebd., S. 112 und Glavinic: Arbeit, S. 375

461 Hillebrandt und Poppe: Angst- Lektüre, S. 227

92 vermittelt. Die Furcht spiegelt sich in seinen Handlungen. So führt ihn etwa einer seiner ersten Wege in eine Waffenhandlung, wo er eine Pumpgun kauft, die er von da an immer bei sich trägt. Auch das Abschließen und mehrfache Kontrollieren aller Räume von innen zeigt diese Angst. Wie auch in den anderen beiden Romanen geht die zentrale Angst scheinbar davon aus, doch noch einem Menschen zu begegnen. So sehr Jonas sich auch offenkundig wünscht, dass diese zurückkämen, richten sich doch alle seine Verteidigungsmaßnahmen gegen Menschen. Das Gefühl von Angst wird aber nicht nur über den Inhalt der Wörter und Jonas‘ Taten vermittelt, sondern auch durch die Interpunktion, über Wiederholungen und Exklamationen formal dargestellt.462 Diese Methode erinnert an Schmidts Schreibstil.