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Kapitel 3: Gegenwärtige Verfassungsrechtslage

A. Konkretisierung des Begriffs der Sittenwidrigkeit über die Wertung des Grundgesetzes

I. Das Zusammenwirken von Privatrecht und Verfas- Verfas-sungsrecht

1. Unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten

Nach der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung be-steht eine direkte Grundrechtsbindung aller staatli-chen Rechtsmacht unter Einschluß der Privatrechtsnor-men.152 Als Adressat der Grundrechte werden nicht nur der Staat, sondern auch die Privatrechtssubjekte an-gesehen, so daß die Grundrechte in Form von Ein-griffsverboten bzw. von Abwehrrechten angewendet wer-den. Zwar sind sie historisch gesehen als subjektive Abwehrrechte gegenüber dem Staat zu werten und können in dieser Funktion nicht im Privatrechtsverkehr ange-wendet werden.153 Die Anwendung der Grundrechte auf den Privatrechtsverkehr wird zum Teil dennoch befür-wortet, da es der den Grundrechtsnormen zugedachten Bedeutung nicht gerecht würde, wenn sie lediglich ge-genüber der Staatsgewalt Anwendung fänden.154 Sinn und Zweck des Grundgesetzes sei es, dem einzelnen einen möglichst wirkungsvollen Schutz zu gewähren. Aus die-sem Grund könnten die Grundrechte im Privatrecht nicht nur als „Leitsätze“ oder „Auslegungsregeln“ Be-deutung haben.155 Dies wirke sich zivilrechtlich der-gestalt aus, daß die Grundrechte als gesetzliche Ver-bote gemäß § 134 BGB, absolute Rechte im Sinne des

152 Mayer JZ 1985, 111ff. (113); Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 30, 47, 157; ders. AcP 185 (1985), 1ff.;

das BAG ging in seiner früheren Rechtsprechung ebenfalls von einer unmittelbaren Geltung der Grundrechte aus, welches aus der sozialen Ordnungsfunktion der Grundrechte hergeleitet wurde und damit teilwei-se eine unmittelbare Bedeutung auch für den Rechtsverkehr der Bürger untereinander gelten ließ, vgl. hierzu BAGE 1, 185ff. (191), BAGE 24, 438ff. (441).

153 Enneccerus/ Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, 1959, IV, § 15, 4. a), S. 92; Gamillscheg AcP 164 (1964), 385ff. (404).

154 Hager JZ 1994, 373ff.

155 Enneccerus/ Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, 1959, IV, § 15, 4. c), S. 95.

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§ 823 Abs. 1 BGB oder Schutzgesetze gemäß § 823 Abs.

2 BGB unmittelbar auch für den privaten Rechtsverkehr gälten.156 Diese unmittelbare Wirkung beruhe auf dem Verfassungstext selbst, wonach gemäß Art. 1 Abs. 3 GG auch Privatrechtsnormen der ganz normalen Grund-rechtsbindung unterlägen.157 Dies ergebe sich schon aus dem Umstand, daß ein Richter, der eine zivil-rechtliche Streitigkeit zu entscheiden habe, dabei ebenso öffentliche Gewalt ausübe und somit aufgrund von Art. 1 Abs. 3 GG den Grundrechten unterworfen sei.158 Danach sei die „Grundrechtsorientierung des Privatrechts über die Grundrechtsbindung der öffent-lichen Gewalt“, nämlich den Gerichten, zu begründen.

Eine mittelbare Geltung der Grundrechte sei deshalb gar nicht zu diskutieren.159

Als Anhänger der Theorie von der unmittelbaren Dritt-wirkung der Grundrechte gelten unter anderem Nipper-dey160 und das Bundesarbeitsgericht161, das in früheren Entscheidungen mehrfach sowohl die Diskriminierungs-verbote des Art. 3 GG als auch eine Reihe von Frei-heitsrechten als gesetzliche Verbote im Sinne von

§ 134 BGB qualifizierte.162 Die Vertreter dieser Theo-rie verweisen jedoch darauf, daß eine absolute

156 So Enneccerus/ Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, 1959, IV, § 15, 4. a), S. 92; BAGE 1, 193ff.;

BAGE 4, 243ff. (276); BAGE 13, 174ff.; anders aber jetzt BAG AP § 87 BetrVG 1972 „Überwachung“ Nr. 15.

157 Schwabe AcP 185 (1985), 1ff. (1f.).

158 Schwabe AcP 185 (1985), 1ff. (4).

159 Schwabe AcP 185 (1985), 1ff. (8).

160 Nipperdey war Präsident des BAG.

161 Das BAG wand die Grundrechte erstmals unmittelbar an in seiner Entscheidung vom 03.12.1954, abgedruckt in JZ 1955, 117ff. Mittler-weile folgt das BAG in der Praxis der Gegenansicht, der Theorie von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, vgl. hierzu BAGE 48, 122ff. (138); BAGE 47, 363ff. (374); zuletzt BAG JZ 1993, 908ff.

(909).

162 BAGE 1, 185ff.; BAGE 4, 274ff.; BAGE 24, 438ff. (441); ferner BAG AP Nr. 4, 6, 77, 87, 110 zu Art. 3 GG; BAG AP Nr. 25 zu Art. 12 GG;

BAG AP Nr. 2 zu § 134 BGB.

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kung der Grundrechte nur dem Grundsatz nach bestehe.

Die Wirkung gelte nicht ohne weiteres für jedes Grundrecht. Vielmehr müsse die Frage der unmittelba-ren Wirkung für jede Grundrechtsnorm gesondert ge-prüft werden.163

Zwar ist richtig, daß auch der Zivilrichter bei der Ausübung seiner öffentlichen Gewalt unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist, die z. B. der Beweiser-hebung und der Beweisverwertung Grenzen ziehen kön-nen.164 Daraus läßt sich jedoch nicht auf eine unmit-telbare Drittwirkung der Grundrechte im allgemeinen schließen. Der Theorie der unmittelbaren Drittwirkung muß entgegengehalten werden, daß bezüglich der Grund-rechtsbindung nicht das Verhältnis eines Richters zum Privatrechtssubjekt, sondern ausschließlich das mate-riell-rechtliche Verhältnis der Parteien untereinan-der entscheidend sein darf.165 Die Grundrechte richten sich schon nach dem Wortlaut, der Systematik, der Ge-schichte und der teleologischen Funktion an die

„staatliche Gewalt“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) bzw. an die „Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“ (Art. 1 Abs. 3 GG) und nicht an die Privatpersonen selbst.166

Im deliktischen Bereich wird auch nach der Rechtspre-chung des BGH teilweise eine unmittelbare

163 Eckold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, 1974, S. 80; Ennec-cerus/ Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halb-band, 1959, IV, § 15, 4. c), S. 93ff.; ders., Grundrechte und Privat-recht, 1961, S. 12, 20; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1988, Rn. 353; Hermes NJW 1990, 1764ff. (1764); Laufke in FS für Lehmann, Band 1, 1956, S. 145ff. (155).

164 BVerfGE 5, 13ff - „Blutentnahme“; BGHZ 27, 284ff. - „Tonbandauf-nahme“; BGH JZ 1971, 387ff. - „Spitzel“.

165 Vgl. auch von Mangoldt/ Klein/ Starck, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 1, 1999, Art. 1 Abs. 3, Rn. 208.

166 Vgl. auch Canaris AcP 184 (1984), 201 ff. (203-207); ders. AcP 185 (1985), 9ff. (9).

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kung von Grundrechten anerkannt, allerdings aus-schließlich im Rahmen der die Freiheitsrechte betref-fenden Grundrechten. So ist nach ständiger Rechtspre-chung dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art.

2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in verfassungskonformer Anwendung und Auslegung der Ge-neralklauseln der Schutz der absoluten Rechte im Rah-men des § 823 Abs. 1 BGB zuerkannt worden, soweit nicht bereits eine speziellere Norm Anwendung fin-det.167 Danach wird das allgemeine Persönlichkeits-recht als einheitliches und umfassendes subjektives Recht auf Achtung und Entfaltung der Persönlichkeit verstanden.168 In solchen Ausnahmefällen kommt ein un-mittelbarer Durchgriff auf die Grundrechte auch in Betracht.169 Die unmittelbare Drittwirkung der Grund-rechte hat sich jedoch lediglich im Rahmen des De-liktsrechts durchgesetzt, wonach alle personalen Freiheitsrechte als absolute Rechte anerkannt sind und einen solchen Schutz genießen.170

Wollte man der Theorie der unmittelbaren Drittwirkung nicht folgen, dann würde dies schon dem geschichtli-chen Hintergrund des Grundgesetzes zuwiderlaufen, denn die gesamte geschichtliche Entwicklung des Grundrechtssystems verneint eine absolute Wirkung der Grundrechte auf den Privatrechtsverkehr.171 In der Entstehungsgeschichte der Grundrechte stand zunächst das Bemühen im Vordergrund, Übergriffe der

167 BGHZ 13, 334ff. „Veröffentlichung von Briefen“; BGHZ 24, 72ff.

-„Ärztliches Gesundheitszeugnis“; BGHZ 26, 349ff. - „Herrenreiter“;

BGHZ 27, 284ff. – „Tonbandaufnahme“.

168 BGHZ 13, 334ff. - „Veröffentlichung von Briefen“.

169 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, Allgemeine Lehren und Grundrechte, 1988, § 76 III 3., S. 1556.

170 Canaris AcP 184 (1984), 201ff. (208).

171 Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der BRD, Band V, All-gemeine Grundrechtslehren, 1992, § 109, S. 45ff.

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walt in private Bereiche abzuwehren, eine Sphäre pri-vater Freiheit abzuschirmen. Zwar wurden auch zur Zeit der Weimarer Verfassung in einzelnen Vorschrif-ten Grundrechtsgehalte auf Privatrechtsnormen ange-wendet.172 Diese galten jedoch als Ausnahme, die die grundsätzliche Staatsgerichtetheit der Grundrechte nicht antastete. Diese geschichtliche Entwicklung wurde in Art. 1 Abs. 3 GG fortgeführt, der als Grund-rechtsadressaten lediglich die öffentliche Gewalt nennt.173 Die staatlichen Aufgaben, Freiheiten einan-der zuzuordnen und voneinaneinan-der abzugrenzen, ließe sich nicht mehr verwirklichen, wenn die Privaten in Rechtsstreitigkeiten im Verhältnis zueinander unmit-telbar an die Grundrechte gebunden wäre.

Die Kritik an dieser Theorie zeigt sich insbesondere im rechtsgeschäftlichen Bereich. Dort führt eine un-mittelbare Drittwirkung der Grundrechte zur Aushöh-lung der Privatrechtsautonomie.174 Das Problem stellt sich bereits bei der unmittelbaren Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes gemäß Art. 3 GG; diese würde zu einem Kontrahierungszwang führen, welcher der Ver-tragsfreiheit zuwiderlaufen würde, da diese dann nicht mehr gewährleistet wäre.

Die Freiheitsrechte stehen grundsätzlich nicht zur Disposition. Sie können lediglich in einem zulässigen Ausmaß eingeschränkt werden. Im Rahmen der unmittel-baren Drittwirkung würde dies als Konsequenz bedeu-ten, die zulässige Einschränkung richte sich nach dem

172 So fand gemäß Art. 118 Abs. 1 Satz 2 WRV die Meinungsfreiheit im Rahmen von Arbeits- und Wirtschaftsverhältnissen Anwendung und gemäß Art. 159 Satz 2 WRV genoß die Koalitionsfreiheit auch gegenüber von privatrechtlichen Einschränkungen Schutz.

173 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, Allgemeine Lehren und Grundrechte, 1988, § 76 III 2, S. 1553.

174 Canaris AcP 184 (1984), 201ff. (208f.).

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verfassungsrechtlichem Übermaßverbot. Die Prinzipien der Eignung, der Erforderlichkeit und der Verhältnis-mäßigkeit würden zu schärferen Kontrollen führen und damit § 138 BGB außer Kraft setzen.

Der Einfluß grundrechtlicher Wertmaßstäbe muß zwar Berücksichtigung finden und wird auch von der Recht-sprechung durch die Auslegung der Generalklauseln un-ter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten reali-siert.175 Dabei wird die Auslegung des Begriffs der guten Sitten der Generalklauseln nicht an dem verfas-sungsrechtlichem Übermaßverbot gemessen, sondern aus-schlaggebend für die Auslegung sind die Grundrechte als Auslegungsrichtlinien und Konkretisierungsmaßstä-be. Eine unmittelbare Verpflichtung der Privatrechts-subjekte begründen sie jedoch nicht.176 Das BVerfG hat damit die Generalklauseln als Einbruchstelle der Grundrechte in das bürgerliche Recht bezeichnet und eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte durch Anwendung der Generalklauseln befürwortet.177