• Keine Ergebnisse gefunden

Kapitel 3: Gegenwärtige Verfassungsrechtslage

A. Konkretisierung des Begriffs der Sittenwidrigkeit über die Wertung des Grundgesetzes

I. Das Zusammenwirken von Privatrecht und Verfas- Verfas-sungsrecht

2. Mittelbare Drittwirkung von Grundrechten

Nach der Theorie der mittelbaren Drittwirkung ver-pflichten die Grundrechte aufgrund ihrer öffentlich-rechtlichen Herkunft nicht die Subjekte des Privat-rechts, sondern lediglich den Staat selbst.

175 Zum Teil wird vertreten, die Grundrechtswirkung dürfe sich nicht ausschließlich auf Generalklauseln beschränken, vielmehr müsse die Bedeutung der Grundrechte auf die wertausfüllungsfähigen und wertaus-fülllungsbedürftigen Begriffe ausgedehnt werden, um der Bedeutung der Grundrechte auf die Privatrechtsautonomie gerecht zu werden. So Dürig in Maunz/ Dürig, Grundgesetzkommentar, Band 1, Präambel bis Art. 5 GG, Stand Juni 1998, Art. 1 III, Rn. 132; hingegen widersprüchlich in FS für Nawiasky, 1956, S. 157ff. (176f.), wo er teils nur von der

„wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Generalklau-seln“ spricht.

176 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, Allgemeine Lehren und Grundrechte, 1988, § 76 III 3., S. 1556.

Kapitel 3 B. - Einzelne Grundrechte

pflichtete hinsichtlich der grundgesetzlichen Werte-ordnung sind insbesondere der Gesetzgeber und der Richter.178

Die Ableitung und der Anwendungsbereich des Rechtsin-stituts der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten ist bislang unscharf geblieben. Das BVerfG verneint zwar eine unmittelbare Grundrechtsbindung des Rich-ters bei privatrechtlichen Streitigkeiten.179 Dennoch spricht es den Grundrechtsnormen in ständiger Recht-sprechung neben der Gewährleistung als Abwehrrechte gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt auch die Ele-mente einer objektiven Werteordnung zu, die über dem Privatrecht schwebt und als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und somit auch auf das Privatrecht mittelbar ein-wirkt.180 Ein solcher Vorrang der Verfassung ergibt sich schon aus dem Grundgesetz selbst in Art. 20 Abs.

3 GG und wird für die Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 GG noch einmal speziell betont.181 Aus diesem Grunde emp-fangen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung von den Grundrechten Richtlinien und Impulse.182 So wird das bürgerliche Recht von diesem Wertesystem be-einflußt, denn keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihnen stehen, ebensowenig die

177 BVerfGE 7, 198ff. (206) - „Lüth“.

178 Vgl. Canaris AcP 184 (1984), 201ff. (210); Dürig, in FS für Na-wiaky, 1956, S. 157ff.; Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, III, S. 20ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/ 1, Allgemeine Lehren und Grundrechte, 1988, § 76 III 2, S. 1552ff.

179 Zuletzt zusammenfassend BVerfGE 73, 261ff. (269) - „Bergwerksge-sellschaft“.

180 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 7, 198ff. (205) - „Lüth“;

BVerfGE 35, 79ff. (114) „Hochschule“; BVerfGE 42, 143ff. (148)

-„Deutschland-Magazin“; BVerfGE 73, 261ff. (269) - „Bergwerksgesell-schaft“ mit weiteren Nachweisen; Hesse, Verfassungsrecht und Privat-recht, 1988, S. 23f.

181 Dazu Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 20f.; Wahl NVwZ 1984, 401ff.

Kapitel 3 B. - Einzelne Grundrechte

Auslegung und Anwendung der bürgerlichen Normen im Einzelfall. Jede muß in ihrem Geiste ausgelegt wer-den.183 Dabei wirken die Grundrechte nicht unmittelbar als gesetzliche Verbote oder Schutzgesetze auf das Privatrecht ein, sondern es bedarf gewisser Einbruch-stellen der Grundrechte in das Zivilrecht.184 Diese werden durch die privatrechtlichen Vorschriften bzw.

über das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere der Gene-ralklauseln und an sonstigen auslegungsbedürftigen Begriffen, manifestiert.185 Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses gerade die Generalklauseln, da diese zur Beurteilung menschli-chen Verhaltens auf Maßstäbe wie die „guten Sitten“

verweisen, so daß alle wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Normen, wie beispielsweise

§§ 138, 242, 315 und 826 BGB, von Bedeutung sind.186 Der Einfluß grundrechtlicher Wertmaßstäbe macht sich vor allem bei denjenigen Vorschriften des Privat-rechts geltend machen, die zwingendes Recht enthalten und so einen Teil des ordre public - im weitesten Sinne - bilden, das heißt der Prinzipien, die aus Gründen des gemeinen Wohls auch für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen verbind-lich sein sollen und deshalb der Herrschaft des Pri-vatwillens entzogen wird.187 Zwar besteht grundsätz-lich die Möggrundsätz-lichkeit, einem Grundrecht unmittelbare Wirkung als Nichtigkeitsgrund im Sinne von § 134 BGB

182 BVerfGE 7, 198ff. (205) - „Lüth“; BVerfG ZIP 1993, 1775ff. (1779).

183 BVerfGE 7, 198ff (205) - „Lüth“.

184 Dürig in FS für Nawiasky, 1956, S. 157ff. (162).

185 BVerfGE 7, 198ff. (Leitsatz 2 und S. 205) - „Lüth“.

186 BVerfGE 7, 198ff. - „Lüth“; BVerfG NJW 1990, 1469ff. - „Handels-vertreter“; Wiedemann JZ 1990, 695ff.

187 BVerfGE 7, 198ff. (206) - „Lüth“.

Kapitel 3 B. - Einzelne Grundrechte

zuzusprechen, allerdings nur dann, wenn dies verfas-sungsrechtlich ausdrücklich angeordnet sei.188

Erstmals hat sich das BVerfG mit der Frage der Wir-kung von Grundrechten auf das Privatrecht in seinem Urteil vom 15.01.1958 auseinandergesetzt.189 In dem sogenannten Lüth-Urteil wird den Grundrechten die Wirkung einer Leitlinie im Privatrecht zuerkannt.190 Zwar wird in diesem Urteil zunächst betont, es beste-he kein Anlaß, die Streitfrage der Drittwirkung in vollem Umfang zu erörtern.191 Allerdings wird dennoch erstmals ausgeführt, das Grundgesetz entfalte eine objektive Werteordnung, mit der in allen Bereichen des Rechts Richtlinien und Impulse ausgesendet wür-den.192 Damit hat es sich der Theorie der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten angeschlossen.193 Das BVerfG spricht den Grundrechten eine Ausstrahlungs-wirkung zu, die sich über die Generalklauseln im Pri-vatrecht verwirklichen läßt.

Die Theorie der mittelbaren Drittwirkung ist eben-falls geeignet, Probleme aufkommen zu lassen. Denn durch die mittelbare Anwendung der Grundrechte auf zivilrechtliche Streitigkeiten kann die Rechtsklar-heit und RechtssicherRechtsklar-heit in Mitleidenschaft gezogen werden. Die grundgesetzliche Ordnung besteht ledig-lich aus wenigen sehr weit auszulegenden und oft un-bestimmten Rechtssätzen. Dennoch hat sie Vorrang vor den zivilrechtlichen Gesetzen. Gerade die unter-schiedlichen Auslegungsmöglichkeiten der Grundrechte

188 Dürig in FS für Nawiasky, 1956, S. 157ff. (162).

189 BVerfGE 7, 198ff. - „Lüth“.

190 BVerfGE 7, 198ff. (204f.)- „Lüth“.

191 BVerfGE 7, 198ff. (204) - „Lüth“.

192 BVerfGE 7, 198ff. (205) - „Lüth“.

193 BVerfGE 7, 198ff. (205) - „Lüth“.

Kapitel 3 B. - Einzelne Grundrechte

können dazu führen, daß die Privatautonomie ihre Ei-genständigkeit verliert. Hinzu kommt, daß die Beson-derheiten der Grundrechtskonstellationen für alle Be-teiligten gelten, da alle BeBe-teiligten am Schutz der Grundrechte teilhaben. Dies könnte dazu führen, daß Privatrechtssubjekte in ihrem Verhältnis zueinander nicht von den Grundrechtssätzen abweichen dürfen, ob-wohl dies grundsätzlich aufgrund der im Privatrecht vorherrschenden Vertragsfreiheit gewährleistet sein sollte.

Dieses Problem kann jedoch bewältigt werden, indem die in Betracht kommenden Grundrechtspositionen bei-der Seiten berücksichtigt, und sollten diese kolli-dieren, einander verhältnismäßig zugeordnet werden.

Dies führt zu einem angemessenen Schutz der Grund-rechte gegen Beeinträchtigungen und Gefährdungen aus dem nicht-staatlichen Bereich. Auch ist dem Aspekt Bedeutung zu schenken, daß keine Schranke für Verfas-sungsbeschwerden gegen zivilrechtliche Entscheidungen bestünde und somit das BVerfG zum obersten Gericht zivilrechtlicher Streitigkeiten würde.194

Die Ansicht des BVerfG findet in der Literatur mitt-lerweile großen Anklang.195 Entgegen der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung seien die Grundrechte nicht unmittelbar auf das Verhalten der Privatrechts-subjekte untereinander anzuwenden. Normadressat der Grundrechte sei allein der Staat. Dennoch entfalteten die Grundrechte eine mittelbare Wirkung, indem sie im

194 Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 25f.

195 Hermes NJW 1990, 1764ff.; Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, 25f.; vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik

Deutsch-Kapitel 3 B. - Einzelne Grundrechte

Wege von Richtlinien und Impulsen für die Auslegung der Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen von Bedeutung seien.

Allerdings wird vereinzelt vertreten, entgegen der Ansicht des BVerfG entwickelten die Grundrechte nicht nur eine Ausstrahlungswirkung auf das Privatrecht, sondern sie müßten in ihrer herkömmlichen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte gelten.196 Denn auch der Privatrechtsgesetzgeber sei Gesetzgeber und daher nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar und nicht nur auf eine mittelbare Weise an die Grundrechte gebun-den.197 Grundrechte dürften ihren Charakter als Ein-griffsverbote für das Privatrecht nicht verlieren.

Dabei ergebe die Güter- und Interessenabwägung, daß eine Verletzung des betreffenden Grundrechtes unmit-telbar gegeben sei. Die „Mitunmit-telbarkeit“ der rechte sei insoweit abzulehnen, als sie die Grund-rechtsgeltung für das Privatrecht schlechthin behaup-te, als auch für dessen Normen, denn diese würden der unmittelbaren Bindung unterliegen.198