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Ungeziefer in der Ordnung der Welt

Im Dokument Mäuse, Maden, Maulwürfe. (Seite 168-178)

5. Kontextur der Ordnungen

5.1 Ungeziefer in der Ordnung der Welt

5.1.1 ‚Unterschiedliche Vollkommenheiten’: Strukturelle Ordnungen

Der Vorstellung, dass der Kosmos in der Form einer Kette der Wesen aufgebaut ist, stellt „die geheiligte Formel des 18. Jahrhunderts“2 dar. Dieses auf antike Wurzeln zurückgehende Weltkonzept basiert auf der Annahme, dass alle Dinge von den Mineralien über Pflanzen, Tiere, Menschen und den Elementen des Kosmos bis hin zu Gott ein linear-hierarchisch aufgebautes Kontinuum bilden. Es wird davon ausgegangen, dass die Dinge einander prin-zipiell ähnlich sind und nur über graduelle Unterschiede verfügen. Über die Position der einzelnen Elemente in der Stufenleiter bestimmt der Grad ihrer Vollkommenheit: Je kom-plexer der Beobachtungsgegenstand strukturiert ist, desto höher wird er in der Stufenleiter eingeordnet. Es handelt sich folglich um eine teleologische und zugleich um eine statische Naturauffassung, denn es wird davon ausgegangen, dass die Kette über keinerlei Lücken verfügt. Alle ihre Glieder seien bei der Schöpfung besetzt worden und bleiben stetig

1 Die im Zusammenhang mit der Ungezieferthematisierung zum Ausdruck kommenden Naturverständnisse werden im Kapitel 6 ausführlich dargestellt.

2 Lovejoy 1933, S. 222.

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setzt. Mit dem Konzept ist deshalb die Herausbildung neuer und das Aussterben von Arten unvereinbar.

Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird diese Ordnungsvorstellung modifiziert und allmäh-lich von anderen Konzepten abgelöst. Verantwortallmäh-lich hierfür sind unter anderem paläonto-logische Ergebnisse, die erdgeschichtliche Entwicklungen und Entwicklungen der Lebewe-sen nahelegen.3 Es ist allerdings anzunehmen, dass diese mit der Konzeption der Kette der Wesen divergierende Deutung nicht allein den Funden, sondern modifizierten, das heißt entwicklungsgeschichtlichen Vorstellungen geschuldet ist. So wird beispielsweise die An-ordnung der Naturelemente verändert: Sie werden nicht mehr in einer Kette, sondern in Form eines Netzes zueinander in Bezug gesetzt. Es wird nämlich die Auffassung vertreten, dass ein Element nicht nur Beziehungen zu zwei, sondern zu weiteren Körpern unterhält.4 Es wird davon ausgegangen, dass sich die Kette der Wesen aus der größtmöglichen Viel-zahl und Vielfalt von Gliedern zusammensetzt. Sie gilt bei den Physikotheologen5 als ein Beweis für die vollendete Weisheit und Größe Gottes sowie für die Vollkommenheit seiner Schöpfung:

„Das kleinste Geschöpf verherrlichet die Macht Gottes eben so sehr, als das größte, und ich getraue mir fast zu behaupten, daß man, um einen Gott zu glauben, und um den Gott, den man glaubt, zu verehren, nur die Stufenfolge betrachten dürfe, die sich unter den Geschöpfen so sichtbar findet. Das muß ein allmächtiger Schöpfer seyn, der dies alles so weislich hat bereiten können“.6

Einige Vertreter dieser Naturvorstellung vertreten eine physiozentrische Haltung, das heißt, sie gehen davon aus, dass Gott die Dinge nicht um des Menschen, sondern um der Dinge selbst willen schuf. Andernfalls hätte er nicht allen erdenklichen Formen Raum gegeben.

Darüber hinaus verorten sie den Menschen nicht am Ende der Stufenleiter, sondern unter-halb anderer Wesen. Diese Naturkonzeption wird desunter-halb auch als Aufruf zur Bescheiden-heit gedeutet.7 Damit wird eine Gegenposition zu der ebenfalls aus der christlichen Theo-logie resultierenden Überzeugung eingenommen, dass die Schöpfung auf den Menschen

3 Vgl. Lepenies 1976, S. 42ff.

4 Vgl. Fabricius 1781, S. 213; Bäumer 1996, S. 207.

5 Als Physikotheologie wird eine im 17. und 18. Jahrhundert existierende protestantische Strömung bezeichnet, die die Welt als ein von Gott geschaffenes und erhaltenes harmonisches Ganzes begreift. Ihre Vertreter betrachten die Welt als zweckmäßig und vollkommen eingerichtet. Sie wird als die zweite Quelle der Offenbarung angesehen, da sie die Eigenschaften Gottes widerspiegele. Die Physikotheologen beschäftigen sich deshalb so intensiv mit den physischen Gegebenheiten, um Gott zu lobpreisen. (Vgl.

hierzu u. a. Glacken 1967, S. 375-428, 504-550; Krolzik 1988; Groh/Groh 1991.) Die Intensität, mit der die Natur untersucht wurde, übertraf sogar die, die der Heiligen Schrift galt. (Vgl. Sieferle 1989, S. 24-34, 30.)

6 Schröter 1776a, S. 5.

7 Vgl. Lovejoy 1933, S. 224-250.

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ausgerichtet ist. Die Stufenleiteridee ist aber auch mit dieser Annahme vereinbar und wird damit vereinbart. So stellt der Mensch nach SANDER den Höhepunkt der Schöpfung auf Erden dar: Alles erscheine ihm so, „als wenn der Schöpfer am todten leblosen Staub ange-fangen, sein Werk immer besser und schöner gemacht, und endlich am Menschen aufge-hört hätte.“8

Ein Element der Kette der Wesen ist ‚Ungeziefer’ beziehungsweise einzelne, dem ‚Ungezie-fer’ zugeordnete Tiere. Der Begriff Ungeziefer wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts vor-rangig als eine anatomische Bezeichnung verwendet.9 In dieser Klasse des Tierreiches wer-den alle diejenigen Tiere zusammengefasst, die über gemeinsame Merkmalsausprägungen verfügen. Im Verlauf des Untersuchungszeitraums wird dieser Begriff durch den des In-sekts ersetzt. LESSER bezeichnet Insekten, die negative ökonomische Auswirkungen haben als ‚Ungeziefer’. Auf diese Tiere trifft deshalb auch das folgende Zitat zu:

„Gleichwie nun solcher Gestalt die drey Reiche der Natur in einer genauen Verwandschafft stehen, daß keines das andere entbehren kann; also hat auch GOtt ihre Gräntzen so nahe bey einander gesetzet, daß keine von der andern weit entfernet ist. ... Und gehet man von dem vegetabilischen Rei-che zum ReiRei-che der Thiere, so sind zwisRei-chen demselben die sogenannten Zoophyta oder Thier-Pflantzen, welche (so zu reden) gleichsam Zwitter zwischen Thieren und Pflantzen sind. Auf diese folgen hernach die Insecten, welche zwar in vielen Stücken denen Pflantzen noch beykommen, in vielen Stücken aber auch denen Thieren noch näher kommen, daß man sie gar wohl unter die Zahl derselben setzen kann.“10 [Herv. i. O.]

LESSER ordnet die Elemente der Natur kettenförmig an. Die drei Naturreiche – das Mine-ral-, Pflanzen- und Tierreich – werden durch Übergangsformen miteinander verbunden. So schließt das Pflanzenreich über die Zoophyten11 an das Tierreich an.12 Auf die Zoophyten folgen die Insekten, die folglich als sehr einfach strukturierte Organismen des Tierreichs gelten. Aber auch die Klasse der Insekten ist durch graduelle anatomische Unterschiede hierarchisch strukturiert: Wie für LESSER bilden sie auch für SANDER die unterste Stufe des Tierreichs. Er lässt sie den Polypen nachfolgen, die nach neueren zeitgenössischen Er-kenntnissen das Pflanzen- mit dem Tierreich verbinden:

„Im Meer und im süßen Wasser ist ein feiner Wurm, man nennt ihn den Polypen; der ist ein wahres Thier, hat einen Kopf, frißt willkührlich, legt Eyer, aber die Jungen wachsen ihm auch aus dem Leibe

8 Sander 1782, Teil 1, S. 20. Diese Überzeugung wird häufig im Zusammenhang mit der Funktionalität der Schöpfung geäußert. Vgl. hierzu auch Abschnitt 6.1.2.

9 Vgl. hierzu Kapitel 2.

10 Lesser 1740, S. 54.

11 Bei den Tierpflanzen, den Zoophyten, handelt es sich nach LOVEJOY um eine von Aristoteles übernommene Größe. Sie wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts durch den entdeckten Süßwasserpolypen „Hydra“ abgelöst. (Vgl. Lovejoy 1933, S. 280f.)

12 So auch RÖSEL, der die Stufenleiterkonzeption des Schweizer Gelehrten CHARLES BONNET (1720-1793) übernimmt. (Vgl. Rösel von Rosenhof 1746, Vorrede, o. S.)

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heraus, wie die Zweige auf den Bäumen. Erinnert euch nur an den Regenwurm! Ihr seyd nicht im Stan-de, das Ende zu bestimmen, an dem sein Kopf ist. Der Bandwurm scheint eher ein Stück von den Gedärmen eines andern Thiers zu seyn, als ein eigenes Thier. Aber nehmt eine Biene, eine Wespe, eine Mücke! wie viele Glieder hat sie schon! Die Sommervögel haben auf ihren Flügeln eben so viele künstli-che Federn, als die wahren Vögel haben.“13 [Herv. i. O.]

Die Charakteristika, die LESSER und SANDER ‚Ungeziefer’ zuschreiben, begründen seine Stellung in der Natur. Aus dieser Position leiten andere Autoren auch Anforderungen für den Umgang mit den Tieren ab. Diese Praxismaximen gründen aber nicht allein auf der morphologisch-hierarchischen Ordnung der Dinge, sie resultieren vielmehr aus der An-nahme, dass dieser Ordnung zugleich eine funktionelle Bedeutung für die Abläufe in der Natur zukommt.14

Bei der Kette der Wesen handelt es sich zwar um die im 18. Jahrhundert dominierende ganzheitlich-strukturelle Ordnungsvorstellung der Dinge, es werden parallel dazu aber weite-re hierarchisch gegliederte Systematiken verwendet. Auch in diesen Klassifikationen werden Tieweite-re nach gemeinsamen morphologischen Merkmalsausprägungen angeordnet. Die ersten zoo-logischen Untersuchungen und Tiergruppierungen werden Aristoteles zugeschrieben. Er unterteilte die Tiere nach morphologischen, anatomischen und physiologischen Gesichts-punkten in Großgruppen, an denen sich Gelehrte des 17. und auch des frühen 18. Jahr-hunderts in ihren Tierdarstellungen orientieren.15 Beide Ordnungssysteme – die Kette der Wesen und diese Systematiken – wurden nicht nur in der Antike, sondern auch im 18.

Jahrhundert miteinander vereinbart.

Bei der Naturgeschichte handelt es sich um eine über antike Wurzeln verfügende Disziplin, die im 17. und vor allem 18. Jahrhundert eine über die Wissenschaft hinausreichende Be-deutung besitzt. Sie widmet sich der Erkundung der natürlichen Gegebenheiten, wozu Na-turalien gesammelt und deren Merkmale möglichst detailliert beschrieben werden sollen.16 Im 16. und 17. Jahrhundert stieg die Zahl der entdeckten und beschriebenen Naturelemen-te kontinuierlich an. Um den Überblick über die Vielfalt der Dinge zu erleichNaturelemen-tern, wurde ihre detailliertere Systematisierung angestrebt. Auch diese anatomisch begründeten

13 Sander 1782, S. 21.

14 Vgl. hierzu Abschnitt 5.1.2.

15 Vgl. Bäumer 1991, S. 48ff; Jahn 2002, S. 225.

16 Vgl. u. a. Beckmann 1767, Vorrede, o. S.; Erxleben 1773, S. 1f; zusammenfassend vgl. Thomas 1984, S.

21; Meyer 1999, S. 60.

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matiken stellen die Einheit der Natur nicht infrage,17 sie gelten vielmehr als ein Hilfsmittel, um die gottgegebene Ordnung zu ergründen. Und darin hat auch ‚Ungeziefer’ seinen Platz.

Die Unterteilung des Tierreiches orientiert sich überwiegend, aber nicht ausschließlich an anatomischen Merkmalen. So ordnet MERIAN die beschriebenen Insekten nach ihren Nah-rungspflanzen und AXCTELMEIER nach den Jahreszeiten ihres Auftretens.18 Zu Beginn des Jahrhunderts ist es ebenfalls noch verbreitet, die Tiere in der bis ins 17. Jahrhundert „meist üblichen alphabetischen Darstellungsfolge“19 vorzustellen. Im Verlauf des Untersuchungs-zeitraums setzt sich die Kategorisierung der Tiere nach anatomischen Merkmalen durch.

Ihre Untergliederung wird dabei immer ausdifferenzierter und systematischer, wie anhand des nachfolgenden Überblicks deutlich werden wird.

MERCKLEIN teilt das Tierreich in seinem Thier-Buch in vier Klassen. Er unterscheidet vier-füßige Tiere von Vögeln, Fischen und dem ‚Gewürm und Ungeziefer’. Innerhalb dieser Klassen werden die Tiere durchgängig alphabetisch aufgestellt. In der letzten Gruppe fol-gen beispielsweise „Käfer, Lauß, Mucke, Natter, Refol-genwurm, Scorpion [und] Seiden-Wurm“20 aufeinander. Die Tiere werden zwar einer Klasse zugeordnet, darüber hinaus aber in keine weitere Beziehung zueinander gesetzt.

KRAFFT beschreibt in seinem Werk diejenigen Tieren, die vor allem schädliche Eigenschaf-ten besitzen und deshalb bekämpft werden sollen. Während KRAFFT im ersten Band keine Systematik erwähnt, nach der er die Tiere anordnet und auch keine Systematik erkennbar ist, unterteilt er die Tiere im zweiten Band in drei Kategorien: Neben ‚Ungeziefer’ schreibt er von „raub-wild- und gifftigen Thieren in Teutschland“ und von „vielfüssigen indischen Thieren, so sich in Teutschland durch die Eyer vemehren“.21 Die Abfolge der Tiere folgt in den beiden letztgenannten Kategorien keiner erkennbaren Struktur, sporadisch sind Ansät-ze einer alphabetischen Anordnung erkennbar. Bezüglich der Einteilung des ‚Ungeziefers’

erwähnt KRAFFT zwar, dass zeitgenössisch verschiedene Kategorisierungen verwendet werden, er lässt allerdings offen, welche er verwendet. Aus der Reihenfolge, in der er die Tiere beschreibt, ist abzuleiten, dass er die Vorgaben der „erfahrensten Natur-Erforscher“

17 Vgl. Kräutermann 1728, Einleitung, o. S.; Beckmann 1767, Einleitung, o. S.

18 Vgl. Merian 1679-1683; Acxtelmeier 1715, Vor-Ansprach, o. S.

19 Jahn 2002, S. 225.

20 Mercklein 1714.

21 Krafft 1712, Verzeuchnuß Derjenigen Abtheilungen und Capitul des Andern Theils, o. S.

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übernimmt und das ‚Ungeziefer’ in Abhängigkeit von ihrer Fortbewegungsart in kriechen-des, fliegendes und gehendes gliedert.22

Das Tierreich besteht nachKRÄUTERMANN aus vier Klassen, nämlich den zwei- und vier-füßigen Tieren, Vögeln, Fischen und Muscheln sowie aus Ungeziefer und Gewürm. Inner-halb dieser Klassen führt er die einzelnen Tiere in einer scheinbar beliebigen Reihenfolge auf. Beim „Ungeziefer und Gewürm“ wird dagegen ersichtlich, dass er sich – teilweise – an die auch von KRAFFT praktizierte Ordnung anlehnt. Nachdem er kriechendes ‚Ungeziefer’

von der Natter bis zum Drachen erläutert hat, beschreibt er anschließend dasjenige, das fliegen kann, nämlich: „Die Wespe; Die Hummel; Die Hornisse/ Crabro; Die Bienen; Das Honig; Die Fliege und die Mücke/Musca; Culex, Eine Mücke; Tabanus, die Breme/;

Tipula; Heuschrecken/ Cicada; Der Käfer; Die Molcken-Diebe/Capilio“.23 Eine Ausnahme stellt der Honig dar, der vermutlich aufgrund seiner gesellschaftlichen Bedeutung in einem separaten Abschnitt behandelt wird. Anschließend werden die zum Gewürm gerechneten Tiere dargestellt wie Raupe, Regenwurm und Schabe, daneben auch Floh, Laus und Wanze.

Zu erwähnen ist, dass KRÄUTERMANN den Begriff des Käfers als einen Oberbegriff fasst, dem er spezifischer bezeichnete Käfer subsumiert, wie Schröter, Weiden- oder Mayen-Käfer. Doch auch die anderen Tiere stehen nicht beziehungslos nebeneinander: Beispiels-weise heißt es über die Wespe, es handele sich bei ihr um „eine Art von Bienen, oder viel-mehr Fliegen, doch etwas grösser.“24 Und die Hummel wird als „eine Art Wespen, in Ge-stalt der Bienen, jedoch weit dicker“25 beschrieben. Die Hornisse demgegenüber ist „der Gestalt nach denen Wespen ziemlich gleich, nur daß sie etwas grösser“26 ist. K RÄUTER-MANN setzt die Tiere folglich – obgleich nicht durchgängig – nach ihrer Gestalt zueinander in Beziehung.

Es wurde bereits erwähnt, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts der Begriff Ungeziefer als Bezeichnung für eine Gruppe von Tieren mit gemeinsamen Merkmalen durch den des In-sekts ersetzt wird. Gleichzeitig wird diese Kategorie auch spezifiziert: Tiere, die zuvor als

‚Ungeziefer’ galten, wie Würmer und Amphibien, werden zu eigenen Gruppen des Tier-reichs. Das Tierreich wird insofern auch nicht mehr nur in vier, sondern in weitere

22 Vgl. Ebd., S. 12.

23 Kräutermann 1728, S. 385-403.

24 Ebd., S. 385.

25 Ebd., S. 387.

26 Ebd.

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gruppen unterteilt: Zumeist wird dabei die Linnésche Unterscheidung von Säuge- bezie-hungsweise vierfüßigen Tieren, Vögeln, Amphibien, Fischen, Insekten sowie dem Gewürm verwendet.27 In den Abhandlungen, die in etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstehen und sich entweder mit dem Tierreich oder ausschließlich der Insektenfauna beschäftigen, wird eine detaillierte Systematik verwendet. Die Taxonomien haben die Autoren entweder selbst entwickelt, so wie RÖSEL28, oder werden von anderen Gelehrten übernommen.

Adaptiert wird dabei überwiegend die Linnésche Systematik, nach der die Insekten in Ab-hängigkeit von ihren Flügeln in sieben Ordnungen eingeteilt werden.29

5.1.2 ‚Ungeziefer zum Wohl des Ganzen’: Funktionelle Ordnungen

Die Natur wird im 18. Jahrhundert weitgehend als ein zusammenhängendes Ganzes begrif-fen. Sie wird aber nicht nur als eine strukturelle, sondern auch als eine funktionelle oder protoökologische Einheit beschrieben, nämlich als eine Haushaltung, zu der auch ‚Ungezie-fer’ gehört.

„Die hohen Gedanken, die wir von des Schöpfers Weißheit zu hegen verbunden sind, gebieten uns zu glauben, daß kein Stein, keine Pflanze, kein Thier so geringe, kein Ungeziefer so unansehnlich sey, welches nicht zu einem gewissen bestimmten Nutzen sowohl in der Haushaltung der Natur, als in un-serer besondern Haushaltung dienen sollte, denn Deus et natura nihil frustra.“30

Für die hier unterstellte doppelte Funktionalität aller Elemente wird ihr göttlicher Ursprung verantwortlich gemacht. Mit der Begründung, Gott täte nichts vergebens, wird an physikotheologisches Gedankengut angeschlossen.31 Zeitgenössisch wird angenommen, dass die Elemente der Natur systematisch ineinander greifen, sich gegenseitig tarieren und somit die Natur entsprechend göttlicher Vorgaben erhalten. Zumeist wird davon ausgegan-gen, dass die Naturelemente kettenförmig angeordnet sind, daneben werden sie aber auch als ein Uhrwerk vorgestellt:

27 Vgl. Beckmann 1767, S. 3; Erxleben 1773; Bock 1784, S. V.

28 RÖSEL entwirft einen eigenen Systematisierungsvorschlag, setzt ihn in seinem Werk aber aus verschiedenen Gründen nicht vollständig um. Die Ordnung der Tiere richtet er nicht allein an morphologischen Merkmalen aus, sondern bezieht auch die Lebensweise der Tiere ein. (Vgl. Rösel von Rosenhof 1746, Vorrede, o. S.)

29 Vgl. Sulzer 1761; Beckmann 1769; Zeplichal 1776, Büsching 1787, Zincke 1798.

30 Börner, J. R. H.: An sämmtliche resp. Mitglieder, sowohl der Haupt-, als Fürstenthums- und Creyß-Societäten, in: Patriotische Gesellschaft in Schlesien, Bd. 6 (1778), S. 1-8, 3; vgl. auch Erxleben 1773, S.

246.

31 So auch Sander 1782, S. 16.

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Die Kette als funktionelles Organisationsschema der Dinge kann der strukturellen Stufen-leiteridee entsprechen. In den nachfolgend zitierten Ausführungen basiert die hierarchische Gliederung jedoch weniger auf morphologischen Merkmalen als auf aktiven Beziehungen der Tiere. Deshalb werden hier im Gegensatz zur Literatur beide Beziehungsgefüge ge-trennt behandelt.

Die Position der Tiere in der Kette wird (auch) auf den spezifischen Beitrag zurückgeführt, den sie zur Erhaltung des Ganzen leisten. Er verdankt sich den zwischen den Tieren beste-henden Nahrungsbeziehungen. Über die Nahrungskette werden die Tiere nicht nur mitei-nander verbunden, sie begründet auch ihre divergierenden Eigenschaften. So wird bei-spielsweise angenommen, dass einige Tiere über viel Mut, jedoch keine Stärke verfügen, damit sie

„sich einem Feinde, dem sie zur Speise bestimmet worden, nicht so widersetzen könne, daß dadurch die Absicht GOttes vereitelt würde. Allein, möchte man sagen, wozu dienet ihnen dann ihr Muth und Herzhaftigkeit? Dazu, daß sie das an andern verrichten können, was an ihnen verübt wird. Auch sie sollen sich von dem Fleische anderer Thiere nähren. Sie müssen also so viel Muth, als zum Angriffe, und so viel Stärke, als zu deren Bezwingung nöthig ist, haben. ... So finden wir es auch in der That bey den mehresten Thieren, die sich von Kräutern und leblosen Dingen nähren. Sie wagen keinen Angrif, sind furchtsam, und denken nur im Falle der äusersten Noth auf ihre Vertheydigung.“32

In diesem Zitat wird davon ausgegangen, dass jedes Tier eine Bestimmung hat: Es soll sich von einer bestimmten Tierart ernähren und soll einer anderen, ebenfalls feststehenden Tie-rart als Beute dienen. Damit es diesen Aufgaben – seinem „Nutzen“33 – gerecht werden kann, verfügt es über spezifische Eigenschaften. Aus dieser feingliedrigen Abstimmung der Dinge leitet der Autor ab, dass die Schöpfung „weise Ursachen und Absichten“34 besitzt. In dieser physikotheologischen Argumentation leitet sich der Nutzen der Tiere von ihrer Posi-tion in der natürlichen Haushaltung her. Dieser Nutzen wird aber nicht rein physiozent-risch bestimmt, vielmehr wird ihm zumeist auch eine anthropozentphysiozent-rische Komponente zugeschrieben. Schließlich profitiere der Mensch von der funktionellen Bedeutung der Tie-re in der Natur. Der Menschen könne aber im Einzelnen nicht nachvollziehen, worin die-ser Nutzen jeweils besteht,

„da wir immer nur einen so kleinen Theil des Ganzen übersehen, und den Zusammenhang aller Glie-der in Glie-der Kette Glie-der Natur nur vermuthen, nicht aber eigentlich ergründen können. Daß die Menge der Raupen zum Wohl des Ganzen unentbehrlich seyn müssen, begreifen wir, weil die Natur im

32 C. L. R.: Versuch eines Beytrags zu der Lehre, von den Absichten GOttes bey den natürlichen Dingen, in:

Hannoverische Gelehrte Anzeigen, Bd. 4 (1755), 30. Stck., Sp. 417-432, 421f.

33 Ebd., Sp. 419.

34 Ebd., Sp. 418.

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ßen immer ihren ruhigen Gang fortgeht, und wenn theilsweise auch große Verheerungen geschehen, so blühen die verwüsteten Gegenden in andern Zeiten doch wieder eben so schön auf.“35

Wird die Auffassung geteilt, dass alle Dinge miteinander verbunden sind und ein jedes Element eine existenzielle Funktion für die gesamte Natur besitzt, so muss das auch für die Raupen oder ‚Ungeziefer’ gelten. Es gibt damit nichts, was per se nachteilig und unnütz ist.

Deshalb handelt es sich bei den Auswirkungen von Raupen nur vor dem Hintergrund menschlicher Nutzungsinteressen oder ästhetischer Prämissen um „Verheerungen“, vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Naturverständnisses stellen sie dagegen funktionell notwendige Ereignisse dar.

Aus dieser unterstellten essentiellen Bedeutung des Einzelnen für das Ganze wird aber nicht zwingend geschlussfolgert, dass die Tiere nicht bekämpft werden dürfen. Der Mensch könne sie verfolgen, dies dürfe aber nicht uneingeschränkt erfolgen. Es sei nämlich

Aus dieser unterstellten essentiellen Bedeutung des Einzelnen für das Ganze wird aber nicht zwingend geschlussfolgert, dass die Tiere nicht bekämpft werden dürfen. Der Mensch könne sie verfolgen, dies dürfe aber nicht uneingeschränkt erfolgen. Es sei nämlich

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