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Ästhetische Kontextur

Im Dokument Mäuse, Maden, Maulwürfe. (Seite 138-168)

Der zweite Bezugsrahmen, in dem als ‚Ungeziefer’ bezeichnete Tiere thematisiert werden, ist der ästhetische. Ästhetisch ist hier in einem allgemeinen Begriffsverständnis gemeint und betrifft die sinnliche Wahrnehmung der Tiere, also ihre immaterielle Wirkung. Die ästhetische Kontextur verleiht den Empfindungen Ausdruck, die entstehen, wenn die Tiere in ihrem aktiven und passiven Dasein jenseits ihrer materiellen Bedeutung betrachtet wer-den. Diese Empfindungen sind durch eine Leitunterscheidung geprägt, nämlich derjenigen zwischen Faszination auf der einen und Abscheu auf der anderen Seite. Im 18. Jahrhundert verändert sich allmählich die Auffassung von der Funktionsweise der Sinne. Im Grossen vollständigen Universal-Lexicon werden die Sinne bestimmt als „ein Vermögen der Seele, von den Objecten afficiret zu werden, und hierdurch sie zu empfinden.“1 Es wird davon ausge-gangen, dass die Wahrnehmung von Objekten durch die Objekte gesteuert wird und sie deshalb intersubjektiv ist. Gleichwohl können Geschmack oder Geruch einer Sache unter-schiedlich bewertet werden, was auf die Art und Weise der Verstandeskontrolle zurückge-führt wird.2 In Bezug auf die Schönheit lassen sich aber Veränderungen feststellen. Zwar wird auch im 18. Jahrhundert noch davon ausgegangen, dass die Schönheit im Objekt liegt und nicht vom Betrachter abhängig ist. Dazu heißt es im ZEDLER:

„Vors andere hat man die Schönheit anzusehen, wie sie sich würcklich an einer Sachen befindet und darinnen die Vorstellungen und Neigungen der Menschen übereinstimmen, daß also ein gewisser Grund vorhanden seyn muß, daher solche Übereinstimmung rühret.“3

Doch zugleich wird konstatiert, dass das Schönheitsempfinden subjektiv verschieden sein kann, eine Auffassung, die sich allmählich durchsetzt:4 „Was der eine vor schön preiset, und sich daran belustiget; daran will ein anderes nichts schönes erblicken.“5 Die

1 Zedler 1732-1754, Stichwort „Sinne“, Bd. 37 (1743), Sp. 1691-1699, 1691.

2 Vgl. hierzu Ebd., Stichwort „Geruch“, Bd. 10 (1735), Sp. 1203-1206; Zedler 1732-1754, Stichwort

„Geschmack“, Sp. 1225-1228; Kruenitz 1773-1858, Stichwort „Geruch“, Bd. 17 (1787), S. 443-448;

Kruenitz 1773-1858, S. 483-487.

3 Zedler 1732-1754, Stichwort „Schönheit“, Bd. 35 (1743), Sp. 820-821, 820; vgl. Kruenitz 1773-1858, Stichwort „Schönheit“, Bd. 147 (1827), S. 649-696.

4 Vgl. Eco 2004, S. 275.

5 Zedler 1732-1754, Stichwort „Schönheit“, Bd. 35 (1743), Sp. 820-821, 820.

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schaft, hässlich zu sein, wird demgegenüber auch Ende des 18. Jahrhunderts noch als in der Sache liegend, dargestellt. Als hässlich gilt im Allgemeinen, was „in einem hohen Grade ungestaltet, so daß dadurch Ekel, Schrecken und Abscheu erwecket wird“.6 Im Besonderen gilt es als gleichbedeutend mit „schmutzig, unrein, garstig“.7

Im Folgenden wird untersucht, worin Faszination und Abscheu bestehen, was sie begrün-det und auf welcher Basis diese Zuschreibung erfolgt. Aufgrund fehlender Erläuterungen lässt sich häufig aber nicht feststellen, inwieweit davon ausgegangen wird, dass das jeweilige Urteil allgemein geteilt wird. Darüber hinaus werden die für die Faszination und den Ekel gegebenen Erklärungen sowie die daraus abgeleiteten Umgangshinweise erläutert. Es wird sich zeigen, dass die Betrachtung der Tiere nicht nur kontemplativer Natur, das heißt Zweck in sich selbst ist, sondern mit ihm auch verschiedene Funktionalisierungsbestrebun-gen einhergehen.

4.1 Faszination

4.1.1 ‚Bewunderungswürdige Tiere’: Formen der Faszination

Zwei Aspekte begründen im 18. Jahrhundert eine mit der Betrachtung des ‚Ungeziefers’

einhergehende Faszination: das Aussehen und die Eigenschaften der Tiere.

„Als ich im Garten jüngst durch dicke Erlen gieng, Und mit geöffneter, drauf schnell geschloss’ner Hand Ein Sommer-Vögelchen, das flatternd floge, fing:

Erstarrete mein Aug’, es stutzte der Verstand, Da ich dasselbige so schön, so wunderschön, So herrlich ausgeziert, so reich an Farben, fand.

Gewiß man kann nichts schöners sehn“.8

In diesem Zitat werden die Eindrücke beschrieben, die der Anblick eines Schmetterlings –

„Sommer-Vögelchen“ – hervorruft: Vor lauter Erstaunen und Bewunderung habe der Au-tor innehalten müssen. Im Gegensatz zu den detailliert erläuterten Empfindungen des Be-trachters bleibt die Farbgebung, obgleich sie die Faszination veranlasst, unbestimmt. Sie wird nur emotional und nicht deskriptiv vorgestellt, sodass das Aussehen des Falters im Unklaren bleibt. Der Anblick von Schmetterlingen, darauf wird noch zurückzukommen

6 Kruenitz 1773-1858, Stichwort „Häßlich“, Bd. 20 (1780), S. 818f, 818.

7 Ebd.

8 Brockes 1721, S. 118.

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sein, wird nicht immer derart emphatisch beschrieben, eine ästhetische Beurteilung von Tieren aber findet sich häufig: So auch schon im 17. Jahrhundert, denn MERIAN beschreibt die Kolorierung der auf Pflaumenbäumen zu findenden Raupe unter anderem dahinge-hend, dass „das übrige von der Raupe sehr schön gelb, wie ein schönes Dottergelb“ 9 anzu-sehen sei. Und SCHREBER stellt den Falter der sogenannten Getreideraupen wie folgt vor:

„Nachdem nun die Puppen 4 bis 6 Wochen in der Erde gelegen, so kommen schöne Papilions hervor, deren Fühlhörner weißgrau, der Leib weißbräunlich, und die Füsse von gleicher Farbe, jedoch etwas dunkel sind.“10

Bei RÖSEL erlangt das Aussehen der Tiere sogar bezeichnungsgebenden Status; er berichtet beispielsweise über die „einsame matt-grüne Raupe auf dem Wald-Kohl, nebst derselben Verwandlung, und dem aus ihr herkommenden sehr schönen Papilion.“11 Doch nicht nur Schmetterlinge, sondern auch Raupen können dieses Urteil erfahren, wie die „dicke beson-ders schöne Spannen-Raupe, mit zwey denen Gems-Hörnern ähnlichen Hacken, und an-dern auf dem Rucken stehenden Zapfen, nebst ihrer Verwandlung.“12 Über sie heißt es:

„Wann sie nur erst halb ausgewachsen ist, hat sie lange noch das schöne Ansehen nicht, welche sie nachgehends erhält“. Ursächlich hierfür sei, dass sie „eine eben nicht gar ange-nehme, dunckle, aus Grau und Braun gemischte Farbe führet. Doch sind die zwey grösten Zapfen bereits oranien-gelb, von welchen bis an den Kopf ein brauner Strich gehet.“ Die

„Kleidung“ der ausgewachsenen Raupe sei dagegen „viel prächtiger“.13

Als schön gelten aufgrund ihrer Kolorierung auch die Felle verschiedener Tiere wie die von Füchsen, Mardern, Mäusen oder von Maulwürfen: „Diese Art [der sogenannte bunte oder gefleckte Maulwurf] besitzet eine Verschiedenheit von Farben, die selbe sehr wunderbar und dem Auge besonders angenehm machet.“14

In allen diesen Zitaten bezieht sich die positive Bewertung der häufig als schädlich be-stimmten Tiere auf ein Detail ihres Aussehens, nämlich auf ihre Kolorierung. Inwieweit die

9 Merian 1679-1683, S. 95.

10 Anonymus: Nachricht von den Getreyde-Raupen, in: Leipziger Sammlungen, Bd. 13 (1758), S. 909-924, 913; ähnlich bereits Günther 1725, S. 83.

11 Rösel von Rosenhof 1746, Der Tag-Vögel zweyte Classe, N. VIII. Die einsame matt-grüne Raupe..., S.

45-51, 45.

12 Ebd., Der Nacht-Vögel dritte Classe, N. X. Die dicke besonders schöne Spannen-Raupe..., S. 36-40, 36.

13 Ebd., S. 37; vgl. auch Günther 1725, S. 83. Als „schön“ bezeichnet BECHSTEIN die Puppe der Nonne.

(Bechstein 1805, S. 227.)

14 La Faille 1778, S. 25, vgl. auch S. 24, 28; zu den anderen genannten Tieren vgl. Anonymus 1728, S. 305;

Anonymus 1795c, 2. Teil, S. 50; Bechstein 1801, S. 971.

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Beurteilung als schön ausschließlich dieser Farbgebung geschuldet ist, muss dahingestellt bleiben. In der Technisch-Oekonomischen Enzyklopädie wird in ihr ein wichtiges, aber zusätzli-ches Moment gesehen:

„Die Farbe trägt zur Schönheit bei; allein sie ist nicht die Schönheit selbst, sondern sie erhebt nur die-selbe und ihre Formen, sie macht sie uns anschaulicher, so wie der Geschmack des Weines lieblicher wird durch dessen Farbe in einem durchsichtigen Glase, als aus der kostbarsten goldenen Schale ge-trunken.“15

Ausschlaggebend für die ästhetische Beurteilung sind aber nicht allein die Farben als sol-che, sondern auch ihre Einzigartigkeit: „Seine [des Schmetterlings] zarten Flügelchen sind mit den schönsten, reizendsten Farben, die keine künstliche Hand nachzuahmen vermag, bemahlt.“16 Die hier ausgedrückte Bewunderung mischt sich mit der Behauptung bezie-hungsweise dem Eingeständnis, dass der Mensch derartige Leistungen nicht vollbringen könne. Der Mensch wird damit nicht nur zu einem impliziten, das optische Aussehen nach individuellen Kriterien beurteilenden, sondern auch zu einem expliziten, auf dem Stand seines oder dem anderer Tiere Könnens basierenden Beurteilungsmaßstab. Insbesondere dieses zweite Kriterium wird häufig herangezogen, um die Fähigkeiten von Insekten zu bewerten:

„Wir bewundern den schnellen Lauf des Hasen und Eichhorns, und wollen nicht betrachten die Sprünge eines Flohes und die Kreuzsprünge der Heuschrekken, noch jene der Mükken .. welche trokkenes Fusses über das Wasser daher danzen; ... noch den horizontalen Lauf der Spinne von einer Wand zur andern, wenn sie eine Mükke verfolget, oder sonst ihr Nez ausspannet, und Sorgenfrei durch die Luft wandert.“17

„Wo findet man wohl bey den großen vierfüßigen schwimmenden und geflügelten Thieren, die er-staunlichen Kräfte, die bewundernswürdige Geschwindigkeit, und ein so erstaunliches Vermögen der Sinne, als bey den kleinsten Insecten? Eine Fliege, ... vor einen kleinen papiernen Schlitten gespannt, ziehet zehen bis zwanzig todte Fliegen fort. Wo ist aber ein Pferd, das zehen bis zwanzig todte Pferde auf einmal fortziehet? Welch ein Unterschied zeiget sich hier im Verhältnisse der Kräfte der Muskeln beyderley Thiere? ... Eine Raupe, die weder Knochen noch andere scharfe Waffen hat, bohret den-noch in Holz und wohnet in selbigem.“18

In beiden Zitaten werden die Anlagen von Insekten mit denjenigen von Säugetieren, Vö-geln und Fischen verglichen. Beide Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Veranla-gungen der Insekten denen anderer Tiere nicht nachstehen, diese sogar übertrumpften, wenn die Fähigkeiten im Verhältnis zur Körpergröße betrachtet werden. Ausschlaggebend für die positive Bewertung der Tiere ist ihre Leistungsfähigkeit, auf die aus Beobachtungen

15 Kruenitz 1773-1858, Stichwort „Schönheit“, Bd. 147 (1827), S. 649-696, 657.

16 Anonymus 1795a, S. 24.

17 Sulzer 1761, S. 10.

18 Müller 1774, S. 2.

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und aus Experimenten geschlossen wird. Wenngleich derartige Eigenschaften nicht immer eine solchermaßen explizite Würdigung erfahren, wie jenes wiederholt rezipierte Merkmal des Flohes, „200. mahl höher springen [zu] könne[n], als er selber groß ist“,19 wird deutlich, dass außergewöhnliche Merkmale und Kapazitäten Anerkennung erfahren. Da im frühen 18. Jahrhundert die Annahme verbreitet ist, dass Insekten nur über einen unvollkomme-nen20 Körperbau verfügen und sie deshalb anderen Tierklassen unterlegen sind, gelten ge-genteilige Erkenntnisse als erstaunlich:

„So will ich ihnen nur anzeigen was mir an selbigem Verwunderungswürdig zu seyn scheinet. ... Wie zart ist nicht sein Saugstachel durch welchen er, weil solcher hol ist, anderer Thiere Blut in sich ziehet, wie zart müssen nicht die Gefäse seyn, durch welche aus selbigem, die zur Nahrung und Fortpflan-zung gehörige Säffte zubereitet werden“.21

RÖSEL begeistert sich an der Feingliedrigkeit der Mundwerkzeuge und Gefäße des Flohes.

Die subtile Struktur von Insekten wird aber nicht nur bewundert, sondern auch der Bewer-tung von Insekten als unvollkommen und minderwertig entgegengesetzt.22

Neben den Zuschreibungen, schön zu sein, über außergewöhnliche Fähigkeiten sowie eine vollkommene Gestalt und ein vollkommenes Aussehen zu verfügen, wird auch das Verhal-ten von ‚Ungeziefer’ bewundert. Faszination begründet unter anderem die Art und Weise, in der Nester und Bauten angelegt sind. Diesbezüglich heißt es über Ameisen: „Wie orden-tlich und künsorden-tlich sie ihre wohnungen in der erden oder in faulen holtz bauen, ist nicht genugsam zu bewundern.“23 Und über Insekten allgemein wird gesagt, dass sie hierbei „ei-nen besondern angebor„ei-nen Kunsttrieb“24 besäßen. Ähnliches gelte für Biber: „Dieses Ge-bäude [der Biberbau] ist in Ansehung der Grösse dieser Thiere etwas erstaunenswürdiges, und die Festigkeit und Dauerhafftigkeit, mit welcher es aufgeführet wird, ist noch ausse-rordentlicher als die Grösse.“25 Und in den Hamsterbauten sei „alles auf das schönste ein-gerichtet, und jede Art [des Getreides] hat seinen besondern Platz.“26 In diesen Zitaten

19 Anonymus 1749-1751, Stichwort „Floh“, Bd. 1 (1749), S. 497f, 497.

20 Als unvollkommen gelten laut BÖRNER alle diejenigen Tiere, die im Verhältnis weniger Organe besitzen als die meisten anderen Tiere, deren Geschlecht nicht eindeutig zu bestimmen ist und die sich nicht durch die geschlechtliche Fortpflanzung vermehren. (Vgl. Börner 1742, S. 441f; so auch Krafft 1712, S. 1f. Vgl.

Kapitel 2.)

21 Rösel von Rosenhof 1749, Sammlung derer Mucken und Schnacken hiesiges Landes. Beschreibung des so bekannten als beschwerlichen Flohes..., S. 9-24, 24.

22 Vgl. Lesser 1740, S. 58; Börner 1742, S. 442ff; Günter, zitiert in: Zedler 1732-1754, Bd. 49 (1746), Stichwort „Ungeziefer“, Sp. 1489-1516, 1491.

23 Anonymus 1721, S. 33.

24 Bechstein 1818, S. 41.

25 Anonymus: XIII. Der künstliche und denen Holzungen schädliche Biber, in: Allgemeines Oeconomisches Forst-Magazin, Bd. 10 (1767), S. 297-302, 299.

26 Anonymus 1795c, Bd. 2, S. 37.

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werden die aus dem Nestbau abgeleiteten Eigenschaften der Tiere honoriert. Doch auch ihre Tätigkeit ruft Bewunderung hervor: So heißt es über die Motten: „Man muß ihren Fleiß bewundern, so bald man sie zu beobachten suchet“.27 Die Beobachtung, dass die In-sekten beständig in Bewegung sind, dass sie permanent „arbeiten“ – so beschreibt DE

RÉAUMUR die Verhaltensweisen der Motten – oder sie sich stetig, wie die Ameisen, gezielt bewegen, wird als Zeichen ihres Fleißes erklärt und deshalb mit Faszination zur Kenntnis genommen.

4.1.2 ‚Wunderbar und schädlich’: Disparate Eigenschaften von Ungeziefer Wenn Tiere innerhalb verschiedener Bezugsrahmen betrachtet werden, erfahren sie ver-schiedene Zuschreibungen. Die jeweiligen Unterscheidungslogiken werden jeweils unab-hängig voneinander angewendet. Bewunderung rufen deshalb nicht nur die Tiere hervor, die als nützlich oder unproblematisch gelten, sondern auch jene, die schädlich seien, wie beispielsweise der Biber. So wird in einem Beitrag „von derselben wunderbaren und schäd-lichen Beschäftigung“28 berichtet: Problematisch sei ihr Nahrungsverhalten, da die Biber Holz „zerbeissen“ und „entrinden“. Nicht negativ konnotiert wird demgegenüber das Fäl-len von Bäumen, es gehört vielmehr zu den Aktivitäten, die Faszination hervorrufen. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Faszination und Schadensvorwurf miteinander einhergehen, findet sich bei GLEDITSCH. Dieser listet 57 Arten von für Eichen schädlichem ‚Ungeziefer’

auf. Dazu gehört auch der „grosse Schielervogel“,29 der „Changeant“ beziehungsweise des-sen Raupe, die den Eichen schädlich sei. Sie ernähre sich „auf und von den Eichen- und Weidenblättern. Sie hat eine Haut als ein Chagrin, und ist schön grün“. Der Falter sei „ei-ner der schönsten in Deutschland“. Das Tier wird demnach als schön und schädlich zu-gleich angesehen.

Die von ‚Ungeziefer’ ausgehende Faszination wird nicht immer explizit thematisiert. Eine implizite Form der Faszination kommt aber in Ausführungen zum Ausdruck, in denen über Kinderspiele mit als schädlich charakterisierten Tierarten berichtet wird:

27 Réaumur, René Antoine Ferchault de: Historie der Motten, oder der Insecten, welche Wolle und Pelzwerk fressen, in: Hannoverische Gelehrte Anzeigen, Bd. 4 (1755), Sp. 811-852, 811.

28 Anonymus: XIII. Der künstliche und denen Holzungen schädliche Biber, in: Allgemeines Oeconomisches Forst-Magazin, Bd. 10 (1767), S. 297-302, 297.

29 Gleditsch 1774, S. 642.

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„Die Ringel-Raupe, so sich am Herbste auf Bäumen um junge Gewächse herum einschleimet und einleimet, welche die Kinder oftmahls im Winter in Gärten, oder im Frühlinge, wenn die Bäume abgeputzet werden, mit dem jungen Gewächse abbrechen, und zum Spielen in die Stuben nehmen, und sie Guckgucksringel heissen.“30

Was die Kinder zum Spielen mit den Raupen motiviert, wird nicht erläutert. Es wird aber vermutlich durch Bekämpfungsmaßnahmen ermöglicht, da es dann stattfinde, wenn Bäume

‚abgeputzet’, das heißt von Raupennester entfernt werden. Doch unabhängig davon, ob diese Verbindung nun prinzipiell vorliegt, verdeutlicht dieses Beispiel, dass diese Insekten nicht auf eine Schädlichkeit reduziert werden. Allerdings kann das Spiel nicht pauschal als Zeichen ihrer Wertschätzung interpretiert werden. Dem Zitat ist schließlich nicht zu ent-nehmen, auf welche Art dabei mit den Tieren verfahren wird. Dass hierbei – aus heutiger Perspektive – nicht immer schonend mit den Tieren verfahren wird, ist anderen Beschrei-bungen zu entnehmen. So wird beispielsweise erwähnt, dass Maikäfer an einer Schnur be-festigt werden, um sie dann im Kreis fliegen zu lassen.31 Vor diesem Hintergrund werden auch Kinder ermahnt beziehungsweise dazu aufgefordert, die Tiere nicht zu quälen.32 Die Beispiele zeigen, dass Tiere in verschiedenen Kontexturen thematisiert werden, ohne dass dieses als widersprüchlich empfunden wird. Die Beurteilung als schädlich (ökonomi-sche Kontextur) schließt die Möglichkeit nicht aus, ein Tier als schön (ästheti(ökonomi-sche Kontextur) zu betrachten.

4.1.3 ‚Es ist doch ein Vergnügen’: Die Faszination von Ungeziefer erklären Der Mensch schreibt den Tieren bestimmte Eigenschaften zu, er befindet aber mehr oder weniger bewusst darüber, ob ihn ein Tier fasziniert oder nicht. Wird beispielsweise ein Fal-ter als schön und die Ameise als fleißig bezeichnet, so wird diese Beurteilung häufig durch überindividuelle Prämissen beeinflusst. Sie wird somit nicht nur durch verschiedene Eigen-schaften begründet, sondern variiert ebenfalls in Abhängigkeit von den zugrunde liegenden Erkenntnisinteressen oder Zielsetzungen des Betrachters. Faszination ist damit nicht gleich Faszination:

30 Leopoldt 1750, S. 74; vgl. auch Rösel von Rosenhof 1749, Der Erd-Kefer erste Classe, N. 1. Der allenthalben bekannte Mayen-Kefer..., S. 1-8; Sammlung derer Heuschrecken und Grillen hiesiges Landes, N. V. Der geflügelte Maul-Wurf..., S. 89-104, 95.

31 Vgl. Müller 1774, S. 81; bezüglich von Grillen vgl. Anonymus 1795c, Bd. 1, S. 33.

32 Vgl. Kruenitz 1773-1858, Bd. 86 (1802), Stichwort „Maikäfer“, S. 231-245, 242. Vgl. auch Abschnitt 6.2.1.

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Bis zur Mitte des Jahrhunderts stellt die Charakterisierung eines Tieres als faszinierend häu-fig mehr als nur eine positive ästhetische Beurteilung dieses Tieres dar. Denn es wird zu-meist davon ausgegangen, dass sich diese Merkmale dem göttlichen Einfluss verdanken.

Somit gilt die geäußerte Wertschätzung nicht allein dem betrachteten Tier, sondern vor allem Gott: Ein zentrales Erkenntnisinteresse bei der Untersuchung von Tieren besteht vor allem darin, ihre Merkmale ursächlich zu ergründen. Indem die Studien aber damit begrün-det werden, dass sie Aufschluss über die Größe Gottes geben, nehmen sie das Resultat der Untersuchung vorweg. Das Ergebnis ist zugleich Grund des Ergebnisses; das Vergnügen ist somit vor allem religiös motiviert. Hierdurch zeichnen sich vor allem die Werke aus, in denen die Welt als Schöpfung Gottes gepriesen wird.33

Die seit dem 17. Jahrhundert vertretene Physikotheologie charakterisiert, dass sie die Natur als zweite Offenbarung Gottes begreift, also die Ei-genschaften Gottes in der Natur verkörpert sieht.34 Die-ser Zusammenhang wird nicht nur konstatiert, sondern er wird zugleich dazu verwendet, die Beschäftigung insbesonde-re mit Insekten zu legitimieinsbesonde-ren und ihre Betrachtung als min-derwertig zu revidieren. So weist LESSER die Ansicht „gelehrte[r] Leute“ zurück, wonach die Beobachtung dieser Tiere

„eine Anzeige eines seichten und kleinen Geistes“ darstelle. Sie besäßen vielmehr eindrück-liche Merkmale und seien es deshalb wert, untersucht zu werden:

„Denn diese bedencken nicht c), daß das kleineste Thierlein für ein Wunderwerck bestehen könne, und mit solchen Eigenschafften proportionirten Gliedern begabet sey, die nichts anders, als eine un-endliche Macht und Weisheit ihme einzudrücken vermögend gewesen. Die kleineste Käse-Mülbe, der verächtlichste Wurm ist von dem Schöpffer mit einer, so unbegreifflichen Kunst verfertiget, daß we-der we-der grösseste Monarch we-dergleichen zuwege bringen, noch we-der sinnreichste Künstler d) we-dergleichen

33 Vgl. Merian 1679-1683, Vorrede, o. S.; Acxtelmeier 1715, Vor-Ansprach, o. S.

34 Vgl. u. a. Krolzik 1988; Groh/Groh 1991; Glacken 1993, S. 375-428, 504-550; Dirlinger 1999.

Abb. 7: Titelblatt, LESSER 1740.

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nachahmen kan. Es hat der grosse GOtt alle und jegliche Geschöpffe, mithin auch die Insecten, de-nen vernünfftigen Menschen als Spiegel und und [sic] Zeugen seiner ude-nendlichen Macht und uner-forschlichen Weisheit zu vernünfftiger Betrachtung vorgestellet.“35

Die Tiere, so gibt sich LESSER überzeugt, seien in ihrem Bau „als ein erstaunens-würdiges Werck“36 zu betrachten. Dieses Staunen nimmt seinen Ausgangspunkt zwar bei den Tieren, doch werden sie ausschließlich als Objekte göttlichen Schaffens, als Verkörperung göttli-cher Eigenschaften betrachtet.37 Die Bewunderung gilt Gott und dessen Vermögen, auf derartig elaborierte Art und Weise Tiere erschaffen zu haben. Für LESSER ist das Tier somit explizit ein Mittel zum Zweck der Gotteserkenntnis. Auch spätere Autoren begründen ihre Studien und das Vergnügen daran über diese religiöse Beziehung. So auch der Autor, der sich mit Kreuzspinnen beschäftigt. Sein besonderes Augenmerk – seine „Neugier“38 – gelte der Art und Weise, wie Spinnen den „ersten Grundfaden“ zögen. Derartige Untersuchun-gen stellten einen „anUntersuchun-genehmen Zeitvertreib“ dar, ermöglichten aber zugleich religiöse

Die Tiere, so gibt sich LESSER überzeugt, seien in ihrem Bau „als ein erstaunens-würdiges Werck“36 zu betrachten. Dieses Staunen nimmt seinen Ausgangspunkt zwar bei den Tieren, doch werden sie ausschließlich als Objekte göttlichen Schaffens, als Verkörperung göttli-cher Eigenschaften betrachtet.37 Die Bewunderung gilt Gott und dessen Vermögen, auf derartig elaborierte Art und Weise Tiere erschaffen zu haben. Für LESSER ist das Tier somit explizit ein Mittel zum Zweck der Gotteserkenntnis. Auch spätere Autoren begründen ihre Studien und das Vergnügen daran über diese religiöse Beziehung. So auch der Autor, der sich mit Kreuzspinnen beschäftigt. Sein besonderes Augenmerk – seine „Neugier“38 – gelte der Art und Weise, wie Spinnen den „ersten Grundfaden“ zögen. Derartige Untersuchun-gen stellten einen „anUntersuchun-genehmen Zeitvertreib“ dar, ermöglichten aber zugleich religiöse

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