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Psychiatrie ist Ende des 19. Jahrhunderts eine moderne Wissenschaft und ein weites Forschungsfeld, auf dem noch viel zu tun ist. Die Nervenheilkunde befindet sich in ei-ner expansiven Phase. Die Patienten werden ständig mehr, und neue Krankenhäuser werden gebaut, die von Mauern und Bretterzäunen umgeben sind, deren Türen ver-schlossen sind und die über Zellen, Isolationszimmer, Überwachungssäle sowie fixie-rende Kleidungsstücke wie Zwangsjacken und Spannriemen verfügen. Es sind große In-stitutionen, die als fortschrittsfreundlich, organisiert und hygienisch betrachtet werden.

Sie sind von Hoffnungen auf eine gute, humane und effektive Pflege begleitet.33 Das Interesse an den Rätseln der Gesundheit und den Mysterien der Psyche teilt Her-man mit seiner geliebten Thyra. Sie arbeitet beim berühmtesten Arzt des Landes, „Wun-derdoktor“ Ernst Westerlund. Herman und Thyra hatten einander also viel über Ner-venprobleme und psychische Krankheiten zu erzählen. Doktor Westerlund ist vor allem Nervenarzt und behandelt insbesondere neurotische Patienten mit großem Erfolg. Er ist ein guter Kliniker mit einem scharfen Blick für Menschen. Oft gelingt es ihm, ausge-rechnet jenen zu helfen, an denen andere Ärzte gescheitert sind. Die Patienten kommen aus dem ganzen Land, aus allen nordischen Ländern, ja, aus der ganzen Welt in seine Praxis nach Enköping. Er kann 300 Patienten gleichzeitig in Behandlung haben, die bei Familien eingemietet oder in verschiedenen Einrichtungen in der Stadt untergebracht werden. Und einer solchen Einrichtung steht Thyra vor.

Als Krankenpflegerin achtet Thyra darauf, dass die Patienten auf die Minute und das Milligramm genau den präzisen Anweisungen von Doktor Westerlund zu Diäten, Spa-ziergängen und Ruhestunden Folge leisten. Die Kuren sind streng, aber die Behandlung baut auf Freiwilligkeit und vor allem auf dem Entstehen eines starken Vertrauens der Patienten darauf, dass es Besserung geben wird. Darauf, dass ihnen die strikten Anwei-sungen des Doktors, wie Ruhe und physische Arbeit auf den Tag zu verteilen sind, hel-fen werden, und er verlangt ihnen im Hinblick auf ihre Mitwirkung tatsächlich Einiges ab. Doktor Westerlund scheint die Patienten dazu zu bringen, ihre Beschwerden auf eine andere Weise zu erleben, so dass sie ihre alten Muster durchbrechen können. Thyra berichtet Herman davon, wie Doktor Westerlund sich mit Wärme und Zuversicht Pati-enten annimmt, die andere als eingebildete Kranke abtun, und wie es ihm gelingt, ihnen wirklich zu helfen und ihre Leiden ernst zu nehmen.34

Alles, was Du über die Anstalt schreibst, hat mich sehr interessiert. Es scheint, dass meine Thyra ganz selbstständig eine richtige Vorsteherin werden wird, und das ist ebenso schön wie lehrreich. Dass Du Doktor Westerlund, den Mann mit dem klaren Blick und dem reichen, weichen Herzen, mögen würdest, ist ja natürlich, da Entsprechendes auch in Deiner eigenen Brust vorhanden ist. Es mag vielleicht scheinen, dass Ärzte im

Allgemei-Aus Thyras Sicht

nen nicht sowohl medizinisches Wissen als auch dieses warme Mitgefühl für Linderung besitzen können. Oft ist es wohl so, dass der Verstand sozusagen überhand nimmt; es gilt zu diagnostizieren, seinen Scharfsinn zu beweisen, während das warme Mitgefühl ver-schwindet. Bei vielen ist das so. Wer von beidem besitzt, der wird, so wie Dein Doktor in Enköping, über anderen stehen. Fehlt uns Ärzten etwas an Herzlichkeit, so wird es, wie mir scheint, in reichem Maße von Euch Sophienschwestern ersetzt. Ihr vervollständigt und zeigt wahrhafte samaritische Barmherzigkeit. Ist es nicht so, Thyra?35

Thyra und Herman haben die große Liebe gefunden. Sie wohnen in verschiedenen Städten und schreiben einander während ihrer Verlobungszeit viele und lange Briefe. In ihren Zukunftsplänen scheint manchmal auch der Gedanke durch, zusammen zu arbei-ten, in einer Praxis, wo Thyra an Hermans Seite ist und sich um die Patienten kümmert.

Am 26. Juni 1900 heiraten sie, in diesem Jahr werden sie beide 32. Die Hochzeit findet in Thyras Heimatstadt Lidköping statt. Die Hochzeitsreise geht nach Finnland und auf die estländische Insel Runö. Es ist auch eine Forschungsreise, denn Herman arbeitet an seiner Dissertation über eine ungewöhnliche Form der Epilepsie, die es nur in der süd-schwedischen Provinz Blekinge und an einigen Orten in Estland und Finnland zu geben scheint. Herman schreibt seine Arbeit in Lund, und es war sein Professor dort, Svante Ödman, dem diese besondere Form der Epilepsie aufgefallen ist, deren Verbreitung er näher untersuchen will.36

Das Familienglück stellt sich schnell ein. Thyras und Hermans erstes Kind, Sohn Gun-nar, wird bereits 1901 geboren, und zwei Jahre später, am 22. Februar 1903, kommt sein kleiner Bruder Sune zur Welt.

Sobald Herman Lundborg die Arbeit fertiggestellt hat, verlässt er Lund und disputiert am 22. Mai 1901 im Alter von 33 Jahren am Karolinischen Institut. Dann ist es einfach, eine Anstellung als Psychiater zu finden. Im selben Jahr tritt er eine Stelle als Arzt am Krankenhaus „Upsala hospital och asyl“, der ersten psychiatrischen Universitätsklinik Schwedens, an und zieht mit seiner Familie in eine Arztwohnung auf dem Kranken-hausgelände in Ulleråker. In der Nervenklinik werden Patienten aus den Verwaltungs-bezirken Uppsala und Stockholm behandelt, und hier befindet sich auch eine Unter-bringungsanstalt für chronisch psychisch Kranke mit 800 Pflegeplätzen.

Für ernsthafte Fälle psychischer Erkrankung gibt es nicht viel Hoffnung auf Linderung oder Heilung. Aber Lundborg hat trotzdem den Willen zu Veränderung und Verbes-serung. Und in den Artikeln, die er während seiner frühen Jahre an dem Krankenhaus schreibt, scheint man ihn sich räuspern und die Kehle lösen zu hören. Wenn er sich eines Themas annimmt, ist der Ton gern etwas eindringlicher: Handeln ist erforderlich.

Etwas muss gerettet werden, etwas muss getan werden – jetzt. Herman Lundborg ist der, der sieht und versteht, was nötig ist.

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)

Die Allgemeinheit muss z. B. einsehen, dass Nervenheilkunde eine edle, erhabene und schwierige Kunst ist. Sie stellt an jene, die sie ausüben, hohe Anforderungen. Der Schlüssel zu einer besseren Pflege liegt bei den Pflegerinnen des Krankenhauses. Von ihnen, die sich täglich um psychisch Kranke kümmern, wird Würde, Ruhe und Geduld gefordert, mit Taktgefühl und wahrer Menschlichkeit ohne Anzeichen von Weichlich-keit auftreten zu können, und vor allem keine Angst zu zeigen. Gute Pflegerinnen zu re-krutieren, die dieser Aufgabe gewachsen sind, ist gar zu schwierig, denn es gibt so viele Vorurteile, die dazu führen, dass die meisten sich nicht trauen, sich um eine Anstellung am Krankenhaus zu bewerben. Es genügt nicht, eine Anstalt nach der anderen zu bauen, man muss auch das Ansehen der Pflege erhöhen, meint Lundborg.

Nachdem er eine Studienreise nach Holland unternommen hat, berichtet er, dass man dem Pflegepersonal dort eine gediegene Ausbildung zugute kommen lasse und kost-spielige Schwesternheime mit eigenen Speisesälen im Anschluss an die Wohnungen errichte, so dass das Personal nicht mit den Patienten essen brauche. Auch in Schweden müsse der Staat sich darum kümmern, die Stellung und Bedingungen für die Schwes-tern zu verbessern, schreibt Lundborg in seinem Reisebericht.37 Dieser Bericht wird tatsächlich dazu führen, dass am Krankenhaus Uppsala nach holländischem Vorbild Unterrichtskurse für das Personal eingeführt werden.38

Die Arbeitsbedingungen der Pflegerinnen fesseln ihn, aber auch die weiblichen Patien-ten ziehen sein Interesse auf sich. Er erstellt eine sozialmedizinische Studie, indem er die Krankheitsgeschichte aller 325 weiblichen Patienten durchgeht. Unter ihnen sind junge Lehrerinnen, und er fragt sich, ob vielleicht nicht nur ihre Erbanlagen, sondern auch ihre Berufswahl für ihre psychische Erkrankung verantwortlich ist. Viele von ih-nen scheiih-nen begabt und selbständig zu sein. Sie stammen aus den unteren Schichten, wollten mit ihrem Leben aber etwas anderes anfangen, als nur Dienstmädchen zu wer-den. Die Freiheit hat sie gelockt, die Möglichkeit, ein eigenes Zuhause zu haben und in ihrer Freizeit Bücher lesen zu können. Aber sie leiden unter nervlicher Überlastung, die bei einigen von ihnen in unheilbare psychische Krankheit übergegangen ist. Sie seien ganz einfach von Stress und Überanstrengung krank geworden, berichtet er in seiner Studie „Über geisteskranke Lehrerinnen nebst einem Überblick über die Stellung von Volksschullehrerinnen in Schweden“. Lundborg zieht die Schlussfolgerung, dass die Verantwortung bei der Gesellschaft liege. Die Ausbildungszeit der Lehrerinnen sei all-zu kurz, meist nur ein Jahr, und in dieser Zeit sei all-zu viel all-zu lernen. Die Arbeitstage in der Schule seien viel zu lang, und es gebe zu wenig Pausen. Lundborg fügt sogar ihren Stundenplan bei und schlägt eine neue und bessere Organisation der Lehrerinnenaus-bildung vor. Vielleicht weiß er etwas mehr über die Lebenswirklichkeit der Lehrerinnen als er in seinem Artikel vorträgt. Er hat ja drei Schwestern, die ebenfalls ausgebildete Lehrerinnen sind.

Aus Thyras Sicht

Genau wie die Krankenschwestern brauchen auch die Lehrerinnen bessere Bedingun-gen. Wenn nichts anderes hilft, dann sollte ihnen die ärztliche Wissenschaft mit Ernäh-rungshinweisen helfen können. Vielleicht würde die psychische Gesundheit der jungen Frauen besser, wenn sie weniger Kuchen äßen, schreibt Lundborg:

Wenn sie raus aufs Land kommen, werden sie gezwungen, sich mit ihrem Lohn von 300 Kronen für Essen und Wohnung selbst zu versorgen. Müde nach der Arbeit in der Schule macht sich manche Lehrerin nicht die Mühe, sich die Nahrung zuzubereiten, die sie bräuchte. Die Hausarbeit wird mehr oder minder vernachlässigt. Kaffee und Ge-bäck werden oft zur vorwiegenden Nahrung; das schmeckt gut, ist schnell zubereitet und ziemlich billig. Bald stellen sich Verdauungsstörungen, Blutmangel, Schlaflosigkeit und Nervosität ein, die dann zu psychischer Krankheit, Tuberkulose u. a. m. führen kön-nen.39

Der Hinweis auf den Kuchen kommt unerwartet. Aber Lundborgs Pathos, das Gewich-tige und Grandiose in seinem Ton erkennt man dennoch wieder. Es ist der Eifer eines Reformators und Weltverbesserers. Noch keine 35 Jahre alt, hat er das Thema, das ihn berühmt machen soll, aber noch nicht gefunden. In einem anderen Artikel über die Schädlichkeit des Alkohols berichtet er davon, dass schwere Gemütsbewegungen psy-chische Krankheit auslösen könnten. Eine schwer nervenkranke Frau, die er als Pati-entin gehabt hat, sei aus Sorge über das lasterhafte Leben des Sohnes psychisch krank geworden.40 Die Mutter eines Alkoholikers könne sich so sehr sorgen, dass sie psychisch erkranke. Der Alkoholabhängige sei oft für seine nächste Umgebung gefährlich, werde streitlustig und aggressiv, schreibt er und fährt fort: „Der moralische Verfall, der den Alkoholiker mehr oder minder auszeichnet, verwandelt sein Zuhause in eine reine Höl-le. Seine Frau und die unschuldigen Kinder müssen oft jahrelang grenzenlos leiden.“41 Die Trunksucht ist also ein wichtiges Gebiet, auf dem gesellschaftliche Verbesserungen passieren müssten. „Bedenke jede Frau sich sorgfältig, bevor sie sich in die Gewalt eines Säufers begibt und seine Frau wird“,42 schreibt Lundborg.

Sieben Jahre lang arbeitet Lundborg als Arzt am psychiatrischen Krankenhaus in Upp-sala.43 Thyra und er lernen sich näher kennen, sie hat ihre eigene Arbeit aufgegeben und wohnt mit Herman und den beiden Söhnen in der Arztwohnung auf dem Klinikgelän-de. Als verheiratete Frau ist sie der geltenden Gesetzgebung zufolge außerdem unmün-dig geworden. Nachdem sie jahrelang ein eigenes Einkommen gehabt und ihr eigenes Leben geführt hatte, ist sie nun der Vormundschaft ihres Mannes unterstellt worden.

Aber man ahnt, dass Thyra für ihn eine wichtige und engagierte Gesprächspartnerin ist, wenn Herman diese frühen Artikel mit sozialem Bezug schreibt, in denen er häufig gerade Frauen, Ehefrauen von Alkoholikern, berufstätigen Krankenpflegerinnen und Lehrerinnen und ihren schweren, oft vergessenen Lebensumständen seine Aufmerk-samkeit schenkt.

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)

Gelegentlich scheint man Lundborg selbst in seinen Texten seufzen zu hören. Viele, denen er begegnet, finden, dass es ein undankbares Los sei, als Arzt in der Psychiatrie zu arbeiten. Verglichen damit, z. B. als Chirurg mit dem Operationsmesser alles in Ord-nung bringen zu können. Ein Arzt für die psychisch Kranken kann so wenig ausrich-ten, monatelang Heilungsversuche unternehmen, ohne eine erkennbare Verbesserung herbeizuführen. Für den, der wirklich etwas leisten will, ist die Psychiatrie daher eine schwere Wegwahl. Gibt es Hoffnung auf Heilung und Besserung?

Nach einigen Jahren der Arbeit an dem Krankenhaus erhält Lundborgs Suche nach möglichen Maßnahmen und Verbesserungen eine neue Ausrichtung. Die soziale Per-spektive weicht, und seine Gedanken beginnen nun immer mehr, um die Vererbung zu kreisen.