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Anfang der 1890er Jahre hört Herman Lundborg mit Begeisterung die Vorlesungen von Anatomieprofessor Gustaf Retzius. Wenn irgendjemand die Skelette und Schädel in der anatomischen Sammlung des Karolinischen Instituts in neuem Licht erscheinen lassen kann, dann ist er es. Retzius ist der bekannteste Rassenforscher Schwedens und forscht u. a. über die Schädelformen unterschiedlicher Rassen.15 Er hat auch ein besonderes In-teresse an Gehirn und Nervensystem und kann von Untersuchungen an menschlichen Gehirnen aus verschiedenen Teilen der Welt berichten. In den USA hat man die Ge-hirne von Indianern mit denen von Nachfahren afrikanischer Sklaven verglichen, aber keine besonders interessanten Abweichungen entdeckt, erklärt er.

Nun ist es zwar möglich, dass das Studium der Rassengehirne zu keinen grossen Ergeb-nissen führen wird. Die wenigen bisher genau durchgeführten Untersuchungen solcher Gehirne sind in dieser Hinsicht nicht besonders ermuthigend. […] jedenfalls ist es eine Pflicht der heutigen Wissenschaft, ein so bedeutungsvolles Gebiet ernsthaft durchzuar-beiten […].16

Retzius selbst hatte Gelegenheit, das Gehirn des 42-jährigen „Lappländers“ Nils Lars-son aus Arvidsjaur zu untersuchen. Gehirne von „Lappen“17 sind ansonsten schwer zu bekommen:

Wegen der Entlegenheit des schwedischen Lapplands von unserer Hauptstadt kommen Individuen dieses merkwürdigen Nomadenvolkes nur selten hierher. Ausserordentlich selten stirbt deshalb ein Lappländer in den Stockholmer Krankenhäusern. Die Lapp-länder sind friedliche Leute; grosse Bösewichter sind unter ihnen sehr selten. Darum kommen lappische Individuen auch nur äusserst sparsam in den hiesigen Strafanstalten vor. Die bisweilen vorhandenen sind gewöhnlich Rennthierdiebe, welche nach beendigter Strafzeit wieder losgelassen werden.

Am 31. October 1888 starb indessen im Gefängnis Langholmen bei Stockholm ein Lappländer, welcher zum fünften Mal wegen Diebstahl bestraft worden war. Seine Lei-che wurde, den Verordnungen gemäss, dem anatomisLei-chen Secirsaal des CarolinisLei-chen Institutes überlassen.18

Um das Gehirn zu konservieren, wurde eine 93-prozentige Jodalkohollösung in die Blutgefäße gespritzt, berichtet Retzius.

Eine Stunde danach wurde das Schädeldach vorsichtig abgesägt. Es zeigte sich dabei, dass das somit in situ injicirte Gehirn sehr schön erhärtet worden war und gleich unter Beibehaltung der natürlichen Gestalt herausgenommen werden konnte. […]

Die Rassenforscher

Aus dieser Beschreibung, in Verbindung mit den beigefügten Abbildungen geht nun her-vor, dass dieses Gehirn eines echten Lappländers im Ganzen die typische Gestalt eines brachycephalen [kurzschädeligen] Gehirns besitzt, sonst aber, in Betreff der Anord-nung der Furchen und Windungen, keine ethnisch charakteristische [!] Eigenthüm-lichkeiten aufzuweisen hat. […]

In Betreff des Gewichtes des Gehirns ist dieses im Verhältniss zu der geringen Körperlän-ge des Mannes recht bedeutend.19

Retzius verglich Nils Larssons Hirnvolumen mit dem der in der anatomischen Samm-lung vorhandenen samischen Schädel, indem er die Schädel mit Bleikugeln füllte. Auf diese Weise konnte er berechnen, dass sie alle ein Gehirn mit einem Gewicht von etwa 1.400 Gramm enthalten hatten:

Im Allgemeinen scheint hiernach das Gewicht der Lappländergehirne nicht gering zu sein, besondere wenn man bedenkt, dass dieses Volk in der Regel eine geringe Körperlän-ge hat. […] Das Gewicht (ca. 1460 Gramm) des hier Körperlän-genauer beschriebenen Gehirns des 42-jährigen Nils Larsson aus Arvidsjaur ist deshalb nicht als eine besondere und sel-tene Ausnahme zu betrachten.20

Die meisten „Lappenschädel“ des Karolinischen Instituts waren von Gustaf Retzius’

Vater, Professor Anders Retzius, angeschafft worden. Sie stellten einen besonderen und einzigartigen Teil der wissenschaftlichen Sammlung dar, denn diese Schädel ermöglich-ten es dem Karolinischen Institut, eine besondere Art der Rassenforschung zu betrei-ben.

Überall, wo Ärzte ausgebildet wurden, gab es anatomische Sammlungen, denn die wurden im Unterricht verwendet. Die Sammlung des Karolinischen Instituts war zum größten Teil aus den sterblichen Überresten von Schweden und in gewissem Umfang Finnen angelegt worden. Dabei handelte es sich um massenweise Körper von Gefan-genen und Patienten, die in Gefängnissen und Anstalten der Gegend um Stockholm gestorben waren. Mit Sámi war es hingegen schwieriger, und daher waren die „Lappen-schädel“ – 22 an der Zahl – für die Wissenschaft so besonders interessant. Keine andere anatomische Sammlung in der ganzen Welt besaß so viele davon.

Anders Retzius war mit seiner Rassenforschung international berühmt geworden, und diese Forschung hatte er u. a. gerade anhand dieser Schädel betrieben, indem er sie mit Hunderten von anderen verschiedener Provenienz verglich, die in den Regalen des KI lagerten. Er hatte sie dazu benutzt, die Menschheit nach der Kopfform in Rassen ein-zuteilen.21 An die „Lappenschädel“ war er während der dreißig Jahre, in denen er Rek-tor des Instituts war, auf verschiedenen Wegen gekommen.22 Einige bekam er von be-freundeten Wissenschaftlern, die auf Expeditionen im Norden gewesen waren und ihm dabei hatten behilflich sein wollen, das Rätsel der menschlichen Rassen zu lösen. Der

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)

Lundenser Professor Johan Wilhelm Zetterstedt hatte sich aufgemacht, um Insekten zu sammeln, hatte aber auch die sterblichen Überreste eines gewissen „Butter-Thomas“, Tomas Ersson Njajta, der 1827 nur 36-jährig in Sorsele gestorben war, mitgebracht.23 Viele Zugänge stammten von dem Provinzialarzt Doktor J. A. Lindström. Der kam oft an Körper heran, als er während der 1840er Jahre in der nordschwedischen Provinz Västerbotten rechtsmedizinische Obduktionen durchführte. Lindström übergab ein Mädchen aus Vilhelmina, das im Alter von nur zwei Jahren gestorben war, einen 80-Jäh-rigen aus Arvidsjaur in der Pite-Lappmark sowie die Schädel eines Mannes aus Skellef-teå, eines Mannes aus Fredrika sowie eines Mannes und einer Frau aus Lycksele.

Einige der Schüler von Anders Retzius wurden Provinzialärzte in den nördlichsten Ge-genden Schwedens. Für den geachteten Professor in Stockholm ließen sie in Lappland Gräber öffnen und Skelette herausnehmen, um sie ins Karolinische Institut zu schicken.

Auch andere waren dabei behilflich, darunter der Pfarrer Lars Levi Læstadius. Dies auf einem Friedhof in Mittelschweden zu tun – eine kürzlich begrabene Person zu exhu-mieren, um an das Skelett zu kommen – wäre wohl undenkbar gewesen. Aber bei Sámi war das etwas anderes.

Schädel und Skelette aus unbekannten Gegenden kamen in die aufgeklärten Salons der Wissenschaft, damit man mit Hilfe der Schädelform zeigen konnte, dass die Menschen, die dort draußen lebten, von anderer Art waren. Sie hatten eine andere Kopfform. Aber im Oktober 1892 nahm die Forschung an den „Lappenschädeln“ ein abruptes Ende.

Da wurden sie alle zusammen bei einem Brand in der anatomischen Sammlung zer-stört.24 Nun musste eine neue Sammlung aufgebaut werden, denn die Wissenschaftler und Lehranstalten brauchten eine solche ja. Eine vergleichbare Kollektion von „Lap-penschädeln“ wiederanzulegen, ist jedoch nie mehr gelungen.

Am 16. Februar 1895 wird Herman Lundborg Kandidat der Medizin am Karolinischen Institut. Im Sommer schreibt er dann einen Brief an den Nestor Gustaf Retzius, ohne diesen eigentlich zu kennen. Lundborg ist ein unternehmungsfreudiger 27-Jähriger, der den Professor vor der Wahl seines zukünftigen Weges als Arzt um Rat bittet. Er erkun-digt sich wegen einer eventuellen medizinischen Ausbildung im Ausland:

Bezug nehmend auf Herrn Professors große Erfahrungen und Einblicke in die Verhält-nisse an europäischen und amerikanischen Universitäten ersuche ich Sie ergebenst um einige Auskünfte.

Mit Freude erinnere ich mich an die Zeit, in der ich als junger Mediziner Ihren Vorle-sungen am Karolinischen Institut folgen konnte, und ich sage – ohne mich der Schmei-chelei tadeln lassen zu müssen –, dass die Stunden, in denen wir jungen Leute Sie, Herr Professor, mit Enthusiasmus ihre Wissenschaft vortragen hörten, für uns unvergesslich waren.25

Die Rassenforscher

Er berichtet, dass er im Sommer zuvor, im Jahre 1894, zwei Monate lang in London ei-nen Auftrag als Mentor eines schwedischen Jungen gehabt habe. Während des Herbstes hat er als Hauslehrer bei einer Familie in Stockholm gewohnt. Durch deren Empfehlung hat er dann im Frühjahr 1895 an der Universitätsklinik in Lund Dienst tun können und plant nun für den kommenden Herbst, die Arbeit im Krankenhaus fortzusetzen. Er ist sich jedoch unsicher, welchen Weg er danach einschlagen soll:

Ich sehne mich hinaus und weg aus Europa, vorher aber möchte ich mein Arztexamen ablegen […]. Glauben Herr Professor, dass ich möglicherweise in Schottland, in der Schweiz oder woanders in kürzerer Zeit einen Grad erwerben könnte, ohne dafür den Standpunkt des wissenschaftlich gebildeten Arztes aufgeben zu müssen? […] Wenn ich nur eine medizinische Abschlussprüfung abgelegt habe, steht mir ja die ganze Welt offen.

In der Hoffnung, dass Herr Professor mir die Kühnheit verzeihen, Ihre sehr beanspruch-te Zeit strapaziert zu haben, dankt hochachtungsvoll

Herman Lundborg Med. Kand.26

Retzius und Lundborg werden nie enge Freunde. Gustaf Retzius ist sechsundzwanzig Jahre älter, er gehört einer anderen Generation an und nähert sich dem Pensionsalter, als Lundborgs wissenschaftliche Karriere beginnt. Allerdings freundet sich Lundborg mit Retzius’ zwölf Jahre jüngerem Kooperationspartner in der Rassenforschung, dem Pro-fessor für Anatomie in Lund Carl Magnus Fürst, an. Gemeinsam sind Retzius und Fürst dabei, eine große Rassenuntersuchung des schwedischen Volkes durchzuführen. Sie lassen Messungen an nicht weniger als 45.000 Wehrpflichtigen vornehmen, zwei Jahr-gänge von schwedischen Rekruten, die im Zusammenhang mit ihrer Musterung in den Sommern 1897 und 1898 untersucht werden. Als Lundborg Fürst in Lund trifft, wird er sicher von dieser eigenartigen Arbeit hören. Es handelt sich um eine bahnbrechen-de Studie, die in Art und Umfang ihresgleichen in bahnbrechen-der Welt nicht hat. Vielleicht erhält Lundborg hier auch Einblicke in die statistische Bearbeitung, wenn Rechenhelfer die Zehntausende von Formularen mit den Körpermaßen der Männer (Länge, Klafterbreite, Armlänge, „Sitzhöhe“ und Beinlänge), Länge und Breite des Schädels, Gesichtsform so-wie den Farben von Haaren und Augen bearbeiten. Fürst und Retzius werden diese Wer-te vergleichen und eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage suchen, wo das schwe-dische Volk am reinsten ist. Sobald die Untersuchungsergebnisse vorliegen – sie werden 1902 publiziert –, wird ihre Schlussfolgerung lauten, dass Schweden ein homogenes und im Großen und Ganzen reinrassiges Land sei: „Die Schweden dürften tatsächlich die vergleichsweise reinsten Reste der alten germanischen Völker darstellen und bilden noch heute in anthropologischer Hinsicht ein erstaunlich homogenes Volk.“27

Es ist eine wunderliche Vorstellungswelt. Diese Wissenschaft wird an Universitäten betrieben und ist während der Jahre, in denen Lundborg sich als Wissenschaftler

qua-Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)

lifiziert, hochgeachtet und renommiert. Man zieht scharfe Grenzen zwischen verschie-denen Menschen – z. B. zwischen Schweden, Finnen und Sámi – und behauptet, dass sie verschiedenen „Rassen“ angehörten. Letztere beiden gelten als nicht-europäischen, fremden Typs – sie hätten Kurzschädel –, während Schweden der „nordischen Rasse“

angehörten und u. a. anhand ihrer Schädelform erkennbar seien – sie seien langschäde-lig.

Die These der Rassenforscher lautet, dass sich die Schweden, obwohl Finnen und Sámi immer dort gelebt haben, nie mit ihnen gemischt hätten. Die Kurzschädel seien sowohl miteinander als auch mit schwedischem, „arischem“ Blut vermischt worden. Die Schwe-den aber seien nicht in größerem Umfang davon beeinflusst worSchwe-den, dass Finnen und Sámi in ihrer Nähe lebten. Schweden sei also das rassisch reinste germanische Land der Welt, obwohl es immer – und gerade hier – Völker gegeben hat, die die Rassenforscher nicht einmal als Europäer betrachten können, da ihre Sprachen nicht den anderen in Europa ähnelten. Sie sprechen Finnisch und Samisch, welches keine indoeuropäischen Sprachen sind, sondern der finno-ugrischen Sprachfamilie angehören, was die Forscher zu der Annahme bringt, dass sie eher mit den Mongolen verwandt seien. Es gibt also gerade in Schweden vieles, das sich für Rassenforscher interessant ausnimmt.

In der anatomischen Sammlung in Lund, die Fürst verwaltet, gibt es mindestens einen

„Lappenschädel“. Er trägt auf einem Blech quer über die Stirn eine deutliche Aufschrift:

„Lappenmädchen Maria“ steht dort, und ein Nachname, geboren in der Lycksele-Lapp-mark. Maria war Patientin im Lundenser Krankenhaus gewesen, und als sie starb, wurde ihr Körper verwertet. Lundborg erhielt durch seine Arbeit als Gehilfe in dem Kran-kenhaus während seiner wissenschaftlichen Ausbildung vermutlich Einblicke, was mit gewissen Patienten passierte, wenn sie verstorben waren. Die Leichname von Patienten, deren Körper für die Verwendung in Forschung und Lehre in der anatomischen Samm-lung interessant sein könnten, wurden in eine Skelettkocherei geschickt, die sich auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik befand, wo die Knochen gereinigt wurden.28 Heute ist man leicht darüber verblüfft, was damals vor sich ging. Um die Zusammen-hänge zu verstehen, muss man jedoch auch berücksichtigen, wie die ethischen Rah-menbedingungen zu der Zeit aussahen, als Lundborg zum Arzt und Wissenschaftler ausgebildet wurde.