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Plötzlich befinde ich mich im entscheidenden Augenblick des Lebens. Herman Lund-borgs private Briefsammlung scheint anfangs unhantierbar umfangreich zu sein, un-durchdringlich. Was ich suche, ist die Antwort auf das Rätsel des Rassenbiologen – des älteren Wissenschaftlers –, aber ich lande mitten in der Liebe eines jungen Mannes.

Zwischen Briefen mit getrockneten Blumen, eng beschriebenen Seiten voller Vertrau-lichkeiten. Was in all diesen Tausenden Briefen wollte ich eigentlich wissen?

Ende des Sommers 1896 tut Herman Dienst am kürzlich gegründeten Sophienkran-kenhaus in Stockholm, und dort begegnet er Thyra, einer Sophienschwester. Sie soll gerade aufhören, um nach Enköping zu gehen und in der Lindmanschen Anstalt anzu-fangen. Die beiden lernen einander während der letzten Wochen kennen, als sie beide in der Chirurgie arbeiten. Es scheint schwindelnd schnell zu gehen. Sie gibt ihm ein Porträt von ihr und verspricht ihm ihre Treue. Er gibt ihr auch sein Bild, und in einem verstohlenen Augenblick bevor sie sich trennen, scheint er um sie zu freien. Am letzten Abend schickt er ihr gelbe Rosen, in dieser Nacht kann sie nicht schlafen. Sie sind beide 28 Jahre alt, als sie ihre ersten Liebesbriefe austauschen. Thyra muss abreisen, und Her-man schreibt ihr am Mittwoch, dem 2. September 1896, aus seinem Pensionszimmer am Strandvägen:

Nun sitze ich am Abend zu Hause auf meinem Zimmer, die Uhr ist nicht später als ½ 9, und auf diese Weise habe ich einen Moment, frei von allem Chirurgischen, um mich mit meinem lieben Mädchen zu unterhalten. Deine beiden Bilder liegen vor mir auf dem Tisch, ich kann mich kaum an ihnen sattsehen. Sie sind beide so gelungen, finde ich. Ich wünschte nur, ich hätte statt ihrer den Gegenstand selbst hier, dann könnte ich Gedan-ken und Ideen mit ihr austauschen.

Danke, Thyra, für die Tage, die wir hier in Stockholm zusammen sein durften. Es waren sicherlich kurze Augenblicke (ja, es ist wahr, du fandest ja, dass es die ganzen Tage wa-ren). Danke für alle schönen Lächeln und Blicke, die Du mir auf der Chirurgie, bei unse-ren Begegnungen außerhalb des Sophienkrankenhauses, wähunse-rend unserer gemeinsamen Spaziergänge, geschenkt hast. Nie vergesse ich den schönen Blick, den ich bekam, als Du an dem Abend, als wir zusammen bei der Pat. auf XI F waren, die mit dem großen Bauchtumor, wenn Du Dich erinnerst, Gute Nacht sagtest. Du hast eine göttliche Gabe, Thyra, und das ist, so schön zu lächeln, dass ich finde, dass sich ein Kranker, der es sieht, belebt und munter fühlen muss […]

Ich frage mich immerzu, wann wir uns das nächste Mal treffen können. Die Pflicht geht vor, das ist ja unser Wahlspruch. Im kommenden Monat bin ich an allen Tage in der Po-liklinik beschäftigt, auch an den Sonntagen. In dieser Zeit dürfte ich gezwungen sein, in

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)

Stockholm zu bleiben, aber dann bin ich es, der an einem schönen Tag nach Enköping reist und meine Thyra besucht.

Ich habe ja noch nicht einmal einen Kuss bekommen, alles wegen der Schwesterntracht.29 Im Labor nahm ich mir welche, aber bekam Vorhaltungen. Du fandest wohl, dass ich Deine Berufung und Deine Würde und Reinheit als Frau leichtsinnig entweiht habe.

Aber verzeih’ mir. Ich konnte nicht anders, wir sind ja auch Menschen.

Du musst herkommen, wenn nicht früher, dann wenigstens an Weihnachten, dann kannst Du unser bescheidenes Zuhause sehen. Mama und die Geschwister müssen ja das Mädchen kennenlernen, das mir seine Treue geschenkt hat.30

Thyra antwortet ihrem „lieben Herman“ aus Enköping am Samstag, dem 5. September 1896:

Danke für die gelben Rosen, die Du am Abend vor meiner Abreise geschickt hast, sie wa-ren herrlich, und sie wawa-ren mir eine liebe Gesellschaft in der Nacht, denn der Schlaf woll-te sich einfach nicht einfinden. […]

Schön, dass Herman meine Porträts gefielen […] Aber Du zeigst sie natürlich nieman-dem, hörst Du, noch nicht. […] Oft wenn ich ein kleines Weilchen mit mir allein bin, wandern meine Gedanken zu meiner Zeit im Operationssaal, besonders die letzten Tage stehen mir in der Erinnerung deutlich vor Augen, und dann unsere gemeinsamen Spa-ziergänge und der letzte Sonntag auf dem Friedhof und in der reizenden kleinen Kirche von Solna. Ja, es ist so wundersam, wie alles für uns gelenkt wird.

Ich kann einfach nicht begreifen, wie alles so schnell gehen konnte, und wie Du, mein Freund, meine unbedeutende Person liebgewinnen konntest. Sofort, beim ersten Mal, als ich Dich sah, machtest Du einen gewissen Eindruck auf mich, und ich fand immer, dass Du Dich in vielen Dingen von den anderen unterschieden hast, aber da hatte ich ja keine Gedanken für anderes als meine Arbeit. So kannst Du wohl verstehen, wie verwundert und überrascht ich da unten im Labor war.31

Herman erhält ihren Brief erst am Montagabend und schreibt am Mittwoch, dem 9.

September, zurück:

Weißt Du, Thyra, am letzten Tag, den Du im Krankenhaus warst, also dem letzten, an dem Du Dienst getan hast, sah ich kurz vor Arbeitsbeginn Schwester [unleserlich] in der Tür zu Deinem oder vielleicht richtiger gesagt ihrem Zimmer, und da erschrak ich, denn ich glaubte, dass Du bereits fortwärst und ich Dich nie mehr sehen würde. Es dau-erte einige unruhige Augenblicke, bis ich Dich dann drinnen im Operationssaal erblickte und mich davon überzeugen konnte, dass Du noch am Krankenhaus warst. Da merkte ich wirklich, dass ich Dich liebte, und spürte, welchen Verlust und welche Leere es in mir hinterlassen hätte, wenn ich Dich nicht mehr getroffen hätte. Kein Wunder also, dass ich

Eine Liebesgeschichte

sofort am letzten Tag, an dem das möglich war, Dich dort unten im Labor fragte, ob Du mich willst. […]

Ich kann ja jetzt im Herbst einmal zu Dir nach Enköping kommen und sehen, wie es Dir geht, Thyra? Ich wünschte nur, der Tag wäre schon da. […]

Könnte ich, so würde ich Dir mehr gelbe Rosen zur Gesellschaft und Augenweide schi-cken. Schön, dass Du sie mochtest. Gelb ist ja Deine Lieblingsfarbe.32

Hermans und Thyras Liebesgeschichte hat im Archiv Spuren in Form von Hunderten Briefen aus ihrer Verlobungszeit hinterlassen. Hier aber ist der Blick auf die Zukunft ge-richtet, die Jahre, in denen Lundborg ein berühmter und einflussreicher Rassenbiologe wurde. Noch ist er davon weit entfernt, es soll noch fünfzehn Jahre dauern, bevor er seine ersten Rassenuntersuchungen anstellt.

Noch ist Herman kaum 30 Jahre alt. Er wird eine Laufbahn als Mediziner einschlagen, und noch ist seine Wahl nicht die Rassenforschung. Er vertieft sich in keine der Diszip-linen, in denen Gustaf Retzius und Carl Magnus Fürst tätig sind, weder Anatomie noch Physische Anthropologie. Stattdessen lockt ihn die Psychiatrie.

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)