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Beim Anblick einer anatomischen Sammlung gibt es vieles, was einen erstaunt und zum Nachdenken anregt. Wie entstehen die Organe, wie entstand das Gehirn, und wie ver-schieden sind Gehirne? Warum sind manche Gehirne klug und kulturschaffend und andere erbärmlich? Wer ist der Mensch eigentlich?

Herman Lundborg ist naturwissenschaftlich veranlagt. Schon früh weiß er, dass er Arzt werden möchte, und bereits während der Schulzeit dürfte er das anatomische Museum im Karolinischen Institut (Karolinska Institutet, KI) in Stockholm besucht haben. Er träumt davon, Forschungsreisen zu unternehmen, eines der wissenschaftlichen Rätsel in Angriff zu nehmen, über die man dort zwischen in Glasgefäßen eingelegten Körper-teilen und reihenweise Regalen voller Schädel fantasieren kann. Im Frühjahr 1887 legt er 19-jährig am traditionsreichen Gymnasium Södra Latin in Stockholm das Abitur ab.

Und mit der ganzen Verwegenheit eines jungen Menschen stürzt er sich in die ärztli-che Wissenschaft, nimmt im Herbst in Uppsala ein Studium der Medizin auf. Er ist fest entschlossen, etwas Wichtiges im Leben zu leisten. Unsicher zwar darüber, was das sein wird, aber etwas Großes soll es sein.

Sein Vater, dessen Namen er trägt, ist Eisenbahnbauer, Major beim Weg- und Wasserbau-korps und Oberingenieur bei der Staatlichen Eisenbahngesellschaft. Er leitet große Bau-projekte, und die Familie zieht mit ihm, wohin die Arbeit ihn verschlägt. Sechs der sie-ben Geschwister werden mit nur gut einem Jahr Abstand geboren, alle an verschiedenen Orten des Landes. Axel, der Älteste, kommt in Småland zur Welt. Danach die Schwester Elma, geboren in Tibble Vassunda, der nächste Bruder, Hjalmar, in Solna, als der Va-ter den Auftrag hat, die Erzbahn Stockholm–Uppsala mit Zwischenstation in Knivsta zu bauen. Herman, der die Nummer vier in der Geschwisterschar ist, wird weit davon entfernt im Kirchspiel Väse in der Provinz Värmland geboren. Da ist der Vater mit der Erzbahn über Kristinehamn Richtung Karlstad und weiter nach Norwegen beschäftigt.

In einer Familienchronik wird berichtet, dass Herman jenes der Kinder war, das als Säugling fast gestorben wäre. Er war in seinem ersten Lebensjahr so schwächlich, dass seine Mutter Maria ständig ein Auge auf ihn hatte, und zwar so sehr, dass ihre Umge-bung sich große Sorgen über ihre eigene Gesundheit machte. Ihr Mann behauptete, dass sie über ihre Anstrengungen für den Kleinen um zehn Jahre gealtert sei, und die Familie befürchtete, dass sie auch das nächste Kind verlieren würde, denn Maria war schon wieder schwanger.

Wer einen solchen Start ins Leben hat – und später in seiner Jugend dies alles über sein erstes Lebensjahr zu hören bekommt – entwickelt vielleicht ein besonderes Bedürfnis, etwas zu leisten, seinen Nächsten zu zeigen, dass man all diese Opfer wert war. Sicher

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)

lässt sich das nicht wissen, aber wenn man Herman Lundborg später in seinem Leben begegnet, ist man von der enormen, ja fanatischen Energie beeindruckt, die er für be-stimmte Aufgaben aufbringen kann, die er sich vorgenommen hat. Manchmal wundert man sich ganz einfach, woher die Kraft dafür kam.

Auch Hermans Gesundheit wurde von seinem schweren ersten Lebensjahr beeinflusst.

In der Familienchronik steht zu lesen: „Sehr stark wurde er nie, aber sein froher Mut und seine beständige Energie haben ihm über viele Schwierigkeiten hinweggeholfen, die ihm eine schwache Gesundheit insbesondere während der Jugendjahre in den Weg gelegt hatte.“6

Eisenbahner sind Nomaden, sagte man in der Familie. Der nächste Umzug führte sie nach Arvika, dann ging es für eine kürzere Zeit nach Uppsala und schließlich weiter nach Falun und Vänersborg. Als Herman neun Jahre alt war, kam die Zeit, erneut aufzu-brechen. Jämtland rief, die Eisenbahn Richtung Östersund und hoch bis Storlien, dann weiter durch die Bergwelt nach Norwegen. Die Schwester Elma berichtet: „Unser Vater stand nun in seiner vollen Manneskraft und ging ganz in seiner Arbeit auf, mit einem Stab von fähigen Ingenieuren die Wildnis zu bezwingen und den Weg durch die Berge zu bahnen. Wir Kinder haben ihn ungeheuer bewundert, wenn er groß und kräftig in seinem Wolfspelz, der mit einer bunten Gürtel zusammengehalten wurde, mit Pelzmüt-ze und hohen Pelzstiefeln fertig da stand, um sich auf seine zig Kilometer weite Reise ins Gebirge zu begeben.“7 Sein Gebiet erstreckte sich bis an die norwegische Grenze, und als er einmal seine Frau mit auf eine längere Reise nahm, um die Gegend zu be-sichtigen, erinnerte sie sich anschließend: „Hoch oben auf einem Berg, wohin zuvor kaum ein menschliches Wesen vorgedrungen war, waren nun ordentliche Wohnungen und weiße, einladende Zelte für die Leute eingerichtet worden. 700 Eisenbahnarbeiter hatten dort oben ihren Platz.“8

In Jämtland blieb die Familie fünf Jahre lang. Als die Bahn im Juli 1882 unter großen Festlichkeiten eingeweiht wurde, war Herman vierzehn Jahre alt und sicher stolz da-rauf, was sein Vater geleistet hatte. Der nächste Auftrag wartete in Hälsingland. Aber während die Familie weiter nach Söderhamn zog, ging es für die älteren Geschwister stattdessen nach Stockholm, um Bildung zu erwerben, das Gymnasium zu besuchen und an der Universität zu studieren.

Einige Jahre später ändert sich alles ganz schlagartig. Der Vater stirbt unerwartet früh, nur 54 Jahre alt, für die Familie ein schwerer Schlag. Bis zuletzt hatte er, trotz nachlas-sender Gesundheit, weiter gearbeitet. Seine Angehörigen hatten von der Krebsdiagnose erst eine Woche vor seinem Tod im Stockholmer Krankenhaus Sabbatsberg am Mitt-sommerabend, dem 23. Juni 1888, erfahren.

Herman hatte sich früher in seinem Leben nie Gedanken um sein Auskommen machen müssen. Die Jahre nach dem Tod des Vaters waren auch in dieser Hinsicht schwer. Die

Der Arztberuf lockt

Familie war zwar nicht verschuldet, verfügte aber über keine größeren Ersparnisse. Die Mutter und die jüngeren Geschwister verließen Söderhamn Hals über Kopf und ka-men nach Stockholm, wo der älteste Bruder Axel ihre Versorgung übernehka-men musste, denn er hatte eine Anstellung bei der Eisenbahn, war Buchhalter bei der Königlichen Eisenbahnverwaltung. Die große Schwester Elma hatte inzwischen ihr Lehrerinnenexa-men abgelegt und unterrichtete an der Beskowschen Privatschule. Auch sie konnte so mithelfen, die Familie zu retten. Axel und Elma zogen außerdem mit Hermans Mutter in der Västmannagatan 33 zusammen, um sich um sie zu kümmern. Die beiden ältes-ten Geschwister heirateältes-ten nie oder gründeältes-ten sonst eine Familie, sondern lebältes-ten auch sehr viel später noch zusammen. Für den nächstälteren Bruder Hjalmar brachten die Schwierigkeiten mit sich, dass er sein Jurastudium abbrechen musste, obwohl er schon fünf Jahre absolviert hatte. Er und der jüngste Bruder Ragnar unternahmen später einen Versuch, nach Transvaal in Südafrika auszuwandern, „ein Land, wo sich man durch ei-gene Arbeit besser durchschlagen konnte“,9 kehrten aber wieder zurück. Hjalmar schlug dann eine Laufbahn als Rektor ein, während Ragnar Redakteur wurde. Die jüngeren Schwestern, Maria und Nanna, erhielten ebenfalls Versorgungsmöglichkeiten durch eine Lehrerinnenausbildung, heirateten später jedoch.

Der Einzige der sieben Geschwister, der ein höheres Examen ablegte, war Herman. Das zeugt sicher von seinem Arbeitsvermögen, seiner Triebkraft und seiner Willenstärke, oder dem, was Elma „seinen frohen Mut und beständige Energie“10 nannte. In einem Brief schreibt er selbst über diese Zeit: „Da ich nicht über vermögende Verwandtschaft verfüge, war ich ausschließlich auf mich selbst angewiesen. Durch stundenweisen Un-terricht und Anstellungen als Hauslehrer konnte ich mich jedoch durchbringen.“11 Nach dem Tod des Vaters verlässt Herman Uppsala und setzt seine Studien am Karo-linischen Institut in Stockholm fort. Diese Adresse strahlt während dieser Jahre einen Geist der Zukunft aus. Das Institut liegt an der Hantverkargata im östlichen Teil der Insel Kungsholmen, und hier, in einem recht neuen Gebäude, befindet sich das Ana-tomische Institut mit seinem Museum neben weiteren Abteilungen, in denen jetzt Forschung stattfindet, die eine bessere Zukunft verspricht. Am Histologischen Institut kann man mit Hilfe modernster Mikroskope Gewebe und Bakterien untersuchen, um Krankheiten wie Tuberkulose, Milzbrand und Cholera zu heilen. Bei den Pharmakolo-gen gibt es Laboratorien, in denen Impfstoffe und neue Medikamente zum Wohle des Menschen erprobt werden. Und dann gibt es noch die Abteilung für Hygiene.

Hygiene ist das Modewort. Es geht um Mundhygiene, persönliche Hygiene, Hygiene im Haushalt oder um soziale Hygiene (womit gemeint sein kann, dass man die schmut-zigen Winkel der Gesellschaft säubert, ganz so wie man auch zu Hause putzt). In der gesamten Gesellschaft sind groß angelegte Aufklärungs- und Reinigungsarbeiten im Gange. Es ist ein Kreuzzug gegen schmutzige Unterwäsche, schlechtes Trinkwasser, mangelnde Schmutzwasser- und Abfallentsorgung und ungesunde Wohnungen.

Sozi-Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)

ale Missstände können mit Hilfe der Wissenschaft bekämpft werden, lautet die Bot-schaft. Die Ärzte sind die treibende Kraft, mit medizinischem Wissen können sie sich Unkenntnis, Vorurteilen und falschen Autoritäten entgegenstellen.

Die Hygiene hat viele Fürsprecher. Sie nimmt die Form einer Ideologie an, die in den Jahrzehnten um 1900 alle verschlossenen Tore weit öffnen, lüften, aufklären und verborgene Winkel kontrollieren will.12 Der Körper soll bejaht werden, es ist Zeit für ein vorurteilsloses Gespräch über das neue Wissen um den Körper, alles Tabubelegte soll beim Namen genannt werden. Die Ärzte sind dazu berufen, die Verkünder dieser Wahrheit zu sein und als Freidenker sachliche Auskünfte zu erteilen und vorurteilsfreie Aufklärung zu betreiben. Gerade sie können – wie fast niemand sonst während dieser Jahre – mit der Natur als Waffe Gott selbst herausfordern.

Die Reinheitslehre kann sich auf alles beziehen: den Haushalt, die Kommune, die Nati-on oder auch auf das, was sich ganz im Innern des menschlichen Körpers befindet, die Erbanlagen. In Großbritannien gibt es die Erbhygiene. Das ist eine von Francis Galton begründete Wissenschaft, die sich mit der genetischen Verbesserung der Bevölkerung befasst. Galton nennt sie Eugenik – das Wort verwendet er 1889 zum ersten Mal – und bezeichnet sie sogar als eine „neue Religion“.13 Galton möchte, dass die Eugenik zu ei-ner sozialen Bewegung heranwächst, die das nationale Bewusstsein des gesamten briti-schen Volkes durchdringt.

Einige Jahre später, 1895, prägt ein deutscher Arzt, Alfred Ploetz, einen ähnlichen Be-griff: „Rassenhygiene“.14 Obwohl es Rassenlehren auch schon bei Galton gibt, betont er die Bedeutung der Rasse etwas stärker. Ploetz hatte in den USA gearbeitet und war von der amerikanischen Rassenpolitik beeinflusst worden. Nachdem 1865 die Sklaverei ab-geschafft worden war, hatte man im ganzen Süden strenge Rassengesetze erlassen, die zu einer Rassentrennung führten und fast alle Bereiche der Gesellschaft durchdrangen.

Mit Spenden des Industriellen Andrew Carnegie gründeten die Amerikaner ein priva-tes Rassenforschungsinstitut und gaben besondere Zeitschriften heraus, die sich aus-schließlich mit Fragen der Rassenveredelung befassten. In den meisten amerikanischen Bundesstaaten galten strenge Eheschließungsgesetze, nach denen die Rassenmischung zwischen Weißen und Andersfarbigen verboten war, und wer die Grenze zwischen den Rassen durch Ehe oder sexuellen Umgang überschritt, konnte zu bis zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden.

Obwohl seine Texte manchmal in der von der Eugenics Education Society herausge-gebenen Zeitschrift The Eugenics Review erscheinen werden, wird Lundborg keinen besonders engen Kontakt mit der englischen Eugenik bzw. deren Vereinigung pflegen.

Gegen Galtons Nachfolger Karl Pearson hegt er sogar eine direkte Abneigung, denn der war ja nicht einmal Arzt, sondern nur Statistiker. Lundborg wird sich stattdessen sehr

Der Arztberuf lockt

stark an die deutsche Rassenhygiene anlehnen, möchte sich aber auch den Amerika-nern annähern, die sich mit Rassenveredelungsfragen beschäftigen.

Genau wie Galton möchte auch Ploetz, dass die deutsche rassenhygienische Bewegung eine Wissenschaft wird. Bis die Rassenhygiene Schweden erreichen wird, dauert es je-doch noch einige Jahre.

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)