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Warum wird der Mensch psychisch krank? Im Herbst 1904 ist plötzlich alles so deutlich geworden. Eine andere Sichtweise hat sich eingefunden, ein Perspektivenwechsel ist eingetreten. Am 7. Oktober spricht Herman Lundborg vor der Ärzteschaft in Uppsala und zeichnet die Hauptlinien eines zukünftigen Forschungsprogramms.44 Jetzt stehen nicht mehr die Sorgen und der Lebensschmerz von Menschen im Mittelpunkt, oder ihr Missbrauch, ihre Überlastung und ihr Stress. Nein, das Rätsel der psychischen Krank-heiten ist ihre Vererbung. Oder richtiger gesagt: die schlechten Erbanlagen. Psychische Krankheiten zu verstehen, bedeutet zu verstehen, woher die schlechten Anlagen kom-men. Die Wurzel des Übels liegt in der Biologie. Und wenn man das erkennt, stellt sich die nächste interessante Frage: Wie entsteht eigentlich schlechte Vererbung?

Die ärztliche Wissenschaft möchte heilen und vorbeugen, das Kranke entfernen, um Gesundheit herzustellen.45 Soll das aber gelingen, muss man wissen, was die Ursachen des Übels sind. Bakteriologen haben zu dieser Zeit bahnbrechende Entdeckungen an Bakterien gemacht: wie die Ansteckung funktioniert und Infektionskrankheiten aus-gelöst werden. Aber es gibt auch andere, tiefer liegende Ursachen für Krankheiten zu erkunden wie angeborene Schwächen im Körper des Patienten. Man stellt sich vor, dass diese in bestimmten Familien vererbt werden und dann eine Generation nach der ande-ren treffen. Aber vielleicht kann die ärztliche Wissenschaft eingreifen und auch solche Krankheitsursachen bekämpfen?

Vor der Zuhörerschar in Uppsala erklärt Herman Lundborg genau, was er zu tun be-absichtigt. Er berichtet, dass er seine Familienuntersuchungen in Blekinge über eine seltene Erbkrankheit, die in der Gegend vorkommt, fortsetzen wird. Er ist nämlich da-rauf gekommen, dass die gesamte Verwandtschaft „in hohem Grade degeneriert“ sei.

Und nun hat er sich entschlossen, sie in weitaus breiterem Maßstab zu erforschen. Er hat sich vorgenommen, die Ursachen der Degeneration herauszufinden, indem er die Verwandtschaft Individuum für Individuum, Familie für Familie untersucht und die Vererbung über Generationen zurückverfolgt.

Die Bedeutung der Vererbung müsse jedem Arzt klar vor Augen stehen, sagt Lundborg in seinem Vortrag. Insbesondere in ländlichen Gebieten müssten die Ärzte ständig be-denken. dass die Kranken, denen sie begegnen, nur einzelne Glieder innerhalb ganzer Familien und Verwandtschaften mit bestimmten krankhaften Anlagen seien. Die Auf-gabe der Ärzte sei es, den Patienten gegenüber anzusprechen, welche schicksalhaften Folgen ein Teil dieser schweren Missstände nch sich ziehen werde, wenn ihnen nicht zur rechten Zeit abgeholfen werde: „Allzu minderwertige Individuen müssen auf die eine oder andere Weise daran gehindert werden, die Familie fortzuführen. […] In un-serer Zeit darf das Unkraut (die Degeneration) beinahe ungehindert wachsen und das

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)

in solchem Ausmaß, dass es an vielen Stellen im Land die gute Saat erstickt“, sagt Lund-borg.46 Vor allem die Krankenhausärzte, die Psychiater, seien ständig von den unglück-lichen Trümmern zurückgebliebener oder verkommener Familien umgeben. Für sie sei diese neue Aufgabe der ärztlichen Wissenschaft sehr wichtig. Oder wie er es ausdrückt:

Als Psychiater dürfe man sich nicht als Arzt für Individuen fühlen (wie die Chirurgen), sondern als Arzt für ganze Familien und Völker.47

Irgendetwas ist also mit der Perspektive passiert. Aus einem anderen Vortrag lässt sich erahnen, was sein Weltbild beeinflusst hat. Hier berichtet Lundborg nämlich, dass er (unter vielem anderen) den führenden deutschen Rassentheoretiker Alfred Ploetz gele-sen habe, der in diesem Jahr 1904 begonnen hat, eine wisgele-senschaftliche Zeitschrift her-auszugeben, die ihn beeindruckt habe: das Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie.48 Diese Zeitschrift wird für Lundborg in der Zukunft noch sehr wichtig werden, und zwar sowohl als Lektüre als auch im Hinblick auf eigene Publikationen.49

Nun will er nach Deutschland reisen, und zwar besonders gern nach München, die Stadt, in der die neue rassenhygienische Bewegung ihre stärkste Bastion hat, wo Alf-red Ploetz und die meisten anderen Rassenhygieniker arbeiten und wo auch die neue Zeitschrift erscheint. Er beantragt eine Freistellung von seiner Arbeit am Krankenhaus in Uppsala und bewirbt sich um ein Reisestipendium des Karolinischen Instituts, um in Deutschland Kriminalpsychologie zu studieren.50 Im April 1906 trifft er in München ein, gerade als der Deutsche Verein für Psychiatrie seine Jahresversammlung abhält, wo es reichlich Gelegenheit gibt, Kontakte zu knüpfen. Anschließend findet in der Stadt ein Kongress statt, auf dem sich 500 Ärzte für Innere Medizin treffen. Auch hier ist Lundborg dabei, lauscht den wissenschaftlichen Diskussionen über die Schilddrüse und den Einfluss der inneren Sekretion auf die Persönlichkeit. Der Höhepunkt der Rei-se ist jedoch der Besuch der ganz neuen psychiatrischen Klinik in München, „sicherlich die beste, die es gibt“, wie er meint.51 Sie wird von Professor Emil Kraepelin geleitet, der als Gründer der wissenschaftlichen Psychiatrie gilt und die psychischen Krankheiten systematisiert hat. Irgendwo im Gewimmel stößt Lundborg sehr wahrscheinlich auch auf den Psychiater Ernst Rüdin, der die rassenhygienische Zeitschrift betreut und bald Kraepelins Oberassistent werden soll. Rüdin ist nicht nur Redakteur der Zeitschrift, sondern auch Schwager von Alfred Ploetz und eines der ersten Mitglieder der Gesell-schaft für Rassenhygiene, die Alfred Ploetz und ein kleiner Kreis von Ärzten und Wis-senschaftlern gerade gegründet haben.

Wenn sich Rüdin und Lundborg 1906 in München begegnet sind, werden sie viel zu besprechen gehabt haben. Lundborg möchte natürlich das Interesse Rüdins und der Zeitschrift an seinen Forschungen in Blekinge wecken. Und Rüdin braucht Rat, wie die neue rassenhygienische Gesellschaft in Schweden eingeführt werden kann. Der Plan ist, sie zu einem internationalen Zusammenschluss mit Lokalabteilungen in anderen Ländern zu machen. Gerade Schweden liegt nahe, da Ploetz’ Ausgangspunkt und

ras-Eine Idee nimmt Form an

senhygienisches Ideal die hochgewachsenen, blonden, helläugigen und weißhäutigen Menschen sind, die sie die „nordische Rasse“ nennen.52 Die Frage aber ist, welche Wis-senschaftler man in Skandinavien am besten kontaktiert.

Im März 1907 reist Ernst Rüdin nach Norden, um neue Mitglieder für die Gesellschaft zu werben.53 Auf seiner Reise nach Skandinavien führt er ein kurzes, auf Deutsch ver-fasstes Schreiben mit sich, in dem Alfred Ploetz seine Vision erklärt, also was er mit seiner Gesellschaft vorhat.54 Dabei handelt es sich nämlich nicht um eine gewöhnliche Vereinigung. Das Engagement steht für etwas viel Tieferes, eine Lebenshaltung, ein Be-kenntnis, fast eine Religion. Als „neue Religion“ hatte, wie vorn angesprochen, schon Francis Galton in England seine Eugenik bezeichnet, und sein Nachfolger Karl Pearson hat das Thema der Verbesserung der Rasse als wissenschaftliche Basis für die Lebens-führung ebenfalls aufgegriffen.55 Auch Ploetz’ Gedanke ist es, dass die Rassenhygiene zunächst als Wissenschaft etabliert wird, dass sie dann jedoch wachsen und zu einer sozialen Bewegung für die gesamte Gesellschaft werden soll.

Ploetz’ kurzes Schreiben lässt sich als Programmerklärung lesen, wie eine neue biologi-sche Sichtweise zum politibiologi-schen Programm des Staates entwickelt werden kann. Hier wird mit anderen Worten deutlich, wie die Rassenhygiene in Richtung Nationalsozi-alismus führt. Ploetz beginnt damit zu erklären, dass es innerhalb der Menschheit ein weites Spektrum verschiedener Völker und Stämme gebe: „Auf der einen Seite sehen wir z. B. die niedrigen Stämme der Australneger, auf der anderen Seite die edelsten Zweige der weißen Rasse mit hohen Eigenschaften der Seele und des Körpers, die Vor-dersten im Reiche des Geistes und in der persönlichen Darstellung der menschlichen Schönheit.“56 Die Gesellschaft für Rassenhygiene soll „ein geistiges Zentrum, ein Be-wußtsein, ein Gewissen und ein Willensorgan“ werden, sie biete

eine feste Richtung für alle die vielen, die dunkel ahnen oder klar wissen, daß die hu-manitäre Ethik allein uns nicht aus unseren Nöten herausführt, daß es nicht genügt, die linke Backe hinzuhalten, wenn die rechte einen Streich empfing, sondern daß in der sittlichen Anschauung der Zukunft neben der Liebe zum Nächsten auch alle Ge-währ für die Erhaltung und Steigerung der Tüchtigkeit, der Mannhaftigkeit und Schönheit der Menschen liegen muß, soll von einem Aufwärtsschreiten der Mensch-heit ernsthaft die Rede sein.57

Rein wissenschaftlich solle sich die Gesellschaft hauptsächlich den Fragen der Auswahl und der Aussonderung unter den Menschen widmen. Daher müsss in der Gesellschaft ein besonderer Geist herrschen, eine Begeisterung für den Gedanken menschlicher Vollendung. Dies aber könne nur

ein neuer Geist der Ritterlichkeit in ihrer reinsten und höchsten Form sein. Als Rit-ter des Lebens müssen wir uns fühlen, des gesunden und blühenden, starken und schönen Lebens, aus dem alles irdische Glück quillt und aus dessen sieghaftem Aufwärtsstreben

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allein, wenn überhaupt, wir alles das zu erhoffen haben, was die Menschen in ein gol-denes Zeitalter zurückverlegten. […] Hilfe für die Schwachen war stets ein ritterliches Gebot und wird immer ein soziales sein, auch ein rassenhygienisches, sofern nur die For-derung erfüllt wird, daß die Schwachen ihre vererbbaren Mängel durch Abstehen von der Zeugung endgültig aus der Welt schaffen. Nichts edleres, als wenn ein Schwacher sich freiwillig in Erkenntnis dessen, was er seinen Idealen schuldet, von der Zeugung fernhält.58

Jedes Mitglied der Gesellschaft soll Angaben über seine eigene Familiengeschichte ma-chen und versprema-chen, nicht zu heiraten und Kinder zu bekommen, wenn sich zeigen sollte, dass man dafür ungeeignet ist. Außerdem wird erwartet, dass man als Mitglied von sich aus versucht, seine Rasse zu veredeln, indem man Personen in seiner Umge-bung beobachtet und das Risiko für Degeneration unter seinen Freunden und Bekann-ten beurteilt. Ist man verheiratet, soll die Mitgliedschaft auch für den Ehepartner bean-tragt werden. Beide Eheleute sollen dann sowohl vor ihrem familiären Hintergrund als auch aufgrund einer ärztlichen Untersuchung überprüft werden.

Um hier schützend für die jungen Leute unserer Gesellschaft einzugreifen, verlangen wir von ihnen, daß sie – falls sie Mitglieder bleiben wollen – die Ehen nur dann eingehen, wenn beide Teile sich von unserer Gesellschaft eine ärztliche Tauglichkeits-Erklärung für Ehe und Fortpflanzung verschafft haben. Dadurch wird viel Unglück und Entartung auch in den Fällen verhütet, in denen der Heiratende, wie es oft genug vorkommt, selbst keine Ahnung davon hat, daß er krank oder ungeeignet ist. Selbstverständlich wird nur ein Teil der Paare, deren Ehe die Gesellschaft für unzulässig erklärt, von der Eheschlie-ßung Abstand nehmen, ein anderer Teil wird es vorziehen, aus der Gesellschaft auszu-scheiden, und sie so vor untüchtigen Elementen bewahren oder von untüchtig geworde-nen reinigen.

Um schon von vornherein die Umgebung unserer jungen Leute in bezug auf Gattenwahl günstig zu beeinflussen, will die Gesellschaft selbst sich bestreben, ihre Mitglieder mög-lichst nur aus sittlich, geistig und körperlich tüchtigen Menschen zu wählen.

Diese Wahl der Mitglieder aus tüchtigen Elementen hat noch einen anderen Zweck. Das ist die Möglichkeit, an dem aus ihren Ehen hervorgehenden Nachwuchs statistisch zei-gen zu können, wieviel günstiger die Vitalstatistik, die Militärtauglichkeit und die kör-perlichen und geistigen Leistungen der Mitglieder sind als die der Gesamtbevölkerung, aus der sie stammen, und wieviel tüchtiger infolgedessen die Bevölkerung eines Staates sein muß, der rassenhygienische Prinzipien beachtet.59

Rüdin beginnt seine Skandinavienreise in Dänemark, wo er den Vererbungsforscher und Pflanzenbiologen Wilhelm Johannsen für seine Sache gewinnt. In Norwegen ist der Chemiker und Pharmazeut Jon Alfred Hansen Mjøen, den Ploetz schon seit den

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1890er Jahren kennt und der früher bereits starkes Interesse an Rassenhygiene gezeigt hat, selbstverständlich positiv eingestellt.60

In Schweden hofft Rüdin, dass sich der Nestor Gustaf Retzius selbst und sein Kollege Carl Magnus Fürst zur Verfügung stellen würden. Am liebsten hätte er, wenn Retzius Vorsitzender einer schwedischen Lokalabteilung würde, die recht bald gebildet wer-den sollte. Aber Fürst und Retzius bleiben distanziert. Sie heißen Rüdin keineswegs auf die Weise willkommen, die er erwartet hat. Sie mögen die komischen Satzungsbe-stimmungen der Deutschen nicht, wollen nicht einer deutschen Ordnung unterstellt werden und sich ihr fügen müssen. Die Deutschen sind rechthaberisch, und sie haben eine Art, die Dinge an sich zu reißen und die Tagesordnung zu ihrer eigenen zu machen, die Retzius nicht für passend hält. Es ist ja schließlich nicht Deutschland, wo die bislang bedeutendste Rassenforschung betrieben wurde, sondern Schweden. Warum sich also einer solch seltsamen deutschen Organisation unterordnen?

Rüdin verlässt Schweden, ohne Retzius oder Fürst gewonnen zu haben, wohl aber meh-rere andere Mediziner. 1909 ist er wieder da, denn da versammelt sich dieser Kreis im Hotel Kronprinsen in Stockholm und gründet die Schwedische Gesellschaft für Rassen-hygiene (Svenska sällskapet för rashygien), welche die erste Lokalabteilung außerhalb Deutschlands wird.61

In einem Karton im Reichsarchiv finde ich schmuckvolle Blöcke mit vorgedruckten Mitgliedskarten.62 Ein ganzer Stapel von ihnen liegt da, leer. Die letzte Karte, die abge-rissen worden ist, um einem neuen Mitglied überreicht zu werden, hatte die Nummer 451. Auch einige Briefe liegen da, gedruckte Statuten und Alfred Ploetz’ Schreiben über die Vision. Es handelt sich um verstreute Reste eines eingeschlafenen Vereins, von des-sen Innenleben und Tätigkeit sich wohl nie ein wirklich deutliches Bild gewinnen lässt.

Kein Mitgliedsverzeichnis findet sich hier, keine Protokolle oder Bücher. Überhaupt liegt in dem Karton wenig, das über die Tätigkeit der Gesellschaft Auskunft gibt. Die Mitglieder gehen nicht in die Tausende, aber dem Kreis gehören Personen mit Geld und Einfluss an. Eine kleine übriggeblieben Karte ist bezeichnend, eine geschmackvoll gedruckte Einladung zu einer Sitzung der Gesellschaft am 19. März 1923. Halb acht Uhr abends soll man sich versammeln, um dem Vortrag eines deutschen Professors mit Namen Goldschmidt zu lauschen. Am interessantesten ist die Adresse: Grand Ho-tel Royal. Aus der allerersten Zeit existieren auch einige Listen mit Namen, auf denen mehrere Personen handschriftlich mit Tinte hinzugefügt worden sind. Diese Namen liefern ein interessantes Bild der Kreise, in denen die Rassenhygiene zuerst Fuß fasste.

Dort stehen der Oberarzt der städtischen Stockholmer Psychiatrie Långbro, Dozent Olof Kinberg, und der Oberarzt des psychiatrischen Krankenhauses in Uppsala, Frey Svenson, der auch Professor für Psychiatrie in Uppsala war. Außerdem der Anstalts-arzt des Krankenhauses Uppsala, Doktor Karl Norén, und der Oberinspektor für die psychiatrische Krankenpflege in Schweden, Dozent Alfred Petrén, ebenso wie mehrere

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Professoren in u. a. Anatomie und Physiologie an der Universität Uppsala und am Ka-rolinischen Institut in Stockholm.63

In der schwedischen Vereinigung existieren keine formalen Ansprüche, dass die Mit-glieder oder ihre Ehepartner untersucht werden sollen, aber diese Forderung kann informell bestanden haben, da die Mitgliedschaft nur auf Empfehlung zweier anderer Mitglieder möglich war. Gleichzeitig wurde man Mitglied der internationalen Gesell-schaft, in der Alfred Ploetz den Vorsitz führte, und hier sahen die Statuten vor, dass Mitglieder dem Zweck des Vereins zu dienen versuchen konnten u. a.

durch Bildung von Teilgruppen aus denjenigen Mitgliedern, welche freiwillig die Leitge-danken der Gesellschaft in ihrer Lebensführung verwirklichen wollen, vor allem – durch ernste Arbeit an ihrer seelischen und körperlichen Tüchtigkeit

– durch Verpflichtung, sich vor Eingehen einer Ehe auf die Tauglichkeit dazu nach Vorschrift der Gesellschaft untersuchen zu lassen und bei Untauglichkeit zur Ehe von einer Eheschließung oder Fortpflanzung abzusehen,

– durch Pflege der individuellen und rasslichen Tüchtigkeit des Nachwuchses.64 Einige der schwedischen Mitglieder könnten dies auf das Vollste ernst genommen haben, denn im Mitgliederverzeichnis stehen sie zusammen mit ihren Ehepartnern aufgeführt, z. B. Olof Kinberg mit seiner Frau Julia und Frey Svenson mit seiner Frau Clary. Offenbar ist den Oberärzten der Stockholmer Städtischen Psychiatrie und des Krankenhauses Uppsala der Gedanke nicht fremd, dass diese Vereinigung – Ploetz’ Vi-sion zufolge – auch eine Art Treibhausprojekt für menschliche Zucht werden könnte.

Die Mitglieder sollen nur aus den Tauglichsten des Landes – aus dem „ungefähre[n]

oberste[n] Viertel der Bevölkerung der heutigen europäischen oder von Europäern abstam-menden Kulturmenschheit als Rekrutirungsschicht“ ausgewählt werden, präzisiert Ploetz.65 Bereits während des ersten Jahres hat die Schwedische Gesellschaft für Rassenhygiene eine ansehnliche Zahl von Mitgliedern gesammelt: 46 Personen. Die schwedische Un-terabteilung stellt also einen bedeutenden Anteil an den insgesamt 280 Mitgliedern der internationalen Gesellschaft dar. In der Größe lässt sich die schwedische Gesellschaft mit der in München vergleichen, die zu dieser Zeit 70 Mitglieder hat, und mit der in Berlin mit 55. Kein Zweifel also, dass es in Schweden viele gab, die bereit waren, die ras-senhygienische Bewegung zu unterstützen. Im Jahre 1913 kamen mehrere andere Lo-kalabteilungen zu Alfred Ploetz’ Dachorganisation, der Internationalen Gesellschaft für Rassenhygiene, hinzu, indem ähnliche Gesellschaften auch in Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Italien und Frankreich gebildet wurden.66 Die schwedische Gesell-schaft aber war also bereits vier Jahr früher zustande gekommen.

Der Kern von Medizinern und vor allem Psychiatern in der Schwedischen Gesellschaft für Rassenhygiene bemüht sich, dass deren Vorstand eine Zusammensetzung hat, die

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die Vereinigung als bedeutend und breit verankert erscheinen lässt. Und es ist eine im-posante Sammlung von Namen, die man 1910 zusammen bekommt. Die Großfinanz ist durch Alice Wallenberg repräsentiert, die höchste wissenschaftliche Exzellenz durch den Nobelpreisträger in Physik Svante Arrhenius, welcher zugleich auch Leiter des Nobelinstituts der Königlichen Schwedischen Akademie der Wissenschaften in Stock-holm ist. Im Vorstand sitzt auch ein Reichstagsabgeordneter, ein Jurist aus dem Gesetz-prüfungsrat (lagrådsberedningen) sowie Professoren in Staatswissenschaften, Statistik und Strafrecht. Am aktivsten sind wohl aber der Vorsitzende Wilhelm Leche, Professor in Zoologie an der Hochschule Stockholm – im Übrigen Lundborgs alter Lehrer – so-wie der Psychiater Olof Kinberg, Stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft, und Sekretär Vilhelm Hultkrantz, Professor der Anatomie in Uppsala.67

Den Kern der Gesellschaft machen kurz gesagt die Kollegen Herman Lundborgs am Psychiatrischen Krankenhaus Uppsala sowie seine Freunde und Lehrer aus der Studi-enzeit aus. Ein Name aber fehlt, und das ist Lundborg selbst. Er gehört 1910 nicht dem Vorstand an, und sein Name wird auch in dem Kreis nicht erwähnt, der die Gesellschaft 1909 gründet. Auf der anderen Seite – warum sollte er dabei sein? Als die Gesellschaft gegründet wird, ist Lundborg selbst noch kein berühmter Mann. Er ist ein Dozent von vielen, und er ist sehr beschäftigt. Ja, man könnte fast sagen, dass er verschwunden ist.

Er ist nämlich in Blekinge, wo er erneut angefangen hat, die Bevölkerung des Listerlan-des zu untersuchen. Bald aber werden seine Untersuchungsergebnisse vorliegen, und dann werden sie als Paradebeispiel für wichtige Forschung im Rahmen der Schwedi-schen Gesellschaft für Rassenhygiene angeführt werden.

Erster Teil: Der Weg in ein rassenbiologisches Universum (1895–1912)