• Keine Ergebnisse gefunden

In Bezug auf die zu rezipierenden Texte und die Theateraufführungen, die auf der Beziehungsskala zwischen Autor und Adressaten eingesetzt sind, liegt die entscheidende Handlungskraft beim Letzteren. Hans-Robert Jauß kommt das große Verdienst zu, mit seiner Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1967) den Leser aus der Peripherie ins Zentrum des Prozesses der Literaturgeschichtsschreibung geholt zu haben.42 Damit erreicht die bisher vernachlässigte Dimension der Rezeption einen hohen Stellenwert.43

41 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. In: ders.: Einleitung in die philosophische Anthropologie. (Gesammelte Schriften 4). Hrsg. G. Dux. Frankfurt a. Main 1981, S. 385.

42 Der Leser wächst allmählich über die ihm jahrelang zugeschriebene passive Rolle des an der Kunst Partizipierenden hinaus, und indem er einen Text aus der Materie der Worte erlöst und ihn zum aktuellen Dasein bringt. H. R. Jauß: Die Literaturgeschichte als Provokation.

(gekürzte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes) Frankfurt 1970, S. 172. Im Dreieck von Autor, Werk und Publikum ist das letztere nicht nur der passive Teil, keine Kette bloßer Reaktionen, sondern selbst wieder eine geschichtsbildende Energie. Das geschichtliche Leben des literarischen Werks ist ohne den aktiven Anteil seines Adressaten nicht denkbar.

Ebd. S. 169.

43 Bis zur Veröffentlichung Jauß’ Schrift kursiert nur vage oder nur beiläufig Formuliertes, das die Rolle des Lesers literaturtheoretisch zu umreißen sucht; das Kunstwerk wird aber nach wie vor als ein autonomes Gebilde im Rahmen der traditionellen Produktions- und Darstellungsästhetik betrachtet. In der Auseinandersetzung mit der marxistischen und der formalistischen Literaturtheorie sprengt Jauß den geschlossenen Kreis der Produktions- und Darstellungsästhetik mit dem Ziel sie in der Rezeptions- und Wirkungsästhetik zu fundieren.

Er fordert ausdrücklich die Einbeziehung der Dimension der Rezeption und Wirkung in die Methodologie der Literaturwissenschaften; er will damit die Kluft zwischen der gesellschaftlichen und der ästhetischen Funktion der Literatur überbrücken, die beiden wesentlichen Aspekte der literarischen Erscheinungen gleichermaßen erfassen, um zur Neubelebung der Literaturgeschichte beizutragen.

Nur die Aufnahmeweise des Lesers, behaupten die tschechischen Strukturalisten, und nicht die des Autors sei für das Begreifen der eigentlichen, künstlerischen Bestimmung des Werks grundlegend. Nur seine Haltung gegenüber dem Kunstwerk sei ästhetischer Natur, während die des Autors auch von außerästhetischen Gesichtspunkten – begründet durch Schwierigkeiten handwerklicher Art beim Schaffensprozess – geprägt sei.44

Mit der starken Aufwertung der Position des Lesers geht die Aufwertung der Position des Theaterzuschauers einher. Manfred Wekwerth erklärt diesen zum

„primären Spieler“.45 Laut Jan Mukařowský hängt von der Auffassung des Theaterpublikums nicht nur der Sinn dessen ab, was auf der Bühne geschieht, sondern auch der Sinn der Sachen, die sich auf der Bühne befinden.46

Die Antwort auf die Frage: Welche Sinngebung der deutschsprachige Leser bzw. der Zuschauer dem Gombrowiczschen Werk verleiht, macht sich die vorliegende Arbeit zu ihrer Aufgabe. Um die Ingardensche Terminologie aufzugreifen, wird es darauf ankommen, die Konkretisationen des Werks in ihrer Variabilität festzuhalten.47 Mit Mukařowský und Vodička zu sprechen, geht es um die Erschließung der sich in der Zeit wandelnden Bedeutung des Werks, d.h. des ästhetischen Objekts.

Wenn wir (...) die Rezeption untersuchen, so wird unsere Aufmerksamkeit vom eigentlichen Werk auf das ästhetische Objekt

44 J. Mukařovský: Beabsichtigtes und Unbeabsichtigtes in der Kunst. In: ders.: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. München 1974, S. 37.

45 Es ist falsch, die sogenannte Stille im Zuschauerraum nur als tatenlose Ergriffenheit zu deuten ... In Wirklichkeit aber zeigt „Stille“ zunächst nichts anderes, als daß der Zuschauer begonnen hat zu spielen. Die Vorgänge auf der Bühne werden für ihn zu seinen Vorgängen, die er gleichzeitig am inneren Modell in seinem Kopf und an ihrer gegenständlichen Entsprechung auf der Bühne spielt. M. Wekwerth: Theater und Wissenschaft. München 1974, S. 82. In dem Ansatz stimmt Arno Paul mit Wekwerth überein, und betont ausdrücklich, dass Theater nur in einer dialektischen Disposition vorhanden sei: als „gemeinsames Resümee von Bühne und Zuschauerraum“. Diesseits der Rampe mag sich noch so viel abspielen; wenn man jenseits der Rampe nicht entsprechend mitspielt, hat es Theater nie gegeben. A. Paul:

„Theater als Kommunikationsprozeß“. In: Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum.

Hrsg. H. Klier. Darmstadt 1981, S. 244.

46 J. Mukařovský: Zum heutigen Stand einer Theorie des Theaters. In: Moderne Dramentheorie. Hrsg. A. van Kesteren u. H. Schmid. Kronberg 1975, S. 92-94.

47 1. Das literarische Werk ‚lebt’, indem es in einer Mannigfaltigkeit von Konkretisationen zur Ausprägung gelangt, 2. Das literarische Werk ‚lebt’, indem es infolge immer neuer, durch Bewusstseinssubjekte entsprechend gestalteter Konkretisationen Verwandlungen unterliegt.

R. Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 1965, S. 370-371.

gelenkt, mit dem das Werk im vorliegenden Fall im Bewußtsein des Betrachters identifiziert wird.48

Da die Lektüre- bzw. die Theatereindrücke des breiten Leser-/Zuschauerpublikums schriftlich nicht kodifiziert und damit nicht auszuwerten sind, wird vorgeschlagen, auf die vom profesionellen Leser/Zuschauer d.h. vom Literatur-/Theaterkritiker verfassten Kritiken zurückzugreifen.

Der Kritiker hat in der Gesellschaft derjenigen, die am literarischen Leben teilnehmen und sich auf das Werk hin orientieren, seine festgelegte Funktion. Seine Pflicht ist es, sich über ein Werk als ästhetisches Objekt auszusprechen, die Konkretisationen des Werks, d.h. seine Gestalt vom Standpunkt des ästhetischen und literarischen Empfindens seiner Zeit festzuhalten und sich über dessen Wert im System der gültigen literarischen Werte zu äußern.49

Im Fall der Rezeption von Gombrowicz handelt es sich um insgesamt 283 literaturkritische Artikel der deutschsprachigen überregionalen Zeitungen und Zeitschriften wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Der Tagesspiegel, Die Welt, Die Zeit, Akzente, Christ und Welt, Der Monat und Theater heute sowie der regionalen wie Göttinger Tageblatt, Kölner Stadtanzeiger, Rheinische Nachrichten, Saarbrücker Zeitung, Salzburger Nachrichten, Stuttgarter Zeitung und Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Zu Ferdydurke liegen 16 Artikel vor, zu den Tagebüchern 14, zu Pornographie 17, zu Trans-Atlantik 9, zu Kosmos 7, zu den Besessenen 8, zu Yvonne 130, zu Die Trauung 54 und zu der Operette 28.

Mehrheitlich vertreten ist neben den unterrepräsentierten Essays, Feuilletons, Interviews und Autorenporträts die verbreitetste Sorte der Kritik: die Rezension.

Nach einem Exkurs in die an Gombrowicz interessierte deutschsprachige Literaturwissenschaft wird zunächst eine sorgfältige, themenorientierte Auswertung der literaturkritischen Artikel über die Prosawerke vorgenommen, die in den 60er Jahren im Neskeverlag und in den 80ern im Hanserverlag erschienen sind. Anschließend werden in chronologischer Reihenfolge die

48 F. Vodička: Die Konkretisation des literarischen Werks. Zur Problematik der Rezeption von Nerudas Werk. In: Die Struktur der literarischen Entwicklung. Hrsg. F. Boldt, J.

Striedter. München 1976, S. 94.

49 Ebd. S. 64.

Theateraufführungen zu Yvonne, Die Trauung und Operette aus der Sicht der Kritik betrachtet. Das literatur- und theaterkritische Material wird um die Beiträge zu Gombrowiczs Aufenthalt in Berlin 1963 (Kap. 6) und zu den Feierlichkeiten anlässlich des 100. Geburtstages des Autors im Jahre 2004 (Kap. 18) ergänzt. Die Arbeit berücksichtigt ebenso die brisanten zeitgenössischen ästhetisch-politischen Debatten um das Werk (siehe Pornographie) in Polen wie in Deutschland. Die Untersuchungen zielen auf die vollständige Wiedergabe des Rezeptionsprozesses von Gombrowicz im deutschsprachigen Raum ab.