• Keine Ergebnisse gefunden

Das polnische Parlament hat das Jahr 2004, an dem Gombrowicz 100 Jahre geworden wäre, zum Gombrowicz-Jahr erklärt. Angesichts der heutigen internationalen Anerkennung Gombrowiczs als Dramen- und Prosaautor ist es erstaunlich, vor dem Hintergrund der Presse-Kampagne gegen den Autor im Jahre 1963 aber erklärbar, dass sich im politischen Lager Polens Kräfte finden, die gegen die Ehrung protestieren und sich eher Jan Kochanowski zum Gedenhelden des Jahres 2004 wünschen. Der Abgeordnete der konservativ-katholischen Liga der polnischen Familien, Antoni Stanisław Stryjewski ist z.B. der Meinung, dass die Beschäftigung mit Gombrowicz Zeitvergeudung sei und dass die Nation, insbesondere die junge Generation andere Vorbilder, andere Geistesväter

622 [anonym]: Gombrowicz – Operette als moderne Antiquität. In: Die Presse, 21. Aug. 1999.

brauche.623 Während die einen Ängste vor dem vermeintlichen „Beschmutzer des eigenen Nestes“ schüren, feiern die anderen auf Symposien, Ausstellungen und Lesungen in Polen das Werk Gombrowiczs.

Erwähnenswert ist das Symposium Witold Gombrowicz – unser Zeitgenosse an der Jagiellonen-Universität in Kraukau (22.-27. März ), das 9. Internationale Festival Konfrontacje Teatralne in Lublin (6.-10. Oktober) und das 6.

Internationale Festival des Jan Kochanowski-Theaters in Radom (14.-16.

Oktober).

Im öffentlichen Kulturraum Deutschlands findet das Gombrowicz-Jahr nicht weniger Beachtung. Der Fischer-Verlag gibt das bereits zwei Mal komplett erschienene (im Neske- und Hanserverlag) Gesamtwerk Gombrowiczs in dreizehn Bänden noch einmal heraus.624 Der Hanserverlag entscheidet sich für die Sonderausgabe von Pornographie625 und betreut die Redaktionsarbeit Olaf Kühls im Akzente-Themenheft.626 Darin bringt der prominente Übersetzer von Gombrowicz, Stasiuk und Masłowska die bisher unveröffentlichten Artikel von Marta Kijowska und Adam Zagajewski unter.627

Die deutsche Presse, die mit einer Reihe von Feuilletons und Rezensionen zu den Jubiläumsfeierlichkeiten ihren Beitrag liefert, behandelt sowohl die neuste Veröffentlichung des Gesamtwerks als auch die Sonderausgabe des Akzente-Themenheftes. Ina Hatwig rühmt Kühl für seine kluge und einfühlsame Auswahl der Texte,628 Gregor Dotzauer nennt sie hochinformativ und unterhaltsam629. An Pornographie schätzt man atemberaubende Erfindungen, das grandiose Tempo,

623 Zit. nach. O. Kühl: Deutsche Dichter, polnische Wiedergeburten. Witold Gombrowicz zum 100. Geburtstag. In: Akzente, Jg. 51, 2004, H. 3, S. 193.

624 Vermutlich um das Werk Gombrowiczs einem breiteren Publikum bekannt zu machen, bietet der Fischerverlag eine preisgünstige Dünndruckausgabe an.

625 W. Gombrowicz: Pornographie. Aus dem Polnischen von Walter Tiel und Renate Schmidgall. Mit dem Nachwort von Ingold Felix Philipp und Essay von Poul Vad. Hanser Verlag. München, 2004.

626 Akzente, Jg. 51, 2004, H. 3. Der Herausgeber Olaf Kühl, zur Zeit der Russladreferent in der Staatskanzlei des Berliner Bürgermeisters Wowereit, erhält am 3. Juni 2005 den Karl Dedecius Preis der Robert Bosch-Stiftung. Außer der polnischen übersetzt er auch russische und serbokroatische Literatur ins Deutsche.

627 M. Kijowska: Seltsame Dreieinigkeit. Witold Gombrowicz – Bruno Schulz – Stanisław Ignacy Witkiewicz. In: Akzente, (Anm. 626), S. 232-238; A. Zagajewski: Gombrowicz und die verdächtigen Schriftsteller. In: Akzente, (Anm. 626), S. 247-254.

628 I. Hartwig: Hochmut als Form. In: Frankfurter Rundschau, 8. Sept. 2004.

629 G. Dotzauer: Gombrowicz? Gombrowicz! In: Der Tagesspiegel, 25. Juli 2004.

die Verführungskraft630 und die Poetik des „zielgehemmten Sexuellen“631. Ansonsten werden einleitend die markanten Perioden aus Gombrowiczs Leben aufgezählt und mit der Hervorhebung des Berliner Aufenthaltes nachgezeichnet.

Der Schwerpunkt liegt auf der neu-alten Heraufbeschwörung des gegenseitigen prekären Verhältnisses von Gombrowicz zu seiner Heimat und den sich wiederholenden Verweisen auf seine mühsame und hindernisreiche Laufbahn als Schriftsteller. Rüsmierend erinnert man sich gerne an Gombrowiczs literarische Errungenschaften auf dem Gebiet der Groteske und Parodie und preist ihn als den

„Meister des höheren Blödsinns“632. Die Ettiketierungen wie ein „aristokratischer Anarchist des Geistes, Priester, Clown und Sklave seiner Kunstreligion“,633 ein Surrealist634 oder ein „Außenseiter aus Passion“635 sind nach wie vor vorherrschend.

Aus dem Umkreis der Gombrowicz wohlgesinnten, unkritischen Pressestimmen ragen besonders zwei hervor. Es sind die Feuilletons von Adam Zagajewski und Richard Kämmerlings, die sicherlich eher zufällig als abgesprochen in der Auffassung übereinstimmen, dass Gombrowicz ein begnadeter Chronist und Prophet des 20. Jahrhunderts gewesen sei.636 Ebeno bei der Wahl ihres Lieblingsbuches sind sie sich einig. Kämmerlings nennt Das Tagebuch die

„unerschöpfliche Schatztruhe“, Zagajewski schätzt den darin entblößten Gombrowiczschen Geist des Raffinements und des Spottes. Die Meinungen der beiden Autoren gehen erst beim Thema der Unreife auseinander. Kämmerlings sieht ihren sonst bevorzugten existenziellen Aspekt von einer sozialpolitischen Deutung überlagert. Die Unreife symbolisiere für ihn – wie einst für Hans Mayer – die „verspätete“, gesellschaftlich und kulturell rückständige polnische Nation

630 H. Böttiger: Wir sind erst einmal nichts. Es geht nicht nur um Pornographie: Zum 100.

Geburtstag des Witold Gombrowicz. In: Die Welt, 14. Aug. 2004.

631 M. Rutschky: Der Graf und die Jungs. In: Frankfurter Rundschau, 8. Sept. 2004.

632 C. Krauss: Mit zwanzig ist man Brandstifter, später Feuerwehrmann. Wiedergelesen zum Hundertsten: der Roman Pornographie und einiges andere von Witold Gombrowicz. In:

Stuttgarter Zeitung, 4. Aug. 2004.

633 G. Dotzauer: Gombrowicz? Gombrowicz! In: Der Tagesspiegel, 25. Juli 2004.

634 M. Rutschky, (Anm. 631)

635 G. Decker: Ein Fisch mit vielen Gräten. Zum 100. Geburtstag von Witold Gombrowicz.

In: Neues Deutschland, 4. Aug. 2004.

636 A. Zagajewski: Warum Gombrowicz? Schmerz und Trotz, Skepsis und Ironie – ein Schriftsteller im 20. Jahrhundert. In: Neue Zürcher Zeitung, 31. Juli/1. Aug. 2004; R.

Kämmerlings: Den Geist am Nackenfell packen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Juli 2004.

der Zwischenkriegszeit und den Zustand ihres speziellen Minderwertigkeitskomplexes.

Zagajewski wiederum stellt Gombrowiczs Ideal der Unreife kategorisch in Frage, weil er die Reife für reichhaltiger und selbstgenügsam hält, da sie je nach dem Menschentypus die sprudelnde Energie der Unreife auch beinhalten könne.

Erwähnenswert ist außerdem, dass Zagajewski als erster in der Gombrowicz-Forschung die Deutung des in Ferdydurke geschilderten Polnischunterrichts als Parodie ablehnt. Die Worte des Lehrers, die sich stets auf ein und dieselbe Formel über Słowacki beschränken – dieser sei ein grosser Dichter – zeugen für Zagajewski nicht von der bloßen Verkümmertheit der literarischen Reflexion, sondern von der Sprachlosigkeit, die der Respekt vor dem Dichter der Romantik hervorgerufen hat.

Außer der regionalen und überregionalen Presse sind in Gombrowiczs Jubiläumsjahr auch der Rundfunk und das Fernsehen im Einsatz. Schon am 8.

Februar strahlt der Radiosender MDR zum 100. Geburtstag von Gombrowicz einen Bericht unter dem Titel Befreit euch von der Form von Aleksandra Scheibner aus, die die exzentrische, den Zeitgenossen unbequeme Natur des Autors betont. Am 4. August kommt die Sendung im Deutschlandfunk, vorbereitet von Marta Kijowska, die das Interesse an der Vielfältigkeit des Schaffens von Gombrowicz zu wecken sucht. Sie berichtet von seiner mühsamen schriftstellerischen Laufbahn, nennt die Rebellion gegen die Form als sein Hauptziel und subsumiert unter der Groteske all seine literarischen Mittel. Ein Beitrag von Marian Marzyński, ausgestrahlt am 29. November 2004 von arte, gibt vorwiegend Einblicke in die argentinische Lebensperiode des Dichters. Die Ausschnitte aus seinen inszenierten Prosa- und Dramenwerken (Ferdydurke und Die Trauung in der Regie von Waldemar Śmigasiewicz und Trans-Atlantik von Krzysztof Galos) bieten das zwischen Ernst und Komik oszillierende Panorama seines Gesamtschaffens.

Am 2. Mai liest Olaf Kühl aus dem Tagebuch im Landhaus Dahlem. Am 18.

August zeigt er sich mit Elke Wehr im Podiumsgespräch über Gombrowicz aus der Sicht zweier Kulturen vertieft. Bei der deutschen Erstaufführung der Verfilmung von Pornographie (2003, Jan Jakub Kolski) am 24. September in der Reihe Literatur auf Celluloid in Berlin ist Kühl ebenso anwesend und moderiert

anschließend die Diskussion mit Rita Gombrowicz. Zusätzlich trägt er auf Symposien in Krakau und Brieg mit neuen Themen bei: Ego i autentyczność:

Gombrowicz, Wilde i Gide und Das Ich und der freie Wille bei Witold Gombrowicz.

Den bis jetzt noch fehlenden Brückenschlag zwischen deutschen und polnischen Bemühungen um das Erbe Gombrowiczs schaffen anlässlich seines Geburtstages mit gemeinsamen Kräften die deutschen und polnischen Slavisten, die vom 30.

Juni bis zum 3. Juli zu einem Symposium Gombrowicz und die Deutschen in Brieg (Polen) unter der Schirmherrschaft Alexander Lawatys (Hamburg) und Marek Zyburas (Breslau) zusammentreffen. Das breite Themenspektrum reicht von Meditationen über Gombrowiczs philosophische Implikationen und seine Poetik des Körpers über den unvergesslichen Aufenthalt in Berlin bis hin zur Diskussion über die Aufführungsgeschichte seiner Dramen.