• Keine Ergebnisse gefunden

Polnische Erinnerungen und Argentinische Schriften

Die Polnischen Erinnerungen, die Gombrowicz neben den Argentinischen Schriften zwischen 1959 und 1961 für das Radio Freies Europa für die polnischen Rundfunkhörer verfasst hat, kommen im Hanser Verlag als der zehnte Band der Gesammelten Werke im Jahre 1985 heraus.

François Bondy behandelt das Buch als Fortsetzung der Gespräche von Gombrowicz mit Dominique de Roux und findet es von allen seinen persönlichen Schriften am reizvollsten.306 Die darin vorgestellten Familienmitglieder, Freunde und Arbeitskollegen glaubt Bondy in dem Gesamtwerk wieder zu erkennen. Am häufigsten, bemerkt zu Recht der Kritiker, dient das Elternpaar als Modell für die Vater- und Mutterkonfigurationen sowohl in der Prosa als auch im Drama. Die exaltierte Mutter und der konventionelle Vater fänden sich am anschaulichsten in dem unvollendeten Drama Geschichte und in der Trauung. Der Professor

304 Ebd.

305 [anonym], (Anm. 302)

306 F. Bondy: Possenreißen und frühes Leid. Witold Gombrowicz in seinen Polnischen Erinnerungen. In: Süddeutsche Zeitung, 19./20. Okt. 1985.

Bladaczka in Ferdydurke – um ein anderes Beispiel zu nennen –, der den Schülern die Verehrung der großen polnischen Dichter einreden will, hat seine realistische Entsprechung in der Figur Czesław Cieplińskis, des Lehrers Gombrowiczs aus seiner Gymnasialzeit.

Klaus Völker, der zugeben muss, dass das Buch sich nicht mit Gombrowiczs Romanen und Theaterstücken auf der literarischen Ebene messen kann, will ihm dennoch die ihm gebührende Bedeutung in der Kommentarfunktion zu dem Primärwerk nicht absprechen.

Diese Erinnerungen, selbst wenn ihnen so manche Irrtümer bei den historischen Daten und faktischen Angaben nachzuweisen sind, eignen sich vorzüglich als Einführung in den Eigensinn, die anarchische Denkweise und den „ferdydurkischen“ Stil des Autors.307

In der Werteinschätzung für das Buch stimmt Wolfgang Hädecke mit Völker überein.308 Jener wird auf die in den Erinnerungen geschilderte Entwicklung der exzentrischen Persönlichkeit Gombrowiczs aufmerksam, und hebt als deren spezifischen Grundzug das sich steigernde Bedürfnis, gegen die ihn umgebenden gesellschaftlichen und literarischen Normen zu opponieren.

Tadeusz Nowakowski erblickt wiederum das Verdienst der Erinnerungen in der Schilderung des Lebens in Polen zwischen den Weltkriegen, die Gombrowicz ohne Nostalgie, eher mit Nonchalance von sich gegeben habe.309

Bondy bemerkt, dass Gombrowicz hier nicht wie sonst üblich auf die streitfreudige Konfrontation abzielt, und dass er darauf verzichtet, sich die

„Fresse“ eines Barbaren bzw. eines polnischen Krautjunkers zuzulegen.310 Als Pole spreche er hier zu seinen Landsleuten über eine polnische Jugend, und das ohne die Anstrengung, durch die Aufdeckung seiner besonderen und frappanten Eigentümlichkeiten um jeden Preis aufzufallen. Nur manchmal, so Bondy weiter, finde er Gefallen daran, die Gespräche unangenehm und indiskret zu führen, wenn sie ihm zu höflich und feinfühlig vorkamen.

307 K. Völker: Von der Geschichte zum Äußersten getrieben. Polnische Erinnerungen von Witold Gombrowicz. In: Frankfurter Rundschau 5. April 1986.

308 W. Hädecke: Witold Gombrowicz. In: Literaturund Kritik, Feb./März 1986, H. 203/204, 182-184.

309 T. Nowakowski: Gestickte Blume auf der Lammfelljacke. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. März 1986.

310 F. Bondy, (Anm. 306)

Völker scheint es ebenso, dass der Autor sich hier im Vergleich zu den Tagebüchern gelassener gibt, weniger behauptungssüchtig und ichbezogen.311 Er wolle nicht unbedingt etwas beweisen und bitte nur die Zuhörer/Leser darum, die Distanz zu den vorgegebenen Formen zu bewahren und zu eigenen Unsicherheiten zu stehen. Im Tagebuch, so Völker, sei er stets bemüht, Widerspruch herauszufordern und seine private Authentizität hervorzukehren, in den Erinnerungen erkläre er erstmals, wie sein überzeugtes Einzelgängertum entstanden sei, und liefere damit die Begründung für seinen zurückhaltenden, jeder Besserwisserei entbehrenden Erzählduktus. Laut der Nacherzählung von Völker, habe sich Gombrowicz von Kindesbeinen an in einer Zwangslage befunden, die ihm als Abkömmling einer in der Vergangenheit schwelgenden Landadelsfamilie keine andere Möglichkeit gelassen habe, als ewige Opposition gegen herschende gesellschaftliche Normen und Zeremonien. Sein Stammbaum wird mit anderen Worten für Gombrowiczs Provokationskunst, die in den Erinnerungen aus den genannten Gründen ein wenig zurücktritt, verantwortlich gemacht.

Nowakowski gewinnt anhand des Buches den Eindruck, dass Gombrowicz an seinem Polentum ein Leben lang gelitten habe.

(Gombrowicz) benahm sich nicht selten wie ein verliebter Jüngling, der die Dame seines Herzens zugleich liebkosen und steinigen möchte.312

In den Argentinischen Streifzügen, die sechs Jahre später als der elfte Band der Gesammelten Werke herauskommen, beobachten die Kritiker eine ähnliche Unausgewogenheit der Gefühle des Autors angesichts seines Heimatlandes. Zwar demonstriere er hier ausdrücklich seine emotionale und intellektuelle Nähe zu Argentinien, gebe aber immer wieder zu verstehen, dass Polen der wichtigste, wenn nicht der einzige Bezugspunkt in seinem Leben sei, und dies in zweierlei Hinsicht: als Gegenstand des Ernstes und der Belustigung. Jürgen Manthey liest auch die Schriften berechtigterweise als die inszenierte „Polenlästerung“,

„Polenveralberung“ und die „Polenverewigung“, um letzten Endes festzustellen,

311 K. Völker, (Anm. 307)

312 T. Nowakowski, (Anm. 309)

dass Gombrowicz darin wie in seinen anderen Arbeiten im ständigen Dialog mit Polen verbleibe.313

Gombrowicz möge allerlei Themen berühren, fügt Nowakowski hinzu, die

„Arche seines erfindungsreichen Selbstpolentums“314 habe er fürwahr nie verlassen. Die gleiche Erkenntnis verbirgt sich hinter der folgenden metaphorischen Aussage:

Der Kosmo-Pole Pariser Provenienz, Gombrowicz, trägt sein Polen mit sich herum wie die Schnecke ihr Haus.315

Laut Nowakowski sehe sich Gombrowicz genötigt, die beiden Länder aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede zueinander in Beziehung zu setzen.

Sogar zwischen den Wandinschriften in den Pissoiren Polens und Argentiniens stelle Gombrowicz Vergleiche an (Jene in San Rafael seien naiver). Als interessant hebt Jürgen Manthey die Zusammenstellung hervor, in der Argentinien laut Gombrowicz als ein „weltoffener Platz, international, maritim und interkontinental“ im Gegensatz zu Polen gut abschneide, das sich angeblich als Nation vor anderen verschließe, auf eine eigene Kultur poche, und sich aus dem daraus resultierenden Mangel an Selbstsicherheit weltängstlich an das alte Kleid aus dem Schrank der Großmutter klammere.316

Man ist sich darüber einig, das Gombrowicz – ohne Polen aus den Augen zu verlieren – Argentinien wie seine zweite Heimat behandle, der er ebenso wie der ersten weder seine Liebe noch seinen gut getarnten Hass entziehen wolle.

Abgesehen von der gepriesenen Weltoffenheit lobe er das Land für dessen lebendige Schönheit und deren jugendliche Frische und Jugendlichkeit. Seine nicht ausbleibende Kritik, wie Manthey anmerkt, richte sich vorwiegend gegen Argentiniens „auf Formen bedachte, glitzernd schöne oberflächliche Gesellschaft von äußerlich egalitärem Zuschnitt“.317 Über die argentinische Literatur äußere er sich mit Herablassung und Borges’ Methaphysik halte er gar für phantastisch, unergiebig und langweilig.

313 J. Manthey: Odysseus in Südamerika. Witold Gombrowicz’ Argentinische Streifzüge. In:

Frankfurter Rundschau, 9. Okt. 1991.

314 T. Nowakowski: Adler und Kolibri im Parallelflug. Der Pole Witold Gombrowicz erklimmt argentinische Gipfel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Nov. 1991.

315 Ebd.

316 J. Manthey, (Anm. 313)

317 Ebd.

Während die über Argentinien berichtenden Reisefeuilletons noch eine gewisse wohlwollende Aufmerksamkeit der Kritik verdienen, ernten die dem elften Band ebenso zugehörigen publizistischen Artikel Gombrowiczs nur einige abwertende Bemerkungen: ein der Aurora-Zeitschrift entnommener polemischer Leitartikel, das Tagebuch von Rio Ceballos, Exkurs über den Existenzialismus und Drama unserer Erotik.

Klaus Harpprecht behauptet gar, dass die Artikel als „Gelegenheits- und Not-Arbeiten“, abgesehen von „einigen hübschen Beobachtungen“ nicht einer Veröffentlichung, geschweige denn einer Übersetzung wert seien.318 Skrupellos spricht er Gombrowicz jegliche journalistische Begabung ab, spottet über seine väterlich-volkstümliche Belehrungsschrift, in der er in die Rolle eines „erotischen Volkspädagogen“319 schlüpfe, um den Umgang zwischen den Geschlechtern zu überwachen. Am Beispiel von ein paar ausgewählten Textpassagen aus Drama der Erotik verübelt Leopold Federmair die Borniertheit der Äußerungen.320 Für Gombrowiczs Erkenntniss: in Wahrheit ist es so, daß keine Frau in keinem zivilisierten Lande dem Manne alles erlauben darf, und in Europa wie in Südamerika wird das höchste Wort der Frau immer die Liebe, die Ehe sein (AS, 149), hat Federmair nur Hohn übrig:

Soll man die aneinandergereihten Banalitäten mit den Publikationsorten, das heißt Radiostationen, Tagezeitungen und Illustrierten entschuldigen? Das hieße, den letzteren unrecht tun.321

Federmairs Kritik weitet sich auf sämtliche Argentinische Schriften aus und trifft mit jeder Zeile immer höhere Töne. Er fängt noch behutsam an; erzählt, dass er an dem Sammelband die Lebensunmittelbarkeit vermisse, die er sonst in allen Werken Gombrowiczs vorfinde; stellt den Mangel an aufschlussreichem Ergänzungsmaterial zum Hauptwerk fest und wirft dem Autor vor, er zeichne ein Bild Argentiniens und Südamerikas nach ihren touristischen Hauptattraktionen,

318 K. Harpprecht: Rasender Dichter. Witold Gombrowicz als argentinischer Reporter. In: Die Zeit, 3. April 1992.

319 Ebd.

320 L. Federmair: Weltliteratengeplauder. Gombrowicz’ Argentinische Streifzüge. In: Die Tageszeitung, 6. Dez. 1991.

321 Ebd.

um schließlich zu der Überzeugung zu gelangen, dass Gombrowicz heftig die verbreiteten Klischees befehde, nur um an ihre Stelle andere zu setzen.322