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3. 1. Kontext und Methode

Thema dieser Studie ist die historische Entwicklung der Stadt Tengchong, die im Kontext der Entstehung des Grenzgebietes im äußersten Westen der Provinz Yunnan dargestellt wird und den Prozeß der Konsolidierung der chinesischen Verwaltungseinheiten in der Region des Stromschluchtenfächers beschreibt.

20 Für eine Bibliographie völkerkundlicher Studien siehe Alain Y. Dessaint: ‚Minorities of southwest China. An introduc-tion to the Yi (Lolo) and related peoples and an annotated bibliography‘, New Haven 1980.

Die vorliegende Arbeit schließt sich an die in den letzten Jahrzehnten in der westlichen Sinologie zahlreich erschienenen Lokalstudien an, die sich unter den verschiedensten Aspekten mit der historischen Entwicklung einzelner Orte oder Regionen Chinas beschäf-tigen. So unterschiedlich die in den neueren Lokalstudien untersuchten Gebiete sind, so ist ihnen doch gemeinsam, daß sie sich hauptsächlich im Osten der Volksrepublik China befinden, konzentriert auf einen Raum, der Peking, die Küstenprovinzen und das Gebiet des mittleren Yangzi umfaßt.21 Auch hier spiegeln sich die mittels der Aihui-Tengchong Linie dargestellten Unterschiede zwischen dem östlichen und dem westlichen China wieder, denn Lokal- oder Regionalstudien, die sich mit den westlichen, den Inlands- und den Grenzprovinzen beschäftigen, gibt es bisher nur wenige.22

Ebenso konzentrieren sich auch im Genre der Grenzstudien die Arbeiten auf ein Gebiet, hier die Nord- und Nordwestgrenzen Chinas, während der Südwesten kaum untersucht ist.23 Schon Owen Lattimore hat in seiner grundlegenden Studie ‚Inner Asian frontiers of China‘ (1940) die Grenzen im Norden Chinas in den Mittelpunkt seiner Untersuchung gestellt. Im Norden hatte die chinesische Expansion den Rand eines Gebietes erreicht, in dem alternative an die besondere Steppenlandschaft angepaßte Gesellschaften existierten, auf deren Territorien sich die chinesische Form der Landwirtschaft, die von ihr geprägte Lebensweise des Kernlandes sowie dessen politische Strukturen nicht ausdehnen ließen und deren militärische Stärke zu Konflikten führte, die durchaus eine existenzielle Bedro-hung für das chinesische Reich darstellten.24 Nach Süden hingegen erwies sich der Raum für die chinesische Expansion als mehr oder weniger unbegrenzt. Militärische Konflikte blieben lokal begrenzt, die einheimische Bevölkerung wurde zumeist assimiliert oder aus den landwirtschaftlich nutzbaren Gebieten verdrängt und die charakteristische „Struktur-form, die ‚zellulare‘ Einheit, der ummauerten Stadt mit den sie umgebenden ländlichen Gebieten“, konnte in den neu erschlossenen Gebieten dauerhaft etabliert werden.25 Bei

21 Die historische Entwicklung einzelner Städte bzw. Region stellen z.B. David Buck in ‚Urban change in China: Politics and development in Tsinan, Shantung, 1890-1949‘ (1978), Hilary Beattie in ‚Land and lineage in China: A study of T’ung-ch’eng county, Anhwei‘ (1979) oder Harriet T. Zurndorfer in ihrer Studie ‚Change and continuity in chinese local history‘ (1989) über die Präfektur Huizhou dar. Weiterhin ist besonders William T. Rowes umfassende Studie ‚Hankow:

Commerce and society in a chinese city‘ (1984) zu nennen.

22 Clausen/Thogersens Lokalstudie über Harbin, ‚The making of a chinese city‘ (1995), und James A. Millwards Studie

‚Beyond the pass. Economy, ethnicity, and empire in Qing Central Asia, 1759-1864‘ (1998), gehören zu den wenigen Arbeiten, die sich mit Gebieten in der Peripherie Chinas beschäftigen.

23 So überwiegt beispielsweise in dem von Dabringhaus und Ptak herausgegebenen Sammelband ‚China and her neigh-bours‘ (1997), der Beiträge eines Symposiums enthält, die die Wahrnehmung von Grenzen, Grenzgebieten und deren Bevölkerung durch die Chinesen sowie die daraus resultierende Politk untersuchen, die Beschäftigung mit den nördlichen Grenzen ergänzt lediglich um zwei Studien, die sich maritimen Grenzgebieten (Spratley Inseln und Taiwan) widmen.

24 Lattimore, S. 241, 409, 472

25 Lattimore, S. 423

ihrem Vorstoß nach Süden, so stellte Owen Lattimore fest, „mußten die Chinesen lediglich Probleme der Größenordnung bewältigen – den Transport, die Reichweite der Verwaltung, die Anpassung des imperialen Überbaus an den provinziellen regionalen Unterbau“.26

Entsprechend waren zunächst nicht Grenzen und die Entstehung von Grenzgebieten The-men sinologischer Forschung, sondern der Prozeß der Han-chinesischen Expansion nach Süden in seiner Gesamtheit, wie ihn Herold J. Wiens (‚Han Chinese expansion in South China‘, 2. Aufl., Yale 1967, New Haven 1967; Titel der ersten Auflage: ‚China‘s march to the tropics‘; Hamdon, Conn. 1954) und Charles Patrick Fitzgerald (‚The southern expan-sion of the Chinese people‘, New York 1972) dargestellt haben. Beide Autoren schildern den Verlauf dieser Expansion, die Besiedelung, die Erschließung landwirtschaftlicher Flächen, die Ausdehnung administrativer Strukturen des Kaiserreiches, bis sie im Norden der südostasiatischen Halbinsel die Region des Stromschluchtenfächers erreichte.

Ende des 20. Jahrhunderts sind in den USA zwei Dissertationen erschienen, die sich mit der historischen Entwicklung dieses Grenzgebietes beschäftigen. Sun Laichen untersucht in seiner Studie ‚Ming-Southeast Asian overland interactions, 1368-1644‘ (University of Michigan 2000) Chinas Einfluß auf die Entwicklung der Kleinstaaten im Westen Yunnans (im Gebiet des modernen Shan-Staates von Birma, in Xishuangbanna und Nordvietnam).

Vom nördlichen Mohnyin bis zum südlichen Dai Viet haben zwei Faktoren den Aufstieg dieser Kleinstaaten vom späten 14. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhun-derts bestimmt: Die Übernahme der fortschrittlichen Militärtechnologie der Ming und der Aufschwung des Handels insbesondere mit den in China begehrten Edelsteinen. Sun Lai-chen stellt die beherrsLai-chende Stellung heraus, die die einheimisLai-chen Herrscher im Norden der südostasiatischen Halbinsel regional inne hatten, die in diesem Zeitraum mehr als nur Pufferzone zwischen China und Birma waren, sondern eine eigene dynamische Entwick-lung aufwiesen. Diese und die eigenen Handelsinteressen bestimmten die chinesische Politik gegenüber den Kleinstaaten, führten zur Entstehung eines differenzierten Grenzge-bietes an der Peripherie des Ming-Reiches und beeinflußten die Ausgestaltung der chinesi-schen Verwaltungseinheiten im äußersten Westen Yunnans.

26 Lattimore S. 8, 470

C. P. Giersch stellt in seiner Dissertation ‚Qing China’s reluctant subjects: Indigenous communities and empire along the Yunnan frontier‘ (Yale University, 199827) nicht die Mechanismen staatlicher Politik, sondern die Interaktion zwischen den verschiedenen Be-völkerungsgruppen im Grenzgebiet in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Sein Konzept des Grenzgebietes als middle ground überträgt einen Forschungsansatz der modernen ame-rikanischen Geschichtswissenschaft auf das Yunnan der Qing-Zeit. Kernpunkt dieses Ansatzes ist, daß bei der Entstehung eines Grenzgebietes Gruppen aufeinander treffen, die jeweils ebenso Initiatoren wie auch Objekte von Veränderungen sind, so daß einseitige Konzepte von Eroberung und Assimilierung oder Widerstand nicht genügen, um die vielfältigen Interaktionen in einem Grenzgebiet zu beschreiben, zu denen auch Innovation und Anpassung alter Traditionen und Institutionen zählen. Das Konzept des middle ground umfaßt sowohl den geographischen Ort, den Prozeß der Vermischung sowie die Verände-rungen, die die Beziehungen zwischen der Grenzbevölkerung durchlaufen.28

Die Bedeutung des Konzeptes liegt für Giersch insbesondere darin, daß es die Diversität der chinesichen Kultur und die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Gruppen von chinesischen und mandschurischen Beamten, von Kaufleuten, Arbeitern im Bergbau oder Bauern berücksichtigt sowie den Beitrag der einheimischen Bevölkerung hervorhebt.

Gerade letztere war keineswegs eine passive Gruppe, die lediglich darauf gewartet habe, vom Charisma der chinesischen Kultur absorbiert zu werden, sondern sei an der Gestaltung des Grenzgebietes aktiv beteiligt gewesen. Charakteristisch für den middle ground ist die vielschichtige Grenzstadt (mixed frontier town), in der ein gemeinsamer städtischer Raum unter Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen entstanden ist.29

Das Konzept des middle ground hebt die Bedeutung der politischen Strukturen und der kulturellen Traditionen der einheimischen Bevölkerung im interaktiven Prozeß der Gestal-tung des Grenzgebietes hervor. Deutlich wird zudem die Vielschichtigkeit der Kategorien Einheimische, Zuwanderer und Qing-Beamte, die sich jeweils aus verschiedenen Interes-sengruppen zusammensetzten, die ihre Position im Grenzgebiet sehr flexibel behaupteten.

Zwar weist auch Giersch darauf hin, daß das Entstehen eines Raumes, in dem sich die Traditionen Chinas und Südostasiens miteinander zu neuen Strukturen verbanden, nicht im Interesse der Qing-Regierung lag und eine Anpassung an örtliche Gegebenheiten lediglich

27 Eine gekürzte Fassung der Dissertation ist unter dem Titel ‚A motley throng: social change on Southwest China’s early modern frontier, 1700-1880‘ im Journal of Asian Studies (60, no.1, Feb. 2001, S. 67-94) erschienen.

28 Giersch, A motley throng, S. 72

29 Ebd., S. 71, 77-80

mit Blick auf die Sicherung der Vorherrschaft über ein bestimmtes Gebiet erfolgte.30 Insgesamt wird beim Konzept des middle ground aber das Ungleichgewicht zu wenig berücksichtigt, in dem die verschiedenen Gruppen miteinander agieren und das in dem ideologischen Anspruch Chinas, die Randvölker zu ‚zivilisieren‘, zum Ausdruck kommt.

Sowie nicht zuletzt auch in der militärischen Stärke der Qing (und früherer chinesischer Dynastien), die es ermöglichte, diesen Anspruch auch zu realisieren und nachdem die Oberhoheit über ein Gebiet gesichert war, den Rahmen abzustecken, in dem sich ein middle ground erst entwickeln konnte.

Dieses Ungleichgewicht ist jedoch ein entscheidender Faktor im Prozeß der Ausgestaltung eines Grenzgebietes des chinesischen Reiches. Die verschiedenen Völker, die in den Rand-gebieten Chinas leben, sind seit Jahrhunderten einer Reihe von Versuchen unterworfen worden, „sie zu verändern und sie denen, die sie verändern wollen, anzugleichen oder im Sprachgebrauch der Veränderer: Sie zu ‚zivilisieren‘“.31 Die Art und Weise, in der chine-sische Regierungen in Vergangenheit und Gegenwart das politische und gesellschaftliche System sowie die kulturellen Traditionen der Kernregion auf die Grenzgebiete auszu-dehnen strebten, faßt Stevan Harrell mit dem Begriff der civilization projects zusammen.32

Unter einem solchen ‚Zivilisierungsprojekt‘ versteht Harrell eine „bestimmte Form der Interaktion zwischen Völkern, bei der eine Gruppe, das zivilisierende Zentrum, mit anderen Gruppen (den Randvölkern) im Rahmen eines bestimmten Ungleichgewichtes interagiert. Die ideologische Basis für das Ungleichgewicht bildet der Anspruch des Zentrums, einen höheren Grad an Zivilisation zu haben. Hinzu kommt das Bestreben, die Randvölker auf das Niveau der Zivilisation des Zentrums anzuheben oder wenigstens näher an dieses heranführen zu wollen“; dabei geht es nicht mehr nur um militärische Eroberung und Festigung der Herrschaft, sondern „um den Glauben, daß diese Herrschaft ein Prozeß ist, der den Beherrschten hilft, gerade die höheren kulturellen, religiösen und moralischen Qualitäten, die das Zentrum selbst ausmachen, zu erreichen oder sich ihnen zumindest anzunähern“.33

30 Giersch, S. 83

31 Harrell, S. 3

32 Stevan Harrell: ‚Civilizing projects and the reaction to them‘, in: S. Harrell (Hrsg.), ‚Cultural encounters on China’s ethnic frontiers‘ (Washington 1995), S. 3-36. Dieses Konzept umfaßt für Harrell sowohl ‚konfuzianisch‘ als auch ‚sozia-listisch‘ geprägte Projekte, wie auch die Bemühungen der christlichen Missionare zur Verbreitung ihrer Religion in China um die Wende zum 20. Jahrhundert.

33 Harrell, S. 4

Als Form der Interaktion zwischen Völkern haben ‚Zivilisierungsprojekte‘ folglich immer zwei Gruppen von Beteiligten, das Zentrum und die Randvölker, die immer beide von dem Projekt beeinflußt werden. Denn um ein solches Projekt durchzuführen, benötigt das Zentrum zunächst eine Definition seiner selbst, die deutlich macht, worin die eigene Zivili-sation besteht, die weitergeben werden soll und worin der Mangel bei den anderen besteht, den es zu beheben gilt. Aus dieser Gegenüberstellung entwickelt sich zumeist ein schärfe-res Bewußtsein des Zentrums für die eigene Identität.34

Die ‚Zivilisierung‘ der Randvölker Chinas ist Teil eines Projektes der Zivilisierung der chinesischen Bevölkerung insgesamt. Dabei sollte der gebildete Gelehrte, der junzi, durch sein den konfuzianischen Wertvorstellungen entsprechendes Verhalten ein Vorbild für die chinesische Bevölkerung sein, dem diese nacheifern sollte; ebenso sollte dann auch die Zivilisation des Zentrums generell das Vorbild für die Randvölker sein.35

Folglich kann der Forschungsansatz der ‚Zivilisierungprojekte‘ im Grenzgebiet nicht allein auf die Interaktionen zwischen den beiden Gruppen Zentrum und Randvölker beschränkt werden, sondern muß auch die Gruppe der Han-chinesischen Bevölkerung im Grenzgebiet mit einbeziehen, die ebenfalls Träger der Zivilisation des Zentrums ist, deren Interessen sich jedoch häufig von denen der staatlichen Institutionen, den Initiatoren und Trägern des Projektes unterscheiden. Die chinesischen Regierungen waren sich dieser Problematik bewußt und versuchten dem Auseinanderdriften der Interessengruppen entgegenzusteuern, indem sie beispielsweise den Zuzug ins Grenzgebiet bzw. die Abwanderung in Gebiete unter einheimischer Herrschaft, den Erwerb von Land oder die Bergbauaktivitäten der chinesischen Zuwanderer reglementierten oder ganz zu unterbinden versuchten, um so das Entstehen autonomer Strukturen jenseits der staatliche Kontrolle zu verhindern. Die chine-sischen Zuwanderer waren also sowohl Akteure als auch Adressaten des ‚Zivilisierungs-projektes‘ im Grenzgebiet. Dort wurde zudem mit dem Bau von Stadtmauern, Amtsge-bäuden und Tempeln, der Gründung von Städten ganz allgemein, auch ein architektoni-scher Rahmen vorgegeben, in dem sich die Han-chinesische Bevölkerung im Grenzgebiet einrichten konnte, ohne in der Interaktion mit den einheimischen Kulturen selbst alterna-tive Modelle zu entwickeln. Die Schaffung eines middle ground, in dem Interaktion zu Innovation führte, lag nicht im staatlichen Interesse, das der Einbindung des Grenzgebietes

34 Harrell, S. 7

35 Harrell, S. 17

in die politischen Strukturen des Kernlandes galt sowie der Definition von Territorien, auf die sich diese Strukturen nicht mehr ausdehnen ließen. Die chinesische Expansion nach Südwesten führte so zur Entstehung eines vielschichtigen Grenzgebietes im Norden der südostasiatischen Halbinsel: Weit entfernt gelegene Gebiete wurden dem chinesischen Reich von der Zentralregierung im Rahmen des Tributsystems assoziiert, in der Region des Stromschluchtenfächers schlossen sich Verwaltungseinheiten mit Sonderstatus an Einhei-ten der regulären Zivil- und Militärverwaltung des Kernlandes an.

Der Prozeß der Entstehung und Ausgestaltung einer solchen regulären Verwaltungseinheit in der Peripherie des chinesischen Reiches ist Thema der vorliegenden Studie.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Stadt Tengchong, denn gerade die Gründung von ummauerten Städten ist ein charakteristisches Merkmal der Entwicklung der Grenzge-biete Chinas. Die von Chinesen in den RandgeGrenzge-bieten errichteten Städte orientierten sich an den chinesischen Traditionen des Städtebaus. Mit ihrer Ausrichtung nach den Himmels-richtungen, den geraden Durchgangsstraßen und der Bauweise der zentralen Verwaltungs-gebäude, der Schulen, Tempel und Wohnhäuser reproduzierten die bewußt angelegten Grenzstädte die Traditionen der Kernregion und waren, wie Piper Rae Gaubatz in einer Studie zur Entwicklung der politischen Zentren in den Randgebieten Chinas dargestellt hat, weit häufiger ‚typisch chinesische Städte‘, als die organisch gewachsenen Städte im Kern-land.36 Die Stadt im Grenzgebiet wird somit zum „Symbol sowohl für kulturelle Werte als auch für Machtverhältnisse; Vorstellungen, Werte und Machtverhältnisse formen die Struktur einer Stadt und werden ihrerseits von dieser bestätigt“.37

36 Gaubatz, S. 313. Piper Rae Gaubatz hat in der Studie ‚Beyond the Great Wall: Urban form and transformation on the chinese frontiers‘ (1996) die Entwicklung, die Formen und Funktionen chinesischer Städte in den Randgebieten des Reiches untersucht. Gegenstand der Studie sind die Großstädte Hohot, Lanzhou, Ürumqi, Xining und Kunming, allesamt Hauptstädte von Provinzen oder autonomen Regionen. Sie waren (und sind) politische Zentren, denen die Verwaltung großflächiger Gebiete unterstand und die sich einerseits in der Peripherie Zentralchinas befanden, andererseits aber auch selbst Kernregionen der sie umgebenden Randgebiete waren.

Zwei charakteristische Merkmale für die Entwicklung der Grenzgebiete Chinas stellt Gaubatz in den Mittelpunkt der Studie. Zum einen die Kontinuität: „Regionen, die heute als Grenzgebiete charakterisiert werden können, sind nie voll-ständig in das nationale System integriert worden und in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht noch fast genauso

‚Grenzgebiete‘, wie sie es bereits während der Han-Dynastie waren“ (Gaubatz, S. 20).

Das zweite Merkmal der Grenzgebiete ist das Vorherrschen urbaner Ansiedlungen der Chinesen in den Grenzgebieten.

Dieser ‚urbane Charakter‘ der Grenzregionen zeigt sich für Gaubatz insbesondere darin, daß noch bis ins 20. Jahrhundert hinein die Präsenz des chinesischen Militärs, der Zivilbeamten und der Han-chinesichen Zuwanderer in den meisten Gebieten auf Festungen und ummauerte Städte beschränkt war und ihre ländlichen Ansiedlungen selten weit über das Hinterland der Stadt hinausgingen (ebd. S. 310). Die Abgrenzung der Stadt von ihrem Umfeld wird durch die Stadtmauer besonders deutlich gemacht. Ebenso wie die Große Mauer im Norden Chinas symbolisieren auch die Mauern der Grenz-städte ethnische Grenzen und spiegeln das politische und sozio-ökonomische System des Reiches in Kleinformat wieder (ebd., S. 309). Anders als die Große Mauer waren jedoch die Stadtmauern, trotz der Entstehung multikultureller Ansied-lungen, oft dauerhafte Trennungslinien zwischen der Stadt in der die Han-Chinesen die Mehrheit der Bevölkerung stell-ten und dem Hinterland, in dem andere Volksgruppen dominierstell-ten (ebd., S. 312). Die Grenzstadt mit ihrer Stadtmauer symbolisiert so gerade auch das Bewußtsein der kulturellen Unterschiede und in diesem wiederum liegt für Gaubatz auch die Dauerhaftigkeit der Grenzen als solche begründet (ebd., S. 311).

37 Gaubatz, S. 312

Anhand der historischen Entwicklung der Stadt Tengchong wird im Folgenden dargestellt, welche Vorstellungen von Seiten Chinas mit der Gründung der‚ersten Stadt an der äußers-ten Grenze‘ und der sie umgebenden Verwaltungseinheit realisiert worden sind und welche anderen Faktoren die Ausgestaltung des Grenzgebietes in ihrer Peripherie mitbestimmt haben. Ansatzpunkt ist das ‚Projekt zur Zivilisierung‘: Das Bestreben der Zentralregierung, politische, gesellschaftliche und kulturelle Strukturen des Kernlandes in der Region des Stromschluchtenfächers zu etablieren. Ziel dieser Studie ist es, herauszuarbeiten, welche dieser Strukturen den Rahmen für die Entwicklung Tengchong bildeten und wie sie jeweils an die Situation im Grenzgebiet angepaßt wurden. Eckpunkte dieses Rahmens sind die militärische Vorherrschaft, der Ausbau der zivilen Verwaltungsstrukturen, die von Regie-rungsbeamten organisierten Baumaßnahmen sowie die Beziehungen zu den Gebieten unter einheimischer Herrschaft, deren historische Entwicklung im Folgenden nachgezeichnet wird. Ergänzt werden sie um die Darstellung des chinesischen Schulwesens in Tengchong.

Gerade die Gründung von chinesischen Schulen in den Grenzgebieten Chinas, die insbe-sondere den Han-chinesischen Schülern, aber auch Angehörigen einheimischer Volksgrup-pen konfuzianische Wertvorstellungen vermitteln sollten, zeigt den Zusammenhang der beiden Ausprägungen der ‚Zivilisierungsprojekte‘, die die ‚Zivilisierung‘ der Randgebiete mit dem allgemeinen ‚Zivilisierungsprojekt‘, das sich an alle Bevölkerungsgruppen wand-te, verbanden. So wurde gerade auch die Etablierung des Schulwesens von den Trägern des

‚Projektes‘ im Grenzgebiet selbst als Gradmesser einer gelungenen Anbindung an das Kernland interpretiert.

Die Träger der ‚Zivilisierungsprojekte‘ vor Ort waren in erster Linie Verwaltungsbeamte, die von der Zentralregierung eingesetzt wurden und für die Umsetzung der Maßnahmen zur Gestaltung der Verwaltungseinheit und des Grenzgebietes verantwortlich waren. Ihnen oblag die Verwaltungsarbeit, die Rechtsprechung, die Registrierung der Bevölkerung, die Erhebung der Steuern und die Organisation von Bauprojekten. Tätigkeiten, die allesamt in den unter ihrer Leitung verfaßten Lokalhandbüchern (fangzhi) dokumentiert werden.

Die Lokalhandbücher von Tengchong (siehe unten 3. 2. 1.) sind denn auch die wichtigsten Quellen für diese Studie, da ihre Verfasser die historische Entwicklung aus lokaler Sicht darstellen, sie aber gleichwohl auch Ausdruck des ‚Zivilisierungsprojektes‘ sind, da die geschilderten Ereignisse aus der Perspektive des ‚zivilisierenden Zentrums‘ interpretiert werden.

3. 2. Die Quellen

3. 2. 1. Die Lokalhandbücher (fangzhi)

Die chinesischen Lokalhandbücher (difangzhi oder kurz fangzhi) sind Sammelwerke, in denen die verschiedensten Informationen über eine bestimmte Verwaltungseinheit (einen Kreis, eine Präfektur oder eine Provinz), einem einheitlichen Aufbauschema folgend in chronologischer, tabellarischer und literarischer Form zusammengestellt sind.38

Die Lokalhandbücher informieren über Geographie und Geschichte, über Steuern und ört-liche Produkte, sie listen die Schulen und Tempel auf, die am Ort tätigen Beamten ebenso wie die erfolgreichen Kandidaten der Staatsprüfungen und die tugendhaften Frauen.Außer-dem enthalten sie eine Auswahl der literarischen Erzeugnisse aus der Region. Die fangzhi wurden mit dem Anspruch verfaßt, praktische Handbücher zu schaffen, welche die mit der Lokalverwaltung betrauten ortsfremden Beamten durch konkrete Informationen und Hintergrundwissen mit der Situation vor Ort vertraut machen sollten. Ein Anspruch, der in den charakteristischen tabellarischen Aufzählungen, die sowohl einen summarischen Über-blick über die Verwaltungseinheit ermöglichen als auch das Herauslesen einzelner Fakten

Die Lokalhandbücher informieren über Geographie und Geschichte, über Steuern und ört-liche Produkte, sie listen die Schulen und Tempel auf, die am Ort tätigen Beamten ebenso wie die erfolgreichen Kandidaten der Staatsprüfungen und die tugendhaften Frauen.Außer-dem enthalten sie eine Auswahl der literarischen Erzeugnisse aus der Region. Die fangzhi wurden mit dem Anspruch verfaßt, praktische Handbücher zu schaffen, welche die mit der Lokalverwaltung betrauten ortsfremden Beamten durch konkrete Informationen und Hintergrundwissen mit der Situation vor Ort vertraut machen sollten. Ein Anspruch, der in den charakteristischen tabellarischen Aufzählungen, die sowohl einen summarischen Über-blick über die Verwaltungseinheit ermöglichen als auch das Herauslesen einzelner Fakten