2. Die DDR-Gesellschaftswissenschaften als politisch-epistemisches Ereignis als politisch-epistemisches Ereignis
2.2. Die Textproduktion
Gesellschaftswissenschaftliches Arbeiten führt am Ende immer zu Texten. Die Magazine der Bibliotheken bergen die komplette gesellschaftswissenschaftliche Produktion der DDR, die somit prinzipiell verfügbar ist. Daher ist ein hohes Maß an Überprüfbarkeit dessen, was erreicht und verfehlt wurde, gegeben.
2.2.1. Textarten, Jargon, Decodierung
In den sozialwissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Fächern – weni‐
ger in den (sonstigen) geisteswissenschaftlichen – stellt bereits der Jargon ein beträchtliches Rezeptionshemmnis dar. Ein Großteil ihrer Texte ist gekennzeich‐
net durch eine schablonenhafte Sprache, die übermäßige Verwendung von Pas‐
sivkonstruktionen und Genitivhäufungen, den Einsatz politischer Formeln als wissenschaftliche Argumente, eine eingeschränkte Lexik und verunklarende Formulierungen, um Problematisches zu kaschieren. Diese weitflächige Infekti‐
on wissenschaftlicher Texte durch die parteibürokratische Sprache der offiziel‐
len politischen Kommunikation mindern nicht nur den Lesespaß. Sie erschwe‐
ren auch den Zugang zu den Inhalten.
Dringt man zu diesen dennoch vor, wird deutlich, dass weite Teile der DDR‐ge‐
sellschaftswissenschaftlichen Textproduktion durch eine aparte Mischung ge‐
kennzeichnet sind: Selbstwidersprüchliche schematisch‐dialektische Begriffsar‐
beit – nebenbei: etwas zutiefst unmarxistisches – ist verbunden mit Sortierun‐
gen des ideengeschichtlichen Erbes und der zeitgenössischen nichtmarxistisch‐
leninistischen Theorieproduktion nach deren jeweiligen kognitiven Verfehlun‐
gen, die in Scharfrichtermanier zu den Akten gegeben sind. Das ist für den heu‐
tigen Leser nicht immer vergnügliche Lektüre (und war es auch schon für den zeitgenössischen Leser nur ausnahmsweise). Innerhalb dieses Teils der Überlie‐
ferung lassen sich drei Textarten unterscheiden:
Zum ersten ist die realsozialistische Scholastik zu nennen, die historisch und empirisch nicht zu irritieren war. Sie kannte statt forschender Ungewissheit über den Ausgang ihrer Anstrengungen nur die Gewissheit, dass vorfindliche Lehrsätze (meist von Marx, Engels, Lenin, daneben Ulbricht, Hager, Honecker usw.) durch Entfaltung in widerspruchsfreien Argumentationssystemen „bewie‐
sen“ werden können. Verschiebungen gab es hier lediglich dann, wenn es poli‐
tisch bedingt zu Neuakzentuierungen kam, bspw. Stalin plötzlich kein Klassiker mehr und damit ein Großteil des Zitatenschatzes obsolet geworden war.
Zum zweiten gibt es diejenigen Arbeiten, die bedeutsam innerhalb des sys‐
temischen Kontextes des realen Sozialismus bzw. des DDR‐Systems waren. Sie zählen in Teilen zu den interessanteren Elementen einer (noch zu schreiben‐
den) DDR‐Ideengeschichte.
Zum dritten finden sich die Arbeiten, die auch über ihren gesellschaftlichen Entstehungskontext hinaus anhaltende Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, weil sie sich kontextüberschreitend in eine Geschichte ihrer Disziplin einordnen lassen, dort wirksam sind oder sein könnten, den Fortgang des fachlichen Den‐
kens irritieren oder stimulieren, als sinnvolle und fruchtbare Referenzpunkte der Debatten zu bestimmten Themen wirksam werden könnten. Manche The‐
sen, Deutungen oder Erklärungen, die diesem Teil der DDR‐Gesellschaftswissen‐
schaften entstammen, könnten wohl durchaus eine Bereicherung auch künfti‐
ger Debatten sein. Sie mögen u.U. Gegenstand späterer Wiederentdeckung
werden, denn auch davon lebt ja der wissenschaftliche Betrieb zu einem gewis‐
sen Teil.40
Dass die letztgenannte Gruppe ein sehr kleines Segment innerhalb der gesell‐
schaftswissenschaftswissenschaftlichen Produktion umfasst, ist im übrigen nicht DDR‐typisch: Der größte Teil jeglicher Fachliteratur erfüllt seine wissens‐
geschichtliche Funktion, indem die jeweilige Publikation eine Meldung im Rah‐
men einer Diskussion ist, die eine Zeitlang ebendiese Diskussion zu beeinflussen sucht, sie u.U. auch zu prägen vermag, alsbald aber erledigt wird durch nachfol‐
gende Publikationen. Die Ausnahmen von dieser Regel werden nur dadurch zu diesen Ausnahmen, dass die Regel gilt.
Hinzu tritt eines: Da jeder professionell nachdenkende Mensch, wie es Wissen‐
schaftler/innen sind, auch zu Denkergebnissen kommt, mussten sich mindes‐
tens gelegentlich auch Dissonanzen zu Realentwicklungen ergeben. Der darauf‐
hin formulierte Widerspruch war gebremst vorzutragen, wenn er eine Chance auf Veröffentlichung haben sollte – etwa als nuancierte Abweichung von her‐
gebrachten Sprachschablonen, als Frage, die „noch intensiver“ untersucht wer‐
den müsse, oder als Antwort, die „noch umfassender“ Anwendung finden müs‐
se. Die sozialwissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Texte jenseits der realsozialistischen Scholastik pflegten also meist einen Stil der sprachlichen Entschärfung für Mitteilungen, die politisch beunruhigend waren oder hätten sein können. Daher verlangt die Lektüre und angemessene Einordnung dieser Texte häufig ausgeprägte Decodierungsfertigkeiten.
Dies spiegelt die Umstände und Schwierigkeiten gesellschaftswissenschaftlicher Forschung in der DDR wider. Politisch gefordert war insbesondere handlungsre‐
levantes Wissen. Dazu mussten Probleme herausgearbeitet werden. Doch die politischen Vorlieben galten einer sozialistischen Gesellschaftswissenschaft, die vor allem darlegte, dass Probleme bereits überwunden seien. Um die Spannun‐
gen im Umgang mit Problemen zu handhaben und Veröffentlichungschancen zu sichern, mussten die Ergebnisse der Forschung in der verklausulierten Sprache vorgelegt werden. Diese ist in ihrem oft bürokratischen Duktus sehr hermetisch.
Gelingt es aber, sie zu entschlüsseln, gewinnen die Texte nicht selten auf‐
schlussreichen Informationsgehalt. Die Schlüssel zur Deutung sind dreierlei:
Zum ersten war es im offiziellen – politischen wie wissenschaftlichen Sprachgebrauch – der DDR üblich geworden, möglichst nicht Probleme, sondern Lösungen zu benennen. Wo auf Problembenennungen verzichtet wird, ist der Leser daher genötigt, aus der vorgeschlagenen Lösung das zugrundeliegende Problem herauszupräparieren. Umgekehrt ist dort, wo lediglich etwas beschrie‐
ben und auf eine Lösungsbenennung verzichtet wird, ein bislang ungelöstes Problem zu vermuten. Dieses musste aber von den Autoren verklausuliert wer‐
den, da bereits der Verzicht auf einen Lösungsvorschlag Renitenzverdacht er‐
zeugen konnte.
Zum zweiten mussten verklausulierte Problembenennungen ebenso wie Lö‐
sungsvorschläge immer zum politischen Grundverständnis des Sozialismus pas‐
40 vgl. unten A. 3.4.3. Reaktivierungsbedürftiges Wissen?
sen. Danach oblag der Arbeiterklasse die historische Mission, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung durchzusetzen. Was diesem Grundverständnis nicht ent‐
sprach, wurde nicht veröffentlicht. Also entspricht alles Veröffentlichte diesem Grundverständnis.
Zum dritten gab es verklausulierende Sprachregelungen. So wurden etwa die Formulierungen „immer mehr“ und „noch besser“ benutzt, um negativ be‐
wertete Sachverhalte in positive Nachrichten umzuformulieren. In der Regel las‐
sen sich beide Ausdrücke getrost in ihrer Umkehrung lesen, um dem Gemeinten nahezukommen. Auch die häufige Vokabel „Weiterentwicklung“ ist als Defizit‐
markierung zu lesen: Wo ein Anliegen „weiterzuentwickeln“ war, dort war es bislang ignoriert worden. Ebenso war die Beschreibung, dass man einer Sache noch „nicht voll gerecht“ werde, eine typische DDR‐gesellschaftswissenschaftli‐
che Umschreibung für: wurde bisher komplett verfehlt. Wenn dann doch ein‐
mal nicht darauf verzichtet werden konnte, gesellschaftliche Probleme explizit zu thematisieren, dann waren diese Probleme nicht bisher unbearbeitet (wie es meist die zutreffende Beschreibung gewesen wäre), sondern „nunmehr heran‐
gereift“ – also genau in diesem Augenblick aufzugreifen.
Wie das konkret aussah, lässt sich nur im Detail nachvollziehen. Oben hatten wir drei DDR‐gesellschaftswissenschaftliche Textarten unterschieden: die real‐
sozialistische Scholastik; Arbeiten, die bedeutsam innerhalb des systemischen Kontextes des realen Sozialismus bzw. des DDR‐Systems waren, und Arbeiten, die auch über ihren gesellschaftlichen Entstehungskontext hinaus anhaltende Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen. Häufig stößt man bei der Lektüre aber auch darauf, dass sich solche Charakteristiken innerhalb eines einzelnen Textes finden und gegenseitig überlagern. Nachfolgend einige Beispiele.
Der Artikel „Gesellschaftswissenschaften“ im Philosophischen Wörterbuch
Vereinfachend ist z.B. folgende Prüfung möglich, die nur anhand konkreter Ein‐
zeltexte unternommen werden kann: Inwiefern und in welchem Maße wurde in gesellschaftswissenschaftlichen Beiträgen auf (a) der Basis normativer politi‐
scher Vorannahmen oder aber (b1) auf empirischer Grundlage bzw. (b2) auf Ba‐
sis innerwissenschaftlicher Entscheidungen operiert?
Da Lexikonartikel eine inhaltlich besonders konsolidierte Textsorte darstellen, soll diese Unterscheidung hier exemplarisch anhand des Stichworts „Gesell‐
schaftswissenschaften“ im Philosophischen Wörterbuch (Eichhorn 1976: 487‐
490), veröffentlicht vom Bibliographischen Institut Leipzig, erprobt werden (Übersicht 6).
Übersicht 6: Stichwort „Gesellschaftswissenschaften“ (Philosophisches Wörterbuch): Anteile politisch‐normativer und wissenschaftlicher Aussagen
Begriffsbestimmungen auf Basis normativer politischer Vorannahmen
Begriffsbestimmungen auf empirischer Basis bzw.
auf Basis innerwissenschaftlicher Entscheidungen Gesamtheit der Wissenschaften von den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen, von den Gesetzmäßigkeiten und Triebkräften ihrer geschichtlichen Entwicklung. Der oft anzutref‐
fende Ausdruck «Geisteswissenschaften» ist falsch, da er auf der idealistischen Vorstellung beruht, daß die Wissenschaften von der Gesellschaft im Gegensatz zu den Naturwissenschaf‐
ten nicht materiell determinierte Erscheinungen und Gesetze, sondern geistige Gegebenhei‐
ten zum Gegenstand haben. Entstehung und Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften sind in mancher Hinsicht anders verlaufen als die der Naturwissenschaften, was mit einigen Besonderheiten der Gesellschaftswissenschaften zusammenhängt.
Erstens erfolgt der Durchbruch der Gesellschaftswissenschaften später als der der Naturwis‐
senschaften. Soweit es die Gesellschaftswissenschaften mit der theoretischen Bewältigung gesamtgesellschaftlicher und geschichtlicher Zusammenhänge zu tun haben – und damit hat es in letzter Instanz jede gesellschaftswissenschaftliche Disziplin zu tun – fällt der eigentliche Beginn der Gesellschaftswissenschaften mit der Begründung des Marxismus Ende der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts zusammen.
Zweitens sind gesellschaftswissenschaftliche Theorien viel direkter mit gesellschaftlichen Inte‐
ressen, mit den politischen, ideologischen, weltanschaulichen Forderungen verschiedener Klassenkräfte, also mit dem politischen Parteienkampf verbunden als die Naturwissenschaf‐
ten. Auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften bringt die Entwicklung von Theorien mehr oder weniger genau den Kampf von Klassen, den Gegensatz ihrer Interessen und insbe‐
sondere ihre historische Rolle zum Ausdruck. Drittens hängt die Entwicklung gesellschaftswis‐
senschaftlicher Theorien viel unmittelbarer mit richtigen oder falschen philosophisch‐weltan‐
schaulichen Konzeptionen zusammen.
Die Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften in Unabhängigkeit von religiösen, theologi‐
schen, spekulativen und subjektivistischen Gesellschaftsauffassungen setzt die Ausarbeitung der materialistischen Theorie der Geschichte und der Gesellschaft als Ganzes voraus.
Anfänge einer wissenschaftlichen Erforschung des gesellschaftlichen Lebens finden sich natür‐
lich lange vor der Entstehung des Marxismus. Bereits das griechische und römische Altertum bringt es zu beachtlichen Leistungen in der Geschichtsschreibung, in der Ökonomie, in der Theorie über Staat und Recht. Aber erst die Bourgeoisie, die im Begriffe ist, ihre eigene Gesell‐
schaftsordnung zu schaffen und ihre Klassenherrschaft aufzubauen, bringt entscheidende An‐
sätze zur Entwicklung einer ganzen Reihe gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen hervor.
Vor allem sind zu erwähnen: die klassische bürgerliche Ökonomie, die bürgerliche Geschichts‐
schreibung und Geschichtstheorie, die bürgerlichen Klassenkampf‐und Staatstheorien sowie Ansätze zur soziologischen Theorienbildung und zur theoretischen Bewältigung der Zukunfts‐
problematik.
Alle diese Ansätze überschreiten jedoch nicht den Rahmen der idealistischen Gesellschaftsthe‐
orie und des Utopismus, und sie bleiben befangen in den Schranken des bürgerlichen Ge‐
schichtsdenkens, das die gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise als ewige Naturbedingungen ansieht. Von diesen Ansätzen gilt daher, was MARX (23, 20f.) von der klassischen bürgerlichen Ökonomie sagt:
Ihre Entwicklung fällt in die Periode des unentwickelten Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit. «Mit dem Jahr 1830 trat die ein für allemal entscheidende Krise ein. Die Bourgeoisie hatte in Frank‐
reich und England politische Macht erobert. Von da an gewann der Klassenkampf, praktisch und theore‐
tisch, mehr und mehr ausgesprochne und drohende Formen. Er läutete die Totenglocke der wissenschaftli‐
chen bürgerlichen Ökonomie. Es handelte sich jetzt nicht mehr darum, ob dies oder jenes Theorem wahr sei, sondern ob es dem Kapital nützlich, schädlich, bequem oder unbequem, ob polizeiwidrig oder nicht. An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei, an die Stelle unbefangner wissenschaftli‐
cher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht der Apologetik.» Die Entwicklung der
Begriffsbestimmungen auf Basis normativer politischer Vorannahmen
Begriffsbestimmungen auf empirischer Basis bzw.
auf Basis innerwissenschaftlicher Entscheidungen Gesellschaftswissenschaften, die auf der Grundlage des Marxismus‐Leninismus erfolgt, ist mit der Entwicklung der Arbeiterklasse und ihres Klassenkampfes verbunden.
Sie ist die konsequent revolutionäre Klasse, die keine engen klassenmäßigen Sonderinteressen gegenüber der geschichtlichen Entwicklung hat. Ihr Kampf um die sozialistische und kommu‐
nistische Gesellschaft entspricht vollauf den Erfordernissen des geschichtlichen Fortschritts und den Interessen der werktätigen Menschheit. Sie kann ihre Klassenziele nur erreichen, wenn sie alle Werktätigen zum bewußten historischen Schöpfertum emporhebt. Nur sie ist in der Lage, mit der Erkämpfung des Sozialismus jene Geschichtsperiode einzuleiten, in der die Menschen ihre gesellschaftliche Entwicklung vorausschauend, planmäßig, bewußt gestalten.
Sie hat daher ein unbeschränktes Interesse an der Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte des Geschichtsprozesses.
Die marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften entwickeln sich als theoretischer Ausdruck und theoretische Fundierung der wissenschaftlich begründeten, revolutionären Pra‐
xis der Arbeiterklasse und des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus, als theoretisches Instrument der Führung der Massen durch die marxistisch‐leninistische Partei der Arbeiterklas‐
se. Das Prinzip der unbedingten Einheit von strengster wissenschaftlicher Objektivität und re‐
volutionärer Parteilichkeit ist daher ein grundlegendes Prinzip der marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften.
Seit der Herausbildung der revolutionären Arbeiterbewegung und vor allem seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution wird die Entwicklung in der bürgerlichen Geschichts‐ und Ge‐
sellschaftstheorie maßgeblich durch das Bedürfnis der Apologetik, der Verdunkelung wissen‐
schaftlicher Einsichten in den Prozeß der allgemeinen Geselfschaftsentwicklung, des Kampfes gegen den Sozialismus und gegen die marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften, der geistigen Manipulierung der Massen und der ideologischen Diversion gegen die sozialisti‐
schen Länder bestimmt.
Das bedeutet aber keineswegs, daß im Bereich der bürgerlichen Sozialtheorien keine echten wissenschaftlichen Leistungen möglich sind.
Für die Gesellschaftswissenschaften gilt allgemein, was LENIN (14, 347) in bezug auf die Philo‐
sophie und die politische Ökonomie sagt: daß man «keinem einzigen Professor der politischen Öko‐
nomie, der imstande ist, auf dem Gebiet spezieller Tatsachenforschung die wertvollsten Arbeiten zu liefern, auch nur ein einziges Wort glauben darf, sobald er auf die allgemeine Theorie der politischen Ökonomie zu sprechen kommt. Denn diese letztere ist eine ebenso parteiliche Wissenschaft in der modernen Gesellschaft wie die Erkenntnistheorie. Im großen und ganzen sind die Professoren der politischen Ökonomie nichts an‐
deres als die gelehrten Kommis der Kapitalistenklasse und die Philosophieprofessoren die gelehrten Kommis der Theologen. Die Aufgabe der Marxisten ist nun hier wie dort, zu verstehen, sich die von diesen ,Kommis‘
gemachten Errungenschaften anzueignen und sie zu verarbeiten (man kann z.B., wenn man die neuen öko‐
nomischen Erscheinungen studieren will, keinen Schritt tun, ohne sich der Werke dieser Kommis zu bedie‐
nen), und zu verstehen, die reaktionäre Tendenz derselben zu verwerfen, der eigenen Linie zu folgen und die ganze Linie der uns feindlichen Kräfte und Klassen zu bekämpfen». Eine allseitige, schöpferische Ent‐
wicklung der Gesellschaftswissenschaften ist nur auf der Grundlage der marxistisch‐leninisti‐
schen Gesellschafts‐und Geschichtstheorie und nur durch entschlossene Orientierung der ge‐
sellschaftswissenschaftlichen Arbeit an den Bedürfnissen der revolutionären sozialistischen Weltbewegung möglich. Nur diese Orientierung entspricht vollauf dem humanistischen Anlie‐
gen der wissenschaftlichen Tätigkeit.
Die geschichtliche Entwicklung der marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften ent‐
spricht in den Grundzügen den Entwicklungsstufen des proletarischen Klassenkampfes und der sozialistischen Weltbewegung sowie den Erfordernissen der Führungstätigkeit der marxistisch‐
leninistischen Arbeiterparteien. Es können zwei wesentliche Entwicklungsetappen unterschie‐
den werden.
Erste Etappe: Die Begründung und Entwicklung der marxistischen Gesellschaftswissenschaften
Begriffsbestimmungen auf Basis normativer politischer Vorannahmen
Begriffsbestimmungen auf empirischer Basis bzw.
auf Basis innerwissenschaftlicher Entscheidungen letarischen Klassenkampfes gegen den Imperialismus und für die sozialistische Revolution.
Zweite Etappe: Die Entwicklung des Leninismus als des Marxismus in der Etappe der proletari‐
schen Revolution und des Aufbaus des Sozialismus und Kommunismus.
Heute wird der entscheidende Beitrag zur weiteren Entwicklung der marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften durch das Kollektiv der kommunistischen und Arbeiterparteien, an ihrer Spitze die Kommunistische Partei der Sowjetunion, geleistet. In den sozialistischen Ländern wurde der Marxismus‐Leninismus zur theoretischen Grundlage aller gesellschaftswis‐
senschaftlichen Tätigkeit. Hierbei haben die Gesellschaftswissenschaften einen mächtigen Auf‐
schwung erfahren, der sich in erster Linie in der bewußten und planmäßigen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft selbst und in der massenhaften Herausbildung der sozialistischen Weltanschauung der Werktätigen niederschlägt. Sie üben heute bereits direkt oder indirekt ei‐
nen bestimmenden Einfluß auf das sozialtheoretische Denken in der ganzen Welt aus.
Die marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften sind von Anbeginn an im Kampf gegen bürgerliche, kleinbürgerliche, imperialistische Theorien, darunter gegen den Revisio‐
nismus, gewachsen.
Eine der wichtigsten Gegenwartsaufgaben der Gesellschaftswissenschaften besteht darin, die ideologische Offensive des Marxismus‐Leninismus gegen alle Erscheinungen der bürgerlichen Ideologie auf höherer Stufe verstärkt fortzusetzen.
Die marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften bilden eine Gesamtheit philoso‐
phisch‐weltanschaulicher und philosophisch‐soziologischer (dialektischer und historischer Materialismus, Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik), einzel‐wissenschaftlich‐systematischer (po‐
litische Ökonomie, Staats‐ und Rechtstheorie, Sprachwissenschaften, Soziologie, Sozialpsycho‐
logie) und historischer (Wissenschaften von der allgemeinen Geschichte, von der Geschichte der Arbeiterbewegung, von der Geschichte der Kultur, von der Geschichte des wissenschaftli‐
chen und philosophischen Denkens) Disziplinen.
Die Entwicklung dieser Gesamtheit wird primär geprägt durch die Wissenschaft von der Füh‐
rung des Klassenkampfes und der Leitung der sozialistischen Gesellschaft (Strategie und Taktik der Partei der Arbeiterklasse), die vor allem durch die theoretische Tätigkeit der Partei der Ar‐
beiterklasse selbst entwickelt wird.
Im Zusammenhang mit der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und mit dem sich verschärfenden ideologischen Kampf zwischen Sozialismus und Imperialismus erlan‐
gen die marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften größere Bedeutung. Es wächst ihre weltanschauliche und ideologische Rolle, ihre Funktion bei der Weiterentwicklung und Verbreitung der marxistisch‐leninistischen Weltanschauung und bei der Vermittlung gesell‐
schaftswissenschaftlicher Erkenntnisse unter den breiten Massen des werktätigen Volkes. Die‐
se Funktion ist den marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften wesenseigen, ent‐
sprechend dem Hinweis von MARX, daß die Theorie zur materiellen Gewalt wird, sobald sie die Massen ergreift. Hier tritt insbesondere auch die Bedeutung hervor, die der allseitigen Anwen‐
dung und Entwicklung der philosophischen Grundlagen der marxistisch‐leninistischen Gesell‐
schaftswissenschaften, dem dialektischen und historischen Materialismus, zukommt.
Eine wichtige Aufgabe, die in Zukunft immer größere Bedeutung erlangen wird und in der sich die entscheidenden Anforderungen an die Gesellschaftswissenschaften zusammenfassen, be‐
steht in der Schaffung eines maximal anwendungsbereiten theoretischen Vorlaufs für die rich‐
tige Lösung der beim sozialistischen Aufbau auftretenden praktischen Probleme. Dabei treten Fragen der Prognose, der Leitung und Planung der Gesellschaftsentwicklung, der Aufdeckung und Nutzung der objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, des weiteren Zusammen‐
schlusses der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft, des revolutionären Weltprozes‐
ses sowie der beim Aufbau des Kommunismus vor sich gehenden Prozesse auf dem Gebiet der Produktivkräfte, der Produktionsverhältnisse und des Überbaus immer stärker in den Mit‐
telpunkt. Die Bestimmung der konkreten Arbeitsrichtungen, die sich hieraus ergeben, gehört
Begriffsbestimmungen auf Basis normativer politischer Vorannahmen
Begriffsbestimmungen auf empirischer Basis bzw.
auf Basis innerwissenschaftlicher Entscheidungen zu den aktuellsten Erfordernissen der gesellschaftswissenschaftlichen Arbeit.
In diesem Zusammenhang wird es immer wichtiger, alle gesellschaftswissenschaftlichen Fra‐
gen von der Gesamtposition des Marxismus‐Leninismus aus anzupacken und die kritische und revolutionäre materialistische Dialektik allseitig anzuwenden. Ein grundlegendes Erfordernis der Entwicklung der marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften besteht in der im‐
mer engeren Kooperation der gesellschaftswissenschaftlichen Arbeit in den Ländern der sozia‐
listischen Staatengemeinschaft, in der gemeinsamen Lösung der sich aus dem sozialistischen Aufbau und aus dem Kampf gegen den Imperialismus ergebenden wissenschaftlichen Aufga‐
ben.
Ähnlich wie in anderen Wissenschaften findet auch in den Gesellschaftswissenschaften ein Prozeß der Differenzierung und Spezialisierung statt.
Gleichzeitig sind jedoch das stark wachsende Bedürfnis und die Tendenz nach Integration der marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften auf der Basis des dialektischen und his‐
torischen Materialismus und auf der Grundlage der strategischen Linie der Partei hervorzuhe‐
ben. Die Integrationsbedürfnisse und ‐tendenzen ergeben sich vor allem aus der Orientierung der theoretischen Arbeit an den praktischen Erfordernissen des sozialistischen Aufbaus und am Kampf für die Durchsetzung der einheitlichen marxistisch‐leninistischen Weltanschauung.
Im Bereich der marxistisch‐leninistischen Gesellschaftswissenschaften kann es keine strengen Grenzlinien und vor allem keine Trennung von philosophischen und einzelwissenschaftlichen, systematischen und historischen Disziplinen geben. Ferner zeitigt der wissenschaftlich‐techni‐
sche Fortschritt beim Aufbau des entwickelten Sozialismus in vielfältiger Weise Tendenzen der Berührung und Überschneidung von Naturwissenschaften, technischen Wissenschaften und Gesellschaftswissenschaften, die u.a. in philosophisch‐weltanschaulicher und philoso‐
phisch‐methodologischer Hinsicht von größter Wichtigkeit sind.
Textanteil 60 % Textanteil 40 %
Quelle: Eichhorn (1976: 487‐490). Einige Absatzumbrüche zusätzlich eingefügt
Auffällig sind an den politisch‐normativen Passagen dieser lexikalischen Be‐
griffserläuterung vor allem zwei Punkte:
Der Beginn der Gesellschaftswissenschaften wird auf den Beginn der theo‐
retischen Arbeit von Karl Marx datiert. Zugleich war die Fächergruppe als die Wissenschaften von den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen, den Gesetzmäßigkeiten und Triebkräften ihrer geschichtlichen Entwicklung be‐
stimmt worden. Solche wissenschaftlichen Arbeiten hatte es zweifelsohne be‐
reits vor den 1840er Jahren gegeben, wie sich auch bestätigt findet: „Anfänge einer wissenschaftlichen Erforschung des gesellschaftlichen Lebens finden sich natürlich lange vor der Entstehung des Marxismus.“ Daraus seien aber lediglich
„Gesellschaftsauffassungen“ entstanden, da es diesen Bemühungen „der mate‐
rialistischen Theorie der Geschichte und der Gesellschaft als Ganzes“ ermangelt habe. Die Bourgeoisie, so heißt es dann, bringe aber immerhin „entscheidende Ansätze“ zur Entwicklung einer ganzen Reihe gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen hervor. „Alle diese Ansätze überschreiten jedoch nicht den Rahmen der idealistischen Gesellschaftstheorie und des Utopismus, und sie bleiben be‐
fangen in den Schranken des bürgerlichen Geschichtsdenkens“.
Als eine zentrale scholastische Aussage wird man kennzeichnen dürfen, dass