Ab- und Umbauten seit 1990
3.3. Inhalte
In der Kernphase des Umbruchs – Oktober 1989 bis zu den Wahlen im Mai 1990 – gab es auch zahlreiche Initiativen aus dem akademischen Raum, gesellschaft‐
liche Reformaktivitäten anzustoßen (insbesondere bei der Formulierung eines Dritten Weges der Integration von Plan‐ und Marktwirtschaft) oder mit Exper‐
tise zu stärken (etwa bei der Schulbildungsreform oder der Neuausrichtung des Umwelt‐ und Naturschutzes). Die Resonanz auf solche Angebote war in dieser kurzen, aber extrem ereignisverdichteten Phase beträchtlich. Doch sank sie als‐
bald gegen Null, nachdem die inhaltliche Richtung des Wandels von der Idee ei‐
nes verbesserten Sozialismus zur deutschen Einheit umgeschwenkt war. Für diese Situation gab es im akademischen Bereich – ähnlich wie in den Bürgerbe‐
wegungen – weder den Willen noch Vorarbeiten, noch spontan zu mobilisieren‐
de intellektuelle Ressourcen, um den Prozess aktiv mit eigenen Beiträgen mitzu‐
gestalten.
3.3.1. Wissenschaftsratsempfehlungen und ihre Umsetzung Der Wissenschaftsrat hatte 1991 die sozial‐ und geisteswissenschaftlichen Insti‐
tute der Akademie der Wissenschaften, der Bauakademie und die Forschungs‐
und Editionsabteilungen der Akademie der Künste zu Berlin (Ost) systematisch evaluiert. Für die geistes‐ und sozialwissenschaftlichen Hochschuleinrichtungen war eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden, deren Beratungen „in weitgehender Abstimmung mit den Landeshochschulstrukturkommissionen“ erfolgt seien (Wissenschaftsrat 1992c: 7). Die sozial‐, wirtschafts‐ und rechtswissenschaftli‐
chen Institute der AdW wurden komplett zur Auflösung empfohlen. Für den Neuaufbau der ostdeutschen Geisteswissenschaften formulierte der Wissen‐
schaftsrat folgende Zielgrößen:88
Schaffung einer in sich verträglichen Wissenschaftsstruktur in Deutschland bei gleichzeitiger Aufnahme von identifizierten innovativen Ansätzen in den ostdeutschen Instituten und Universitäten;
Nutzung der Chance, „erkennbare Schwachstellen und Fehlentwicklungen in den Geisteswissenschaften in den alten Ländern zu vermeiden und Innova‐
tionen einzuführen“;
Wiederherstellung der Einheit von Lehre und Forschung;
Wiederherstellung der notwendigen disziplinären Vielfalt;
Schaffung regional abgestimmter Schwerpunkte über länderübergreifende Koordinierung der Universitäten;
Beachtung der „inneren Vielfalt der Zugriffe, Fragestellungen und Metho‐
den“ bei den Berufungen in den einzelnen Fächern;
Aufnahme von 31 Forschungs‐ und Editionsvorhaben in die gemeinsame Förderung des von der Konferenz der Akademie der Wissenschaften koor‐
dinierten Programms;
Erhaltung des Instituts für sorbische Volksforschung Bautzen „als selbstän‐
diges Forschungsinstitut besonderer Art“;
Gründung von sieben geisteswissenschaftlichen Zentren: für Zeitgeschichte (besonders von SBZ und DDR), zur Wissenschaftsgeschichte und ‐theorie,
88Kompiliert aus „Perspektiven für Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zur deutschen Einheit. Zwölf Empfehlungen. Vom Juli 1990“ (Wissenschaftsrat 1990), „Stellungnahmen zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern und in Berlin. Allge‐
meiner Teil“ (Wissenschaftsrat 1992c), „Stellungnahmen zu den außeruniversitären For‐
schungseinrichtungen der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften und zu den Forschungs‐ und Editionsabteilungen der Akademie der Künste zu Berlin“ (Wissenschaftsrat 1992a), „Empfehlungen zu den Geisteswissenschaften an
zur Aufklärungsforschung, zur Erforschung des modernen Orients, zur All‐
gemeinen Sprachwissenschaft, zur Literaturforschung und zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas;
Erhaltung des Zusammenhangs der an der Akademie der Künste zu Berlin [Ost] praktizierten archivalischen Sammlungstätigkeit, editorischen Bearbei‐
tung und kunstwissenschaftlichen Forschung in der Form einer Stiftung, wobei der Forschungsbereich über ca. 30 Stellen, davon etwa 15 bis 20 für Wissenschaftler/innen, verfügen sollte;
an den Universitäten Erneuerung und Konsolidierung der einzelnen jeweils vorhandenen Fächer sowie Wiederaufbau von auf Restformen reduzierten Fächern vor einem Bestreben nach Komplettierung des Fächerkanons durch ungenügend arbeitsfähige Einzelprofessuren;
Neuaufbau von Fächern nur dann, wenn von Beginn an wenigstens eine Mindestausstattung gesichert ist;
quer zur disziplinären Situierung der Fächer fachübergreifende, flexible Or‐
ganisationsformen („inneruniversitäre Zentren“), „um die Kooperation zwi‐
schen den Fächern zu erleichtern und die kulturwissenschaftliche Öffnung der Geisteswissenschaften zu fördern“;
in den einzelnen Fächern Verbindung der jeweiligen Grunderfordernisse mit verschiedenen Spezialisierungen, die disziplinären Weiterentwicklungsmög‐
lichkeiten Rechnung tragen;
Um‐ und Neustrukturierung nicht allein mit Orientierung an den Einzelfä‐
chern, sondern vor allem auch mit Blick auf günstige Bedingungen für deren Kooperation, zu diesem Zwecke unterschiedliche Schwerpunktbildungen, insbesondere: Berlin: Wissenschaftsgeschichte, „Alte Welt“; Potsdam: Zeit‐
geschichte (besonders DDR‐Geschichte); Greifswald: Interdisziplinäres Zent‐
rum für Nordistik/Baltistik; Rostock: Interdisziplinäres Zentrum zur Erfor‐
schung der indigenen Kulturen Amerikas; Leipzig: Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Afrika, Zentralasien; Halle/S.: Aufklärungsforschung, Orientarchäologie; Jena: Weimarer Klassik und Deutscher Idealismus.
Ein disziplinär breites geisteswissenschaftliches Angebot im gesamten ostdeut‐
schen Siedlungsgebiet konnte in der Folge als flächendeckend wiederhergestellt gelten. Insgesamt war durch zahlreiche Neu‐ oder Wiedereinrichtungen bzw.
Anhebungen einzelner Fächer auf lebensfähige Ausstattungsgrößen die für Volluniversitäten notwendige Fächerbreite wieder gegeben. Hinzu traten Neu‐
gründungen von Universitäten und der Fachhochschulen sowie der sozial‐ und geisteswissenschaftliche Ausbau der TUs.
Schwerpunkte an den einzelnen Universitäten, wie sie der Wissenschaftsrat empfohlen hatte, sind in der Tat entstanden, häufig auch institutionell durch die angeregten fächerübergreifenden inneruniversitären Zentren gerahmt (Übersicht 9).
Übersicht 9: Geistes‐ und sozialwissenschaftliche Forschungsschwerpunkte der ostdeutschen Universitäten
Universität Forschungsschwerpunkte
Greifswald
Der Ostseeraum unter historischen, sozial‐ und naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten incl. nordeuropäische/
baltische Studien, Hanseforschung
Kultur des Mittelalters Computerphilologie
Rostock Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume Marine Systeme und Prozesse Demographische Wandel: Ursachen & Konsequenzen
HU Berlin
Antikeforschung Die großen Transformationen von Mensch‐Umwelt‐Systemen Metropolenforschung
Bildungsforschung Arbeit und Lebenslauf in global‐
geschichtlicher Perspektive Bildwissenschaften
Potsdam Erziehungswissenschaften Kulturen im Vergleich Cottbus‐Senftenb. Stadtumbau und Stadtrückbau
Frankfurt/Oder
Transformationsprozes‐
se bei der Annäherung Ost‐Europas an das übrige Europa
Aufgaben und Bedeutungsveränderungen in‐
ternationaler Beziehungen und Institutionen Funktionswandel der Geisteswissenschaften zu Handlungs‐ und Gestaltungswissenschaften Halle‐Wittenberg Ethnologie Aufklärung und Pietismusforschung
Orientwissenschaften Bildungsforschung
Leipzig Globale Verflechtungen und Vergleiche Riskante Ordnungen Sprache und Kultur im Digitalen Zeitalter Kognitionswissenschaften Dresden Bevölkerung, Infrastruktur und Verkehr
Chemnitz Kundenorientierte Gestaltung von vernetzten Wertschöpfungsketten Kommunikation – Medien – Technik
Freiberg Innovationsforschung wirtschaftliche Transformation Jena Profillinie LIBERTY: Sozialer Wandel, Aufklärung, Romantik und
Zeitgeschichte
Ilmenau Unternehmen, Märkte und Ordnungen im Wandel – Innovative Produkte und Prozesse
Weimar Medienforschung Urbanistik
Erfurt Language & Mind empirische Wirtschafts‐ und Sozialforschung Interdisziplinäres Forum Religion Kommunikation und digitale Medien Quellen: Pasternack (2007: 50‐55) und aktualisierende Internetrecherchen 11/2015
Auch die Schaffung einer „in sich verträglichen Wissenschaftsstruktur in Deutschland“ kann konstatiert werden. Doch deren empfohlene Verbindung mit der „gleichzeitigen Aufnahme von identifizierten innovativen Ansätzen“ an ostdeutschen Einrichtungen blieb marginal und der Bedienung von Partikularin‐
teressen einzelner Fraktionen in den Fachgemeinschaften nachgeordnet. Pro‐
filbildung wurde fast überall erfolgreich versucht: durch bestimmte fachliche Kombinationen, speziell denominierte Professuren usw. Die Wissenschaftsrats‐
Aufforderung, „erkennbare Schwachstellen und Fehlentwicklungen in den Geis‐
teswissenschaften in den alten Ländern zu vermeiden und Innovationen einzu‐
führen“,89 blieb, im ganzen betrachtet, unbeachtet.
Die geforderte „Wiederherstellung der Einheit von Forschung und Lehre“ war im vom Wissenschaftsrat gemeinten Sinne nicht notwendig, da Forschung und Lehre nicht so wie unterstellt getrennt gewesen waren. Die dauerhafte Stär‐
kung des Forschungspotenzials der Hochschulen durch Akademiewissenschaft‐
lerInnen wurde mit dem Wissenschaftler‐Integrations‐Programm versucht und zugleich ein seminaristisch höchst geeignetes Beispiel für politische Problem‐
verschiebung.90
Die „Wiederherstellung der notwendigen disziplinären Vielfalt“ wurde zunächst weitgehend erreicht. Die in der der DDR „auf Restformen reduzierten Fächer“
fanden sich großteils wieder auf arbeitsfähige Größen ausgebaut. Einige Beson‐
derheiten konnten dabei erhalten werden: Kulturwissenschaften an der Hum‐
boldt‐Universität und in Leipzig, der Schwerpunkt Buch/Verlage/Archive/ Mu‐
seum an der HTWK (FH) Leipzig, die Journalistikausbildung in Leipzig, die Ge‐
schlechterforschung an der Humboldt‐Universität. Mit dem Deutschen Literatu‐
rinstitut zur Ausbildung von (potenziellen) Schriftstellern verfügt Leipzig über eine deutschlandweite Singularität. Trotz aller Abbau‐ und Konzentrationsvor‐
gänge konnte an den ostdeutschen Universitäten die in der DDR praktizierte Differenzierung der Slawistik in Einzelslawinen beibehalten werden. An der Humboldt‐Universität wurde ein Nordeuropa‐Institut neu gegründet, wobei die vormalige HU‐Nordistik und die FU‐Skandinavistik integriert worden sind.
Anderes war anfangs der 90er Jahre final abgewickelt worden, obgleich es An‐
sätze repräsentierte, die in anderen Zusammenhängen als notwendig bezeich‐
net wurden. Das betraf etwa im Bereich der Regional Studies die Lateinamerika‐
wissenschaften in Rostock und die Afrika‐ und Nahostwissenschaften in Leipzig.
Für die regionalwissenschaftlichen Fächer an allen ostdeutschen Universitäten muss konstatiert werden: Deren in der DDR prägendes Element, die enge Ver‐
bindung von geistes‐ und sozialwissenschaftlichen Arbeiten – also Sprache und Kultur, Literatur und Gesellschaft, Geschichte und Ökonomie – hatte den Um‐
bau nicht überlebt. An der Humboldt‐Universität war die Wissenschaftsfor‐
schung abgewickelt worden – 15 Jahre später begann man, sie neu aufzubauen.
Infolge von Sparauflagen seit Beginn der 2000er Jahre sind allerdings auch eini‐
ge der neu auf‐ bzw. ausgebauten Fächer inzwischen wieder verschwunden. In Leipzig wurden etwa der Bereich Logik und Wissenschaftstheorie geschlossen, die Niederlandistik, Onomastik und Rumänistik nicht neu besetzt. In Greifswald stehen Ukrainistik und Baltistik auf der Kippe.
Eine, wie vom Wissenschaftsrat gefordert, „Schaffung regional abgestimmter Schwerpunkte“ erfolgte innerhalb der einzelnen Bundesländer, nicht aber dar‐
über hinaus. Die Warnung „vor einem Bestreben nach Komplettierung des Fächerkanons durch ungenügend arbeitsfähige Einzelprofessuren“ fand nicht
89 vgl. dazu die Zusammenfassung der Problem‐ und daraus abgeleiteten Zieldefinitionen in
„Geisteswissenschaften heute" (Frühwald et al. 1991: 10‐13)
90 genauer unten A. 3.4.4. Netzwerktätige: Die Zweite Wissenschaftskultur
überall Gehör. Dem stand bisweilen das – nicht unverständliche – Streben ent‐
gegen, das zu sichern, was nur in der Aufbausituation gesichert werden kann.
Eine Pluralisierung des Wissenschaftsbetriebs nach der marxistisch‐leninisti‐
schen Monokultur der DDR ist zwar hergestellt worden. Doch die geforderte Beachtung der „inneren Vielfalt der Zugriffe, Fragestellungen und Methoden“
gelang nicht überall in der nötigen Breite. Diesbezüglich verfügt die ostdeutsche Neustrukturierung über ein bemerkenswert eindeutiges Image: „In Germanis‐
tik, der Literaturwissenschaft und der Philosophie werden die Lehrstühle mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen konservativ besetzt“, war eine hierfür typische Einschätzung91 – wenngleich sich die Situation zumindest mittlerweile an die all‐
gemeinen Üblichkeiten (incl. deren Einseitigkeiten) angepasst haben dürfte.
Die archivalische Sammlungstätigkeit und editorischen Arbeiten Forschungs‐
gruppen, die bei der DDR‐Akademie der Künste angesiedelt gewesen waren, sind, wie empfohlen, durch die Gründung einer Stiftung gesichert worden.
1994–1997 hatte ein aufwändiges Forschungsprogramm an der Berlin‐Branden‐
burgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) nach den „kognitiven Dimen‐
sionen der Wissenschaften im Vereinigungsprozeß“ gefragt (Kocka 1998a: 10).
Der Berliner Linguist Manfred Bierwisch bemühte sich um eine Zusammenschau der Projektergebnisse: Was ist ihnen zum Wandel des inhaltlichen Charakters der Wissenschaft im Zuge der Transformation zu entnehmen? Er resümierte vier Punkte:
Der Wegfall von inneren und äußeren Barrieren habe die Rückkehr zu „all‐
gemeiner wissenschaftlicher Normalität“ bedeutet.
Themen und Methoden, „die im Prinzip immer schon den Kriterien und Orientierungen allgemeiner Wissenschaftsentwicklung gehorcht haben“, würden weitergeführt, „sofern nicht institutionelle Änderungen die Konti‐
nuität einschränken oder aufheben“.
Themen und Verfahren, „die Wissenschaft nur in politikabhängig deformier‐
ter Weise darstellen“, seien weggefallen.
Themen und Entwicklungen, die zur genuin marxistischen Tradition gehö‐
ren, „verlieren aufgrund kompromittierender Deformationen ihre Geltungs‐
kraft und werden weitgehend suspendiert“. (Bierwisch 1998: 502)
Letztgenanntes sagte Bierwisch im übrigen nicht mit Begeisterung: Eigentlich ginge es darum, Marx von seinen falschen Freunden zu befreien und den Grundimpetus marxistischer Geschichts‐ und Wissenschaftsauffassung von Ver‐
krustungen und Verzerrungen zu befreien (ebd.: 501).
3.3.2. Leistungsbilanz
Mit dem ostdeutschen Wissenschaftsumbau sollten die Voraussetzungen ge‐
schaffen werden, dass sich eine konkurrenzfähige Wissenschaft auch in Ost‐
deutschland entfalten könne. Ob dies gelungen ist, lässt sich inzwischen über‐
prüfen. Kriterien dessen sind nicht Gerechtigkeit oder Effizienz des Prozesses, sondern das Maß des wissenschaftlichen Erfolgs, also Effektivität. Aus Gründen der Vergleichbarkeit bietet es sich an, dafür auf quantifizierende Leistungs‐
kennziffern zurückzugreifen. Diese geben zwar keine letztgültigen Auskünfte über die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit, aber sie lassen sich als Symp‐
tome der Qualität lesen. Für deren Aussagekraft wiederum ist es wichtig, eine gute Mischung der Kennziffern herzustellen und Größeneffekte zu eliminieren.
An dieser Stelle soll eine Begrenzung auf zwei Kennziffern genügen: zum einen die Einwerbungserfolge der ostdeutschen Geistes‐ und Sozialwissenschaften bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), zum anderen die Häufigkeit, mit der ostdeutsche Hochschulen von ausländischen Geistes‐ und Sozialwissen‐
schaftlerInnen als Gasthochschulen gewählt werden. Aus Gründen der Daten‐
verfügbarkeit muss sich die Betrachtung auf die Universitäten beschränken.
Die DFG‐Bewilligungen sind deshalb aussagestark für die Leistungsfähigkeit, weil es sich beim DFG‐Auswahlverfahren um ein themenoffenes handelt, das in Deutschland die am stärksten strukturierte und qualitätsorientierte Peer‐Re‐
view‐gebundene Auswahl realisiert.92 Die Wahl der Gasthochschulen durch aus‐
ländische Wissenschaftler/innen dagegen ist aussagekräftig für die internatio‐
nale Reputation der Universitäten. Die jüngsten vorliegenden Daten dazu ent‐
hält der „Förderatlas 2012“ der DFG (2012).
Für die DFG‐Bewilligungen weist der Förderatlas mit den Rängen 1‐40 die obere Hälfte aller staatlichen Universitäten aus. Die 16 in Ostdeutschland bestehen‐
den Universitäten (incl. HU Berlin) machen ein Fünftel aller 81 deutschen Uni‐
versitäten aus. Damit beträgt der statistische Erwartungswert für deren Präsenz unter den ersten 40 Rängen acht. Tatsächlich finden sich die Geistes‐ und Sozi‐
alwissenschaften von sieben ostdeutschen Universitäten dort, d.h. der Erwar‐
Übersicht 10: DFG‐Bewilligungen in den Geistes‐ und Sozialwissenschaften (2008–2010): Ostdeutsche Hochschulen unter den Rängen 1–40
Rang* Universität Absolut (Mio €) Tausend € je Professor/in
6 HU Berlin 56 196
11 FSU Jena 21 135
19 U Potsdam 12 105
22 MLU Halle‐Wittenberg 14 97
24 TU Dresden 12 85,5
31 U Leipzig 14 69
36 U Erfurt 6,5 60
Durchschnitt Rang 1‐40 aller staatlichen
Universitäten in Deutschland 127
Durchschnitt alle 81 staatlichen
Universitäten in Deutschland 96
* bezogen auf Bewilligungen je Professor/in Quelle: DFG (2012: 115)
92 ohne an dieser Stelle auf berechtigte Kritiken auch an diesem Verfahren eingehen zu können
tungswert wird nur knapp verfehlt. Von diesen sieben Universitäten übertreffen vier zudem den Durchschnittswert der DFG‐Einwerbungen aller geistes‐ und so‐
zialwissenschaftlichen Universitätsprofessoren in Deutschland. (Übersicht 10) Durchwachsener ist das Bild bei der internationalen Attraktivität der ostdeut‐
schen Universitäten, gemessen anhand der Häufigkeit, mit der sie von ausländi‐
schen Geistes‐ und SozialwissenschaftlerInnen als Gasthochschulen gewählt werden. Hier weist der Förderatlas die Ränge 1‐20 aus. Unter diesen sind nur vier ostdeutsche Universitäten (von 16) gelistet.
Für diese entschieden sich zwar 18,5 (Alexander von Humboldt‐Stiftung) bzw.
23,5 (DAAD) Prozent der ausländischen GastwissenschaftlerInnen, d.h. der statistische Erwartungswert von 20 Prozent wird insofern erreicht – zumal noch einzelne Aufenthalte an solchen Hochschulen hinzutreten dürften, die nicht unter den ersten 20 gelistet sind. Doch ist hier auf den hohen Anteil, den die Humboldt‐Universität dazu beiträgt, zu verweisen. Die HU lässt sich nur noch bedingt als ostdeutsche Universität betrachten; überdies profitiert sie bei Gastortwünschen von der Attraktivität Berlins.
Werden die Zahlen der Gastaufenthalte nur für die Universitäten der ostdeut‐
schen Flächenländer betrachtet, ergeben sich Anteile am Gesamt von lediglich vier (AvH) bzw. 9,5 (DAAD) Prozent. Dies dürfte sich auch durch einzelne Auf‐
enthalte an Universitäten, die nicht unter den ersten 20 sind, nicht wesentlich ändern. (Übersicht 11)
Übersicht 11: Die Häufigkeit der Wahl von ostdeutschen Gasthochschulen durch ausländische Geistes‐ und Sozialwissenschaftler/innen (2006–2010): Ränge 1–20 der deutschen Universitäten
Rang A. v. Humboldt‐Stiftung DAAD
Universität Aufenthalte Universität Aufenthalte
Ostdeutsche Universitäten
2 HU Berlin 161 HU Berlin 214
3 U Leipzig 96
14 U Leipzig 27 U Potsdam 49
20 MLU Halle‐W. 16
Anzahl der einbezogenen Hochschulen
Gesamt‐Deutschland 78 52
Anteil der ostdeutschen Universitäten
an allen Aufenthalten der Ränge 1‐20 18,5 % 23,5 %
Anteil der ostdeutschen Universitäten an allen Aufenthalten der Ränge 1‐20 ohne HU Berlin
4 % 9,5 %
Durchschnittliche Zahl der Aufenthalte
aller einbezogenen Hochschulen 18 39
Quelle: DFG (2012: 118), eigene Berechnungen
Deuten lassen sich die Zahlen in der Gesamtschau so, dass die Geistes‐ und So‐
satisfaktionsfähig in der Forschung sind, dies sich aber noch nicht in ihrer inter‐
nationalen Sichtbarkeit widerspiegelt. Ersteres heißt auch, dass die z.T. qualita‐
tiv problematischen Stellenbesetzungen der 90er Jahre inzwischen überwunden werden konnten.
Letzteres dürfte auf dreierlei verweisen: Zwei Jahrzehnte genügen nicht, um in‐
ternationale Auffälligkeit von Hochschulen herzustellen. Die ostdeutschen Re‐
gionen haben überwiegend nach wie vor ein – empirisch begründetes – proble‐
matisches Image hinsichtlich der Akzeptanz Nichteinheimischer. Und die ost‐
deutschen Hochschulen sind in Teilen Erstberufungshochschulen, welche also eher jüngere Wissenschaftler/innen berufen, die sich dann durch Wegbewer‐
bung zu verbessern suchen – und im Erfolgsfall auch ihre internationalen Kon‐
takte mitnehmen.
3.3.3. Wissenschaft und Gesellschaft: Sozialwissenschaft und ostdeutsche Gesellschaft
Eine Leistungsbilanz lässt sich selbstredend auch anders angehen, jenseits quantitativer Symptome für wissenschaftliche Qualität. Es ließe sich auch fra‐
gen, welches Maß an Aussage‐ und Erklärungsfähigkeit die ostdeutschen Geis‐
tes‐ und Sozialwissenschaften mittlerweile erlangt haben. Richtet man diese Frage an die empirische Sozialforschung und bezieht sie auf deren unmittelba‐
res Umfeld – die ostdeutsche Teilgesellschaft –, so geht es zunächst um subtile Beobachtungen, die in diesem Umfeld zu machen sind und allenthalben irritie‐
ren.
Der Osten wählt anders als der Westen, vor allem unberechenbarer, man findet dort Kindergärten wichtig, glaubt weniger an Gott, badet FKK, bringt es fertig, Konventionalismus und obrigkeitliche Orientierung mit Aufsässigkeit gegenüber staatlicher Autorität zu verbinden, weist ein anderes Geburtenverhalten auf, verfügt über eine eigene politische Partei, die zwar nur ein Fünftel der Wähler wählt, aber eine Mehrheit für wichtig hält, hat zwar selbstbewusste, aber völlig unfeministische Frauen, findet mehrheitlich eine Berufsausbildung immer noch attraktiver als ein Studium, ist zwar weniger antisemitisch, doch fremdenfeind‐
licher als der Rest der Republik, hat im Westen völlig unbekannte Idole wie Er‐
win Strittmatter oder Achim Menzel, kurz: Der Osten tickt anders, und keine et‐
ablierte Sozialwissenschaft vermag dies so recht zu erklären. Gleichzeitig klappt es mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nicht so richtig, und auch hier hat bis‐
lang noch keine Politikberatungsagentur oder Expertenkommission durchschla‐
gende Auswege aus der Misere weisen können.
Wenn sich die Deutungen einer Situation und daraus abgeleitete Handlungsem‐
pfehlungen als wirkungslos erweisen, dann liegt das meist nicht an der Situati‐
on. Es liegt an den Deutern und Empfehlenden. Hier nun dürfte das langfristige Hauptproblem der Ost‐West‐Verteilung innerhalb des Deutungs‐ und Gestal‐
tungspersonals zu verorten sein: Die Mischung muss stimmen. Außen‐ und In‐
nenperspektiven können sich nur dort verbinden, wo sie durch Personen prä‐
sent sind.
Zwei Beispiele, ein trivial anmutendes aus dem Alltag und eines aus dem Hoch‐
schulbereich, das erst dann verstörend wirkt, wenn es explizit formuliert wird:
Als in Berlin in den 2000er Jahren neue Buslinien eingerichtet und – abgeleitet von Metropole – „Metro‐Linien“ genannt wurden, wurde unwissentlich in Kauf genommen, dass 15 Millionen potenzielle Berlin‐Besucher, nämlich die aus Ost‐
deutschland, in die U‐Bahn‐Schächte laufen, um zur Metro‐Linie zu gelangen.
Denn in Ostdeutschland ist „Metro“ als Name der Moskauer U‐Bahn geläufig, und niemand käme auf die Idee, dahinter einen Bus zu vermuten.
Das Beispiel aus dem Hochschulbereich: Im Jahre 2000 verfügte der Fachbe‐
reich Sozialwesen der Fachhochschule Erfurt über die eindrucksvolle Anzahl von 23 Professuren. Diese waren ausschließlich durch Personal mit westdeutscher Biografie und Prägung besetzt. Das legte zumindest eine Frage nahe: Mögen die dort ausgebildeten Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen – dereinst zu ei‐
nem größeren Teil an sozialen Problempunkten in Thüringen eingesetzt – wirk‐
lich alle relevanten Facetten auf ihren Weg mitbekommen haben, um die regio‐
nal spezifischen Problemlagen erfolgreich bearbeiten zu können?
Durch die unzulängliche Ost‐West‐Mischung in den ostdeutschen Sozialwissen‐
schaften wird der (notwendige) quasi‐ethnologische Außenblick nur unzuläng‐
lich ergänzt durch den (ebenso notwendigen) Innenblick von Beobachtern, die gesellschaftliche Codes ohne mühsame Übersetzungsanstrengungen zu ent‐
schlüsseln vermögen. Daraus ergeben sich immer einmal wieder Interpretati‐
onshavarien, die eigentlich vermeidbar wären.
Ein Beispiel: 1999 hatte der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer ein Thesenpapier über die Ursachen von Fremdenhass in Ostdeutschland veröffent‐
licht. Er verband dies mit der Präsentation eines Fotos aus einem DDR‐Kindergarten: Ei‐
ne Kindergruppe sitzt in Reih und Glied auf Nachttöpfen und ver‐
richtet gemeinschaft‐
lich die Notdurft – das alsbald sogenannte Töpfchenfoto. Pfeiffer erläuterte, dies sei ein Beweis für die aber‐
witzige kollektivisti‐
sche Zurichtung in der DDR, die alle Lebens‐
bereiche umfasst ha‐
be: Nicht einmal Pinkelngehen sei individuell möglich, sondern an feste Termine und normierte Gruppenabläufe gebunden gewesen. Die Botschaft: Wer so von Kindheit an aufgewachsen sei, müsse zwar nicht zwingend ein Neonazi werden und Ausländer überfallen. Aber wundern jedenfalls brauche man sich nicht Übersicht 12: Das Töpfchenfoto
Daraufhin hieß das, was Pfeiffer sagen wollte, nur noch die „Töpfchenthese“. Es herrschte in Ostdeutschland allgemeine Empörung über „den Wessi“, der sich da eine Deutungshoheit angemaßt und so überdeutlich daneben gelegen habe.
Denn jeder, der in der DDR gelebt hatte, wusste: Zwar wurden im Kindergarten Kollektivnormen eingeübt, aber dennoch durfte bedürfnisabhängig auf Toilette gegangen werden. Die allgemeine Empörung war unabhängig davon, wie die einzelnen Empörten seinerzeit zur DDR gestanden hatten. Pfeiffer hatte mit dem Foto eine geradezu grandiose Kommunikationshavarie produziert, und die‐
se war weniger spaßig, als es der Anlass nahe legen könnte. Denn über das ei‐
gentliche Problem, zu dessen Erklärung Pfeiffers Text etwas hatte beitragen wollen, wurde anschließend nicht mehr diskutiert: das im gesamtdeutschen Vergleich überproportionale Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutsch‐
land.
Umgekehrt lässt sich darauf verweisen, dass die instruktiven und erklärungs‐
starken Thesen und Texte zur Gesellschaftsgeschichte der DDR und Post‐DDR überwiegend von Sozialwissenschaftlern und Historikern ostdeutscher Proveni‐
enz stammen: so etwa die Deutung der DDR‐Gesellschaft als arbeiterliche Ge‐
sellschaft durch Wolfgang Engler (1999) oder als Organisations‐ bzw. funktional entdifferenzierte Gesellschaft durch Detlef Pollack (1994; 2003), die Darstellun‐
gen ihres Alltags von Stefan Wolle (2011‐2013) und der Geschichte ihrer Intelli‐
genz von Werner Mittenzwei (2001). Diese Studien beziehen ihre Einsichten aus einer internalisierten Kenntnis der systemspezifischen Kodierungen.
Die gleichwohl insgesamt mangelnde Präsenz ostdeutscher Sprecher und Spre‐
cherinnen in öffentlichen Debatten des vereinten Deutschlands hat eine we‐
sentliche Ursache: Die Ostdeutschen waren und sind dort marginalisiert, wo durch öffentliche Finanzierung das Nachdenken professionell betrieben werden kann und dessen Ergebnisse verstetigt in die öffentliche Meinungsbildung ein‐
gespeist werden: im Wissenschaftsbetrieb. Sie saßen nach dem Umbau an den Hochschulen typischerweise auf C3‐ statt C4‐Stellen, waren häufiger an Fach‐
hochschulen als an Universitäten anzutreffen oder im außeruniversitären Be‐
reich eher Abteilungsleiter als Institutsdirektoren, eher Stellvertreter denn Chefs (vgl. Nature 1994; Meske 2001: 259). Das setzte sich fort bei hochschul‐
politischen Entscheider‐Positionen, also in Rektoratskollegien, in Ministerialap‐
paraten und bei der Vertretung in Wissenschaftsorganisationen oder Gut‐
achterstrukturen.93
Insofern war die weitgehende Exklusion der ostdeutschen Sozialwissenschaft‐
ler/innen nicht allein ein Umstand, der sich politisch oder moralisch entweder begrüßen oder bedauern lässt. Sie hat auch sehr praktische Probleme erzeugt.
Mit der geringen Integration ostdeutscher Sozialwissenschaft war auf Deu‐
tungskompetenz verzichtet worden, die genuin ostspezifisch ist: Deutungskom‐
petenz in Bezug auf die Geschichte des sozialistischen Systems und der so‐
zialistisch durchherrschten Gesellschaften, auf die aktuelle ostdeutsche Teilge‐
93 zur Gesamtproblematik des Elitenwechsels im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Mei‐
nungsführerschaft vgl. Angelow (2015)