Ab- und Umbauten seit 1990
4. Zeitgeschichtliche Aufklärungen seit 1990 seit 1990
4.2. Forschung und Erinnerung
Eine Sortierung des Literaturfeldes zu den DDR‐Gesellschaftswissenschaften kann zahlreiche Unterscheidungen zu Grunde legen, etwa die nach methodi‐
schen Ansätzen oder nach erkenntnisleitenden Interessen. Ebenso können die disziplinhistorischen von institutionengeschichtlichen und diese wiederum von wissenschaftssoziologischen Arbeiten abgesetzt werden. Es finden sich Fallstu‐
dien wie Gesamtdarstellungen, Arbeiten externer und interner Autorinnen und Autoren. Vor allem aber lassen sich prinzipiell zwei Entstehungskontexte der hier in Rede stehenden Bücher unterscheiden: der Forschungs‐ vom Erinne‐
rungskontext.
Zwar gibt es im Einzelfall auch Überschneidungen, doch typischerweise können die meisten Veröffentlichungen einem dieser beiden Kontexte zugeordnet wer‐
den. Beide haben ihre Berechtigung, sind aber selbstredend unterschiedlich zu bewerten. Die Zeitzeugenbetrachtung liefert eher Erfahrungen, die aus der Un‐
mittelbarkeit des Erlebens gespeist sind. Dagegen ist der Blick des forschenden Analytikers durch die Vor‐ und Nachteile der Distanz zum Gegenstand und der quellenvermittelten Kenntnisnahme gekennzeichnet:
Texte, die dem Erinnerungskontext entstammen, beziehen ihren Wert in der Regel aus ihrem zeitdokumentarischen Charakter, also der Authentizität des Er‐
innerten. Typische Textsorten sind hier Erlebnisberichte und Autobiografien. Sie können als Quellen genutzt werden, die häufig Informationen bereithalten, welche andernorts – etwa in Akten – nicht verfügbar sind. Sie liefern zudem Material zur Dekodierung von Akten und DDR‐Originalveröffentlichungen. Das kann die Freilegung von Subtexten erleichtern. Gleichwohl ist hier zu beachten, dass sich die Autoren und Autorinnen dieser Literatur häufig in einem herme‐
neutischen Dilemma befinden: Ist ihr zentrales Schreibmotiv subjektive Betrof‐
fenheit, dominiert dieses nicht selten die Betrachtungen qua impliziter Annah‐
men oder sozialisationsgesteuerter Ausblendungen. Dies wiederum kann die
ziehbarkeit der Betrachtungsergebnisse deutlich eingeschränkt oder unmöglich wird.
Bei Texten, die dem Forschungskontext entstammen, ist zum ersten auf die fachliche Herkunft der Arbeiten zu achten – denn in vergangenheitsbezogenen Selbstbeschreibungen der Einzeldisziplinen werden z.T. andere Konstruktions‐
weisen historischer Vorgänge gepflegt als in geschichts‐ oder sozialwissen‐
schaftlichen Untersuchungen: Erstere integrieren häufig den Aspekt der Traditi‐
onsbildung, während letztere (meist) jenseits affektiver Kontamination kühl analysieren. Zum zweiten muss im Einzelfall unterschieden werden, ob es sich um die Dokumentation oder Referierung von Zeitzeugnissen oder um die analy‐
tische Durchdringung von Quellen handelt: Die dokumentarische Erschließung eines Themas kann wertvoll sein, ist aber noch keine historiografische Bearbei‐
tung im Sinne der Erzeugung verdichtender Darstellung oder geschichtlicher Er‐
klärung.
Übersicht 16: Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis
4.2.1. Gedächtnisse und individuelle Erinnerungen
Die oben unternommene Darstellung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in der DDR109 trifft sich nicht zwingend mit individuellen Erinnerungen.
Das entwertet die Erinnerungen der Zeitzeugen nicht, sondern verweist auf et‐
was anderes: Die dominierenden Entwicklungslinien einer Zeit erschließen sich erst einer distanzierten, vom Einzelerleben abstrahierenden Betrachtung – zeit‐
lich, räumlich oder kognitiv distanziert und analytisch abstrahierend. Daher auch kann keine Art der Betrachtung, und erst recht keine generalisierende, ei‐
ne Differenziertheit transportieren, die in ihrer Komplexität dem historischen
109 A. 1. Wissenschaft und Politik in der DDR: Eine Rekonstruktion im Vergleich zur Bundesre‐
publik
Erinnerungswissen
Diktaturgedächtnis | Arrangementgedächtnis | Fortschrisgedächtnis
Wissenschaliches Wissen
Herrschasgeschichte | Alltagsgeschichte
Dik Legimaon /
Irritaon
Smulaon
Realgeschehen exakt entspräche. Dem stehen nicht allein Begrenzungen der Forschungs‐, Darstellungs‐ und Informationsverarbeitungskapazitäten entge‐
gen. Viel grundsätzlicher verhindert dies die Struktur jeglicher Beobachtung.
Gleichwohl wird in der DDR‐Debatte von Zeitzeugen gegen Vereinfachungen, die als unzulässig empfunden werden, häufig (zusätzliche) Differenzierung ein‐
gefordert. Das formuliert, anders gesagt, einen Anspruch auf problemangemes‐
sene Komplexität der Betrachtung. Dieser Anspruch ist ebenso berechtigt wie letztlich uneinlösbar: Zur Struktur eines beliebigen Problems gehören einerseits seine Kontexte; daher ist die Komplexität der Betrachtung durch Erweiterung des Betrachtungsrahmens makroskopisch unendlich steigerbar. Andererseits kann ein Problem auch intern in immer noch weitere Tiefendimensionen hinein ausdifferenziert werden; daher hat die Komplexität mikroskopisch erst dort ihre Grenze, wo die Geduld und Aufnahmekraft der Analytiker und ihrer Rezipienten längst erschöpft wären.
Mit anderen Worten: Der Komplexitätsgrad historischer Forschung ist grund‐
sätzlich keine Eigenschaft ihrer Gegenstände, sondern eine Konstruktionsleis‐
tung in deren Beobachtung (vgl. Luhmann 1998: 144). Dies führt hin zu der un‐
aufhebbaren Diskrepanz von Zeitzeugenschaft und Zeitgeschichtsschreibung.
Sie zeigt sich in einer Deutungskonkurrenz zwischen Zeitzeugen und Zeithistori‐
kern. Dabei handele es sich, so Konrad Jarausch (2002: 10), „nicht nur um den stilistischen Unterschied zwischen unterhaltsamer Erzählung oder ermüdender Monographie“. Vielmehr manifestiere sich hier ein tieferer Konflikt „zwischen dem moralisierenden Duktus der Erinnerung und dem rationalen Erklärungsan‐
spruch der Forschung“.
So wurde z.B. oben als ein Haupttrend der 50er Jahre die Kaderpolitisierung der DDR‐Hochschulen benannt. Das widerstreitet zugleich der subjektiven Erinne‐
rung an weltenöffnende Bildungserlebnisse, die jungen Menschen zuteil wur‐
den, deren soziale Herkunft solche Teilhabe noch wenige Jahre zuvor völlig aus‐
geschlossen hätte. Dieser Umstand wurde oben zwar in dem Begriff der Gegen‐
privilegierung durchaus aufgenommen. Doch entwerten solche Trendbeschrei‐
bungen, die auf die politische Dimension des Geschehens zielen, in der Wahr‐
nehmung vieler Zeitzeugen die Aufbruchstimmung, die erst durch die ihnen ge‐
botenen Bildungsmöglichkeiten erzeugt wurde. Allerdings: In der oben unter‐
nommenen Beschreibung ging es nicht um eine Sozialgeschichte der Wissen‐
schaft in der DDR, sondern um eine prägnant kontrastierende Darstellung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik.
Die dazu nötigen Ergänzungen liefern insbesondere die mittlerweile in reicher Zahl publizierten autobiografischen Darstellungen von DDR‐Gesellschaftswis‐
senschaftlern und ‐wissenschaftlerinnen (Übersicht 17). Sie werden ergänzt durch bioergografische Untersuchungen, die gleichfalls in hoher Zahl zu einzel‐
nen Wissenschaftlerpersönlichkeiten vorgelegt wurden.110
Übersicht 17: Autobiografische Publikationen ostdeutscher Gesellschaftswissenschaftler/innen 1990–2015
PHILOSOPHIE
Herbert Crüger: Verschwiegene Zeiten. Vom geheimen Apparat der KPD ins Gefängnis der Staatssicherheit, Berlin 1990; Ein alter Mann erzählt. Lebensbericht eines Kommunisten, Schkeuditz 1998 • Wolfgang Harich: Ahnenpaß. Versuch einer Autobiographie, hrsg. von Thomas Grimm, Berlin 1999 • Helga E. Hörz: Zwischen Uni und UNO. Erfahrungen einer Ethikerin, Berlin 2009 • Herbert Hörz: Lebenswenden. Vom Werden und Wirken eines Phi‐
losophen vor, in und nach der DDR, Berlin 2005 • Eike Kopf: Erinnerungen an die Hoch‐
schul‐ und MEGA‐Stadt Mühlhausen in Thüringen 1959‐1983, Bad Langensalza 2013; Erinne‐
rungen eines Bollstedter Mühlhäusers an MEGA‐Arbeiten in Erfurt und China 1983‐2014, Bad Langensalza 2014 • Alfred Kosing: Innenansichten als Zeitzeugnisse. Philosophie und Politik in der DDR. Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 2008 • Rita Kuczynski: Mauerblume.
Mein Leben an der Grenze, München 1999 • Jürgen Teller: Hoffnung und Gefahr. Essays, Aufsätze, Briefe 1954–1999, Frankfurt a.M. 2001; Briefe an Freunde. 1942–1999, Frankfurt a.M./Leipzig 2007 • Rainer Thiel: Neugier. Liebe. Revolution. Mein Leben 1930–2010, Berlin 2010
GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN
Rudolf Agsten: Liberaldemokrat seit 1945. Erinnerungen ohne Nostalgie, Berlin 2005 •
Günter Benser: DDR – gedenkt ihrer mit Nachsicht, Berlin 2000 • Helmut Bock: Wir haben erst den Anfang gesehen. Selbstdokumentation eines DDR‐Historikers 1983 bis 2000, Berlin 2002 • Ernst Dammann: 70 Jahre erlebte Afrikanistik. Ein Beitrag zur Wissenschaftsge‐
schichte, Berlin 1999 • Stefan Doernberg: Fronteinsatz. Erinnerungen eines Rotarmisten, Historikers und Botschafters, Berlin 2004 • Helmut Eschwege: Fremd unter meinesglei‐
chen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991 • Karl Heinz Jahnke: Zu Hause in der DDR. Biographische Notizen, Bonn 1999; Gegen das Vergessen! Biographische Notizen.
Forschungen zum Widerstand gegen die NS‐Diktatur in Deutschland, Rostock 2008 • Lud‐
wig Elm: Liberal? Konservativ? Sozialistisch? Beiträge im Widerstreit politischer Ideen und Wirklichkeiten. Biblio‐ und Biographisches 1934 – 2004, Jena 2004 • Peter Hoffmann: In der hinteren Reihe. Aus dem Leben eines Osteuropa‐Historikers in der DDR, Berlin 2006 •
Ronny Kabus: Lenin Luther Lorbass – Erbarmung!, Norderstedt 2014 • Fritz Klein: Drinnen und draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2000 • Jürgen Kuczynski: Kurze Bilanz eines langen Lebens, Berlin 1991; Ein linientreuer Dissident. Memoi‐
ren 1945‐1989, Berlin/Weimar 1992; Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus? Memoiren 1989‐1994, Berlin 1994; Ein Leben in der Wissenschaft der DDR, Münster 1994; Ein treuer Rebell. Memoiren 1994‐1997, Berlin 1998 • Walter Markov: Wie viele Leben lebt ein Mensch. Eine Autobiographie aus dem Nachlaß, Leipzig 2009 • Eckart Mehls: Unzumutbar.
Ein Leben in der DDR, Schkeuditz 1998 • Eckhard Müller‐Mertens: Existenz zwischen den Fronten. Analytische Memoiren oder Report zur Weltanschauung und geistig‐politischen Ein‐
stellung, Leipzig 2011 • Harald Neubert: Die Hypothek des kommunistischen Erbes. Erfah‐
rungen, Zeugnisse, Konsequenzen, Hamburg 2002 • Kurt Pätzold: Sekretär im „Klosterhof“.
Geschrieben für meine Kinder und Enkelkinder, Berlin 1999; Die Geschichte kennt kein Par‐
don. Erinnerungen eines deutschen Historikers, Berlin 2008; Streitfall Geschichte, Berlin 2011
• Jan Peters: Menschen und Möglichkeiten. Ein Historikerleben in der DDR und anderen Traumländern, Stuttgart 2011 • Joachim Petzold: Parteinahme wofür? DDR‐Historiker im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, Potsdam 2000 • Peter Schäfer: „Schreiben Sie das auf, Herr Schäfer!“ Erinnerungen eines Historikers an seine Universitäten in Berlin und Jena, Jena 2007 • Heinrich Scheel: Vom Leiter der Berliner Schulfarm Scharfenberg zum Hi‐
storiker des deutschen Jakobinismus (1946‐1956). Autobiographische Aufzeichnungen, Vel‐
ten 1997 • Helmuth Stoecker: Socialism with deficits. An academic life in the German De‐
mocratic Republic, Münster 2000 • Hermann Weber: Damals als ich Wunderlich hieß. Vom
Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SED‐Parteihochschule „Karl Marx“ bis 1949, Berlin 2002 • Eduard Winter: Erinnerungen (1945‐1976), Frankfurt a.M. 1994 • Hartmut Zwahr: Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. Tagebuch einer Krise (1968‐1970). DDR und „Pra‐
ger Frühling“, Bonn 2007
SPRACH‐ UND LITERATURWISSENSCHAFTEN
Hanna Behrend: Die Überleberin. Jahrzehnte in Atlantis, Wien/Mühlheim a.d. Ruhr 2008 •
Ulrich Dietzel: Männer und Masken. Kunst und Politik in Ostdeutschland. Ein Tagebuch 1955–1999, Leipzig 2003 • Hildegard Emmel: Die Freiheit hat noch nicht begonnen. Zeitge‐
schichtliche Erfahrungen seit 1933, Rostock 1991 • Hans Kaufmann: Der Januskopf des Uto‐
pischen. Texte, Gespräche, Erinnerungen, Berlin 2002 • Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1959, Berlin 1999 • Werner Krauss: Vor gefalle‐
nem Vorhang. Aufzeichnungen eines Kronzeugen des Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1995;
Briefe 1922 bis 1976, Frankfurt a.M. 2002 • Hans Mayer: Briefe 1948‐1963, Leipzig 2006 •
Fritz Mierau: Mein russisches Jahrhundert. Autobiographie, Hamburg 2002 • Werner Mittenzwei: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit. Eine kulturkriti‐
sche Autobiographie, Leipzig 2004 • Manfred Naumann: Zwischenräume. Erinnerungen eines Romanisten, Leipzig 2012 • Ursula Reinhold: Schwindende Gewißheiten. Eine Ostber‐
liner Geschichte. Autobiographischer Roman, Berlin 2002 • Hansjörg Schneider: Meine böhmische Ecke. Erinnerung an ein Projekt, Berlin 2007 • Ralf Schröder: Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans, Gransee 2011 • Ernst Schumacher: Mein Brecht. Erinne‐
rungen. 1943 bis 1956, o.O. o.J. [Berlin 2006]; Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland. Aufzeichnungen des Brechtforschers und Theaterkritikers in der DDR 1945‐
1991, Berlin 2007 • Wolfgang Spiewok: Von Oberschlesien nach Vorpommern. Eine ost‐
deutsche Karriere, Greifswald 2000; Ergänzungsband, Greifswald 2000 • Armin Zeißler:
Meine Weggefährten. Ein Vierteljahrhundert bei „Sinn und Form“, Berlin 2004 • Peter Zimmermann: Geschichte wird uns zugefügt. Ein Ostdeutscher erinnert sich an das 20.
Jahrhundert, Leipzig 2005
KUNSTGESCHICHTE, MUSIKWISSENSCHAFT
Gabriele Sander: Siegfried Bimberg erinnert sich, Essen 2007 • Wolfgang Hütt: Schatten‐
licht. Ein Leben im geteilten Deutschland, Halle/S. 1999 • Lothar Lang: Ein Leben für die Kunst. Erinnerungen, Leipzig 2009 • Friedrich Möbius: Wirklichkeit – Kunst – Leben. Erinne‐
rungen eines Kunsthistorikers, Jena 2001 • Ernst Schubert: Und alles fließt bis ins Verges‐
sen. Erlebnisse im Dritten Reich, in der DDR und in der vereinigten Bundesrepublik, Wettin/
Dößel 2009
SOZIAL‐ UND KULTURWISSENSCHAFTEN, ETHNOLOGIE
Lothar Bisky: So viele Träume. Mein Leben, Berlin 2005 • André Brie: Ich tauche nicht ab.
Selbstzeugnisse und Reflexionen, Berlin 1996 • Karl Heinz Domdey: Autobiographisches während fünf politischer Ordnungen. Daten und fragmentarische Interpretationen, o.O. 2001
• Willi Hellmann: Mein erstes Leben. Ein General der VP erinnert sich, Berlin 2001 • Wolf‐
gang Jacobeit: Von West nach Ost – und zurück. Autobiographisches eines Grenzgängers zwi‐
schen Tradition und Innovation, Münster 2000;Wissenschaftshistorische Autobiographie.
Skizzen und Collagen eines Ethnologen im 20./21. Jahrhundert, Münster 2016 • Gunter Kröber: Wissenschaftsforschung. Einblicke in ein Vierteljahrhundert. 1967 bis 1992, Schkeu‐
ditz 2008 • Artur Meier: Liebesglück und Wissenslust. Ein (un)ordentliches Leben in drei‐
einhalb Deutschlands, Berlin 2002 • Lothar Parade: Vom Lindenauer Hinterhof an das Katheder der Leipziger Universität. Besinnliches für meine Enkel, Leipzig 2001 • Wilfried Schreiber: Als Offizier und Wissenschaftler der NVA im deutsch‐deutschen sicherheitspoliti‐
schen Dialog. Ein Zeitzeugenbericht, Dresden 2005 • Helmut Steiner: Gesellschaftsanalyse und Ideengeschichte – aus biographischer Perspektive, Berlin 2006 • Dietrich Treide:
Erlebte Ethnologie. Ein Rückblick auf die Geschichte der Universitäts‐Ethnologie in Leipzig
RECHTS‐ UND WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN
Herbert Graf: Mein Leben. Mein Chef Ulbricht. Meine Sicht der Dinge. Erinnerungen, Berlin 2008 • Uwe‐Jens Heuer: Im Streit. Ein Jurist in zwei deutschen Staaten, Baden‐Baden 2002
• Josef Mende: Die Wende als Lebenserfahrung. Erinnerungen eines gebürtigen Schlesiers an ein Leben zwischen den Ideologien, Berlin 2001 • Harry Nick: Gemeinwesen DDR. Erin‐
nerungen und Überlegungen eines Politökonomen, Hamburg 2003 • Wolfgang Seiffert:
Selbstbestimmt. Ein Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Po‐
litik, Graz 2006 • Rita Sprengel: Der rote Faden. Lebenserinnerungen – Ostpreußen, Wei‐
marer Republik, Ravensbrück, DDR, Die Wende, Berlin 1994
ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN
Hans Herbert Becker: Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts. Ein deutscher Universitätsprofessor berichtet aus seinem Leben in Freiheit und Unfreiheit, Dortmund 2002 • Karl‐Heinz Gün‐
ther: Rückblick. Nach Tagebuchnotizen aus den Jahren 1938 bis 1990, Frankfurt a.M. u.a.
2002 • Edgar Günther‐Schellheimer: Makarenko in meinem Leben. Ein Beitrag zur Maka‐
renko‐Rezeption in der DDR und im geeinten Deutschland, Berlin 2005 • Ernst Zeno Ichen‐
häuser: Wenn möglich – ehrlich. Lebensbericht von einem der auszog, Revolution zu ma‐
chen, Berlin 1999 • Eberhard Mannschatz: Jugendhilfe in der DDR. Autobiographische Skiz‐
zen aus meinem Berufsleben, Berlin 2002; Spätes Tagebuch. Nachgedachtes, Quergedachtes, Befindlichkeiten, Berlin 2003 • Horst Möhle: Unterwegs im Dienste der Wissenschaft. Ein‐
drücke aus fünf Kontinenten, Leipzig 2006 • Gerhart Neuner: Zwischen Wissenschaft und Politik. Ein Rückblick aus lebensgeschichtlicher Perspektive, Köln 1996 • Wolfgang Rei‐
schock: Ohne Hoffnung kann man nicht leben. Autobiographischer Bericht über ein Leben in der DDR, Weinheim/München 1995
PSYCHOLOGIE
Hans Richard Böttcher: Verstrickt ins 20. Jahrhundert. Zeitzeugnis eines Jenaer Psychologen, Bucha b. Jena 2001 • Hans‐Dieter Schmidt: Texte zwischen Ja und Nein. Selbstbefragung eines DDR‐Psychologen, Bielefeld 1997 • Otmar Schütze: Nur meine Gedanken waren frei, Neckenmarkt/Wien/München 2008
GEOGRAFIE, STADTPLANUNGSFORSCHUNG
Bruno Benthien: Vom Studenten in Rostock zum Professor und Direktor der Sektion Geogra‐
phie der Ernst‐Moritz‐Arndt‐Universität Greifswald…, Greifswald 2000 • Bruno Flierl:
Kritisch Denken für Architektur und Gesellschaft. Arbeitsbiographie und Werkdokumentation 1948–2006, Erkner 2007; Selbstbehauptungen. Leben in drei Gesellschaften, Berlin 2015 •
Konrad Püschel: Wege eines Bauhäuslers. Erinnerungen und Ansichten, Dessau 1996
Innerhalb der Zeitzeugendarstellungen, die mittlerweile eine eigene Geschichte der Erinnerung bilden, lassen sich dann unterschiedliche Erinnerungsweisen identifizieren. Erkennbar werden auch hinsichtlich der postmortalen DDR‐Ge‐
sellschaftswissenschaften drei verschiedene Gedächtnisformationen, wie sie Martin Sabrow (2009; 2010) in einer Auswertung der Gesamtdebatte zur DDR erkannt hat. Deren Unterscheidung ist eine idealtypische:
Das staatlich approbierte Diktaturgedächtnis sehe, so Sabrow, seine Haupt‐
aufgabe in der Erinnerung an Leid, Opfer und Widerstand. Es fokussiere ent‐
sprechend auf den Gegensatz von Tätern und Opfern. Delegitimierung ist hier‐
bei fraglose Selbstverständlichkeit. Der DDR wird historische Legitimität von Beginn an bestritten. Ihr letztliches Scheitern war in dieser Perspektive teleolo‐
gisch und insofern nicht verwunderlich. Erklärungsbedürftig erscheint allenfalls, warum sich dieses Scheitern so lang hinzog.
Dagegen betone das Arrangementgedächtnis die Auskömmlichkeiten unter schwierigen Bedingungen. Es verweigere sich so der Trennung von Biografie und Herrschaftssystem. Dominiere das Diktaturgedächtnis auch das öffentliche Gedenken, so erweise sich das Arrangementgedächtnis diesem gegenüber le‐
bensweltlich häufig an Geltungskraft überlegen.
Und schließlich fungierten, wiederum nach Sabrow, vor allem die alten DDR‐Eliten als Träger eines Fortschrittsgedächtnisses mit stark genetischen Zü‐
gen. Dieses erinnert die DDR von ihrem Anfang her als legitime, wenn auch an inneren und äußeren Widrigkeiten gescheiterte Erscheinung. Hier wird der DDR und ihrem politischen System historische Legitimität zugewiesen. Das geschieht über zwei Linien: Einerseits gilt die DDR als Bestandteil einer aufklärungsbasier‐
ten Lösung der sozialen Frage, d.h. als Teil der weltweiten kommunistischen Ge‐
sellschaftsexperimente, und andererseits gilt sie als von den Deutschen selbst verschuldete Kriegsfolge.
Dominant scheint in Ostdeutschland eine partikulare Gedächtnisgemeinschaft zu sein, deren Angehörige zwischen Arrangementgedächtnis – also der Beto‐
nung der Auskömmlichkeiten unter schwierigen Bedingungen – und Fort‐
schrittsgedächtnis changieren. Dieser Gemeinschaft gehören nicht allein Vertre‐
ter der alten Gesellschaftswissenschaften an, sondern die überwiegende Mehr‐
heit der ostdeutschen Teilpopulation. Aber eine ganze Reihe von Gruppen ost‐
deutscher Gesellschaftswissenschaftler/innen111 hat es seit 1990 übernommen, für die weniger quellenkundigen und schriftaffinen Angehörigen der Gedächt‐
nisgemeinschaft eine gedächtniskompatible Aufbereitung der DDR‐Geschichte zu leisten. Eine beachtliche Teilmenge der so entstandenen Literatur wiederum befasst sich mit dem Bereich, der an dieser Stelle vornehmlich interessiert: den Gesellschaftswissenschaften in der DDR.
Selten dagegen ist dabei das Diktaturgedächtnis repräsentiert, was aber in zweierlei Hinsicht wenig verwundern kann: Zum einen zielt dieses Gedächtnis auf eine grundsätzliche Delegitimierung der DDR und ihres spezifischen Ver‐
suchs, soziale Emanzipation zu organisieren. Eingeschlossen in diese Delegiti‐
mierung ist die gesellschaftswissenschaftliche Arbeit, was angesichts ihrer Funk‐
tion durchaus naheliegt. Zum anderen ist das Diktaturgedächtnis mit dem Ma‐
kel behaftet, die staatlich approbierte Gedächtnisvariante zu sein. Es repräsen‐
tiert also den offiziellen – und wenig freundlichen – Erinnerungsmodus der politisch dominierenden Kräfte in der heutigen Bundesrepublik. Auch das lässt es aus Sicht früherer DDR‐Gesellschaftswissenschaftler/innen eher naheliegend erscheinen, weitestmöglichen Abstand zu dieser Variante des kollektiven Ge‐
dächtnisses zu halten.
Das kollektive DDR‐Gedächtnis ist insoweit auch in ein Sieger‐ und ein Verlierer‐
gedächtnis ausdifferenziert, was erneut Hinweise auf soziale Trägerschaften gibt: „Gedächtnis und Kollektiv unterstützen sich gegenseitig: Das Kollektiv ist
der Träger des Gedächtnisses, das Gedächtnis stabilisiert das Kollektiv.“ (Ass‐
mann/Frevert 1999: 42)
Ein Thema, an dem sich der gedächtnisgeprägte Zugang auch im Detail beson‐
ders deutlich zeigt, ist die III. DDR‐Hochschulreform 1968ff. Gregor Schirmer, seinerzeit stellvertretender Minister für Hoch‐ und Fachschulwesen, hält fest, dass mit der Neustrukturierung der Hochschulen „eine Anleihe aus dem Depart‐
ment‐System der USA aufgenommen“ worden sei – ohne diesen Umstand „aus nahe liegenden Gründen öffentlich oder intern zu erwähnen“ (Schirmer 2004:
37). In der Tat können die Bildung von Sektionen (departments), Weisungs‐
strukturen nach dem Einzelleiterprinzip (decanal leadership) oder Kaderent‐
wicklungsprogramme (human resources development) so gedeutet werden. Da‐
gegen passen die zentrale Etatbewirtschaftung an den Hochschulen und die Zentralisierung nicht nur von Entscheidungs‐, sondern auch Kontrollprozessen nicht zu einer Department‐Struktur.
Wo nun aber ein anderer Zeitzeuge bei der III. Hochschulreform allein die bra‐
chiale Verabschiedung von akademischen Traditionen erinnert (vgl. Mehlig 1999: 57‐126, 198‐204), da bleibt ihm das in der Reform zumindest auch ste‐
ckende Modernisierungspotenzial verborgen. Letzteres kann aber durch einen analytischen, also distanzierten Zugang freigelegt werden – um daran anschlie‐
ßend die Einlösung der Modernisierungsabsichten kritisch zu untersuchen (so Lambrecht 2007).
Zugleich setzt zeithistorische Analyse nicht außer Kraft, dass es ein kollektives Ge‐
dächtnis der Zeitzeugen gibt. Die Gedächtnisträger aber wollen, da sie im vorlie‐
genden Falle Wissenschaftler/innen sind, auch Analytiker sein. Als methodisch angeleitete Generierung neuen Wissens steht die Forschung in einem span‐
nungsreichen, wenn letztlich auch interdependenten Verhältnis zur Erinnerung:
„Die historische Forschung ist angewiesen auf das Gedächtnis für Bedeutung und Wertorientierung, das Gedächtnis ist angewiesen auf historische Forschung für Verifikation und Korrektur“ (Assmann 2006: 51). Aber die Spezifik der wis‐
senschaftlichen Forschung gegenüber der Erinnerung besteht in der Quellen‐
kritik, der Standpunktreflexion und ihrer Prozesshaftigkeit (Hockerts 2002: 61).
In dieser Spannung zwischen Geschichte und Gedächtnis der DDR‐Gesellschafts‐
wissenschaften scheint es häufig, als gäbe es dafür keine angemessene Kom‐
munikationsweise. Es ergibt sich eine „hermeneutische Zwangssituation, eine aufgenötigte Sinnsuche aus dem neuartigen Bewußtsein einer durchweg frag‐
würdig gewordenen Vergangenheit“. Kritisch beschreibe man die Zwänge, unter denen man einst affirmative Texte verfasst habe, und rekonstruiere die Behinderung, der man in der wissenschaftlichen Arbeit ausgesetzt war. (Städtke 1991: 32f.)
Dabei lässt sich jedoch auch aus der Innenperspektive die Geschichte der Ge‐
sellschaftswissenschaften in der DDR häufig mit jeweils guten Gründen ganz ge‐
gensätzlich erzählen:
Das eine Narrativ liefert die Beschreibung von Institutionen, die zu dem Zweck bestanden, wissenschaftliche Begründungen für bereits Feststehendes zu liefern – nämlich für den historischen Fortschrittsprozess, der von den Klassi‐
kern des Marxismus‐Leninismus in den Grundzügen erschöpfend beschrieben worden sei und insofern nicht mehr in Frage stünde.
Das andere Narrativ über Gesellschaftswissenschaften in der DDR liefert lauter Geschichten subkutaner Renitenz: Nicht Willfährigkeit gegenüber der po‐
litischen Obrigkeit habe den Alltag in den Institutionen bestimmt, sondern eine Art Katz‐und‐Maus‐Spiel, mit dem man sich fortwährend darum bemühte, Frei‐
räume zu verteidigen und zu erweitern.
Gänzlich unberechtigt ist meist keine der beiden Darstellungen. Umstandslos überein kommen sie aber auch nicht. Dafür gibt es Gründe.
Die Gesellschaftswissenschaftler/innen vergleichen ihre Situation in der DDR meist nicht im Horizont universalistischer Kriterien der Wissenschaft, sondern typischerweise DDR‐systemimmanent. In dieser Perspektive erinnern sie dann nicht nur politische Übereinstimmung, sondern ebenso Konflikte mit politischen Ansinnen, denen sie ausgesetzt waren.112 Hier gibt es gibt eine deutlich Diskre‐
panz zwischen der Fremdeinschätzung der Gesellschaftswissenschaftler als konform und ihrer retrospektiven Selbstwahrnehmung als kritisch (Sparschuh 2005: 7). Indes verfehlt dabei keine der beiden Seiten ihren Betrachtungsge‐
genstand vollständig. Den Unterschied macht die Perspektive und das, was dabei jeweils abgeblendet wird: „die ehemaligen Akteure sehen, was sie ge‐
macht haben, und Außenstehende das, was unterblieb“ (Fischer 2011: 70).
Seinerzeit marginalisierte oder dissidentische DDR‐Wissenschaftler/innen sehen den ostdeutschen Staat meist jenseits des Rubikons der universalistischen Wis‐
senschaftsstandards. Für viele andere DDR‐Wissenschaftler/innen dagegen trifft es häufig nicht ihre Erfahrungswelt, wenn die DDR‐Wissenschaft vorrangig als ein Subsystem beschrieben wird, in dem es keinerlei individuelle und institu‐
tionelle Autonomie gegeben habe.
Zur Überraschung manches Außenstehenden erinnern auch DDR‐Gesellschafts‐
wissenschaftler/innen in ihren retrospektiven Betrachtungen stattdessen häufig sowohl ein Autonomiebewusstsein als auch autonome Spielräume. In einer Hin‐
sicht geschieht dies durchaus zu recht: Wenn individuelle Autonomie als die Möglichkeit zur Setzung eigener Zwecke verstanden wird, dann bot zumindest im Vergleich mit anderen Sektoren der DDR‐Gesellschaft die Wissenschaft in der Tat hohe Freiheitsgrade – übertroffen nur noch von Tätigkeiten in künstleri‐
schen Bereichen. Gleichwohl war weder künstlerische noch wissenschaftliche Tätigkeit in der DDR frei von sachfremder politischer Heteronomie.
Es wird jedenfalls darauf hingewiesen, dass diesbezüglich jede verallgemeinern‐
de Aussage an den Tatsachen vorbei gehen müsse. Vielmehr sei eine Reihe von Unterscheidungen nötig: zwischen Hochschulen und Akademieinstituten, zwi‐
schen Universitäten und anderen Hochschulen, zwischen den Gesamtinstitutio‐
nen und ihren einzelnen Bereiche, zwischen den verschiedenen Fächern,
112 Das ergibt jedenfalls eine Lektüre des weit überwiegenden Teils des inzwischen vorliegen‐
den autobiografischen Schrifttums von DDR‐Gesellschaftswissenschaftlern: vgl. oben Übersicht 17: Autobiografische Publikationen ostdeutscher Gesellschaftswissenschaftler/innen 1990–