Ab- und Umbauten seit 1990
3.4. Kulturen
3.4.1. Kollisionen: Ost-West
Die deutsch‐deutsche Wissenschaftszusammenführung war eine Kollision zwei‐
er extrem fremder Wissenschaftskulturen: einerseits die aus der DDR kommen‐
de, 40 Jahre lang weitgehend in sowjetisch‐osteuropäischem Kulturtransfer ent‐
wickelte, andererseits die in der ehemaligen Bundesrepublik zuvörderst in westlich‐transatlantischen Bezügen herausgebildete Wissenschaftskultur. Mit einer Spur Ironie ließe es sich so sagen: Eine differenziert flexible Beamtenwis‐
senschaft, hinsichtlich ihres Produktmarketings von angelsächsischem Einfluss nicht gänzlich unberührt, traf auf eine bislang an den herausragenden Leistun‐
gen der Sowjetwissenschaft orientierte zentralplangesteuerte Erkenntnissuche im Dienste der Erfüllung der Hauptaufgabe der Realisierung der Einheit von Wirtschafts‐ und Sozialpolitik.
1995 war der Strukturumbau weitgehend abgeschlossen und ostdeutsches Per‐
sonal noch in durchaus relevantem Maße vorhanden. Wir hatten seinerzeit die Ost‐West‐Beziehungen im Alltag der geisteswissenschaftlichen Einrichtungen untersucht und dazu u.a. 28 Interviews geführt, davon 26 mit Dekanen bzw. In‐
stitutsdirektoren, von denen 19 ursprünglich aus West‐, sieben aus Ostdeutsch‐
land stammten.94
Ost‐West‐Differenzen im Alltag wurden in diesen Interviews häufig bestritten.
Zwölf Interviewpartner gaben ausdrücklich an, dass keine bzw. kaum wesentli‐
che Differenzen oder Konflikte bestünden. Die Ost‐West‐Mischung der sich sol‐
cherart Äußernden war durchwachsen. In den Interviewverlauf eingebaute Kon‐
trollfragen ergaben indes fast immer auch in deren Einrichtungen bestehende, oft unterschwellige Differenzen. Völlige Eintracht, zumindest im Ost‐West‐Fo‐
kus, herrschte wohl nur in solchen Instituten, deren Ostpersonal‐Anteil gegen Null ging: „Ein Zusammenraufen ist fast nirgends notwendig, da kaum Ost‐Pro‐
fessoren da sind“, formulierte es ein Historiker und Dekan (W).
Allerdings: Bei aller Relativierung ost‐westlicher Unterschiede waren doch weit‐
aus mehr Beschreibungen ebensolcher Kontraste zu notieren. Sehr ausführlich fanden sich differierende Habitusformen geschildert. Von der vorsichtigen For‐
mulierung: „unterschiedliche Stile sind spürbar“ (O), über transzendierende Aus‐
sagen wie: „Merkwürdig ist es, in einem Umfeld zu leben, wo ‘68 nicht statt‐
gefunden hat: ‘68 hatte eine neue, zivile Kultur gebracht (und das kann man auch sagen, wenn man mit der Bewegung damals Schwierigkeiten hatte)“ (W), bis hin zu sehr deutlichen Meldungen:
„Wir haben hier ein vielfältig zusammengesetztes Gemisch aus inhaltlichen und ideologischen Dispositionen. Die Fähigkeit zur Rollendistanz ist bei den Ostdeut‐
schen geringer ausgeprägt. Sie haben große Schwierigkeiten, sachliche Ausein‐
andersetzungen, insbesondere wenn die hart geführt werden, nicht auf die per‐
sönliche Ebene zu beziehen, also auf emotionale Implikationen zu verzichten.
Deutlich wurde das z.B. bei einer Kolloquiumsreihe im ersten Jahr, in der alle Wissenschaftler ihre Projekte vorstellten, und sachliche, aber natürlich deutlich vorgetragene Einwände seitens der Westler bei den Ostdeutschen erhebliche Verstörungen auslösten. Bei den Ostlern gibt es eine stärkere Ängstlichkeit in Debatten und die Neigung, Unterstellungen zu vermuten bzw. mit solchen zu operieren. Das ist dann schon schwierig für jemanden, der aus einer eher ratio‐
nalen Diskurskultur kommt, wo man sich argumentativ nichts schenkt.“ (W) Differenziert wurde dabei immer wieder zwischen älteren und jüngeren Wis‐
senschaftlerInnen: „Die älteren Mittelbau‐Kollegen machen im wesentlichen, was sie schon immer gemacht haben.“ (Sprachwissenschaftler W) Doch den
„jungen Leuten – sie müssen sich der Konkurrenz stellen – gelingt die Öffnung nach außen problemlos. Bei den älteren Kollegen wirkt ganz augenscheinlich ei‐
ne starke Traditionalität in der Methodenorientierung“ (anderer Sprachwissen‐
schaftler W). Der Kontrast zeige sich auch in der Bewältigung des Institutsall‐
tags:
„Es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen älteren und jüngeren Ost‐Kol‐
legen: Die Älteren fragen 'Was sagt dazu die Institutsleitung?' Die Jüngeren sind wohl ziemlich froh über die eher lockeren Westverhältnisse bezüglich der allge‐
meinen Abläufe des akademischen Betriebs.“ (Literaturwissenschaftler W) Die Gründe für solche habituellen Differenzen sind, naheliegenderweise, we‐
sentlich in den unterschiedlichen fachlichen Biografien zu finden. Beispiele aus den Fächern:
„Die Profilschneidung geht von westlichen Voraussetzungen aus. Daraus folgt ei‐
ne strukturelle Benachteiligung der Ostdeutschen, da deren Profile meist schma‐
ler sind. Zum Beispiel können viele Slawisten nur Russisch und haben kein weite‐
res Standbein.“ (W)
„In Westdeutschland hatte sich in den letzten 20 Jahren eine Kultur der werkim‐
manenten musikalischen Analyse aufgebaut, die in der DDR wohl keine so große Rolle gespielt hat. Im Augenblick findet gerade eine Verabschiedung davon statt hin zu stärker soziologischen Fragestellungen. Jedoch ist es ein Unterschied, ob man sich von etwas verabschiedet, das man durchgemacht, oder ob man sich – wie die ostdeutschen Kollegen – davon nicht verabschieden muß, da man es nie kennengelernt hat.“ (W)
„Im Prinzip gibt es keine Kulturunterschiede. Die Westdeutschen haben lediglich bestimmte Ausbildungs‐ und Fremdsprachenvorteile.“ (O)
Aus den unterschiedlichen fachlichen Biografien resultierten deutlich verschie‐
dene Wissenschaftsverständnisse. Die Ostdeutschen seien stark positivistisch fi‐
xiert, wo bei den Westdeutschen mehr ein Offenhalten der Ansätze gepflegt werde (Historiker W). Freundlicher drückte es ein Philosoph (W) aus: „Es gibt ei‐
ne Entwicklung bei den ostdeutschen Kollegen dahingehend, die Offenheit der philosophischen Debatte als ‚allgemeiner Verunsicherung‘ zu akzeptieren.“ Die
schon genannte „augenscheinliche Traditionalität in der Methodenorientierung“
fand sich signifikant häufig erwähnt: „Viele ostdeutsche Kollegen haben Schwie‐
rigkeiten, neue methodische Ansätze aufzunehmen – oder überhaupt einen“
(Sprachwissenschaftler W).
All dies vollzog sich vor dem Hintergrund ost‐west‐differenzierter Berufungs‐
und Beschäftigungsmodalitäten. Ein Philosoph (W) verwies darauf, dass bei be‐
obachtbaren Diskriminierungen ostdeutscher Wissenschaftler unterschieden werden müsse zwischen aktiver und passiver Diskriminierung: „Die passive ist häufiger. Für den Einzelfall ist das problematisch, obwohl oft nicht so gemeint.“
Ein Beispiel dafür nannte ein Berliner Dekan (W): Die Berufungen waren durch‐
weg Neuberufungen, d.h. alle Rufempfänger haben auch Verhandlungen ge‐
führt. Aber: Die Verhandlungsposition der Ostdeutschen, also oftmals der alten Stelleninhaber, war die eines West‐Privatdozenten. Wenn der seine erste Stelle antrete, habe er keine Verhandlungsspielräume.
Gravierender noch waren die Probleme unterhalb der professoralen Ebene. Ein Historiker (W) konnte zwar eines verstehen: Dass der vorgefundene ostdeut‐
sche Mittelbau an seinen befristeten Beschäftigungen, die oft kürzlich noch un‐
befristet waren, hänge und die Ausschöpfung von Verlängerungsmöglichkeiten wünsche. Zugleich hätten aber die neuberufenen Professoren auch ein legiti‐
mes Interesse daran gehabt, eigene Assistenten mitzubringen: „Die benötigten sie für einen erfolgreichen Start einfach.“ Eine Spur drastischer ein Sprachwis‐
senschaftler (W): „Der Mittelbau hat die Gewöhnung an Zeitstellen noch nicht vollbracht. Darin zeigen sich gewisse Schwierigkeiten, sich zu drehen.“
Zwei Statements waren formuliert worden, die vor gefälligen aber unzulässigen Zuweisungen und Verallgemeinerungen im Ost‐West‐Fokus warnten:
„Oft sind es gar keine von einer Ost‐West‐Differenz bestimmten Probleme. Doch ist es auch verführerisch, irgendwelche Konflikte auf dieser Ebene abzubilden.
Zum Beispiel ertappt man sich bei Schwierigkeiten mit der Verwaltung und den sich dabei aufstauenden Aggressionen durchaus bei dem Gedanken: ‚Hier hätte mal richtig aufgeräumt werden müssen.‘ Obwohl man ja aus den West‐Hoch‐
schulen auch die Schwierigkeiten mit der Verwaltung kennt. Hier kommt dann freilich noch die mangelnde Professionalität hinzu. Die wäre aber vermutlich, wenn man genauer drüber nachdenkt, kaum besser, wenn 'richtig aufgeräumt' worden wäre.“ (Kulturwissenschaftler W)
Und: „Die Abwehr bzw. Neugierde bei Einheimischen wie Neuhinzugekommenen (unter denen sich ja auch z.T. Unerfahrene befinden) ist normal für jede Situati‐
on, wo Alte und Neue aufeinandertreffen. Das ist also nicht nur typisch für die hiesige Situation. Nur fällt es hier mit der unterschiedlichen Ost‐ bzw. West‐
Herkunft zusammen und wird auf dieser Folie reflektiert. Im übrigen besteht die Gefahr einer Verwechslung von Überforderung der Organisation einerseits und den Kontingenzen der Mentalitäten wie der Transformation andererseits: Anfor‐
derungen wie hier hätten wohl jede Organisation überfordert.“ (Regionalwissen‐
schaftler nichtdeutscher Herkunft)
Auch Horst Stenger und Annemarie Lüchauer (1998) hatten Mitte der 90er Jah‐
re auf der alltagsweltlichen Ebene des institutionellen Wissenschaftsbetriebs
gezeichnete Bild: Die Ost‐West‐Beziehungen an ostdeutschen Universitäten ließen sich als „Experten‐Laien‐Konstellation“ mit einem charakteristischen Sta‐
tusgefälle beschreiben. Gegenseitige Enttäuschungen konkretisierten sich bei den Ostdeutschen vor allem als nicht verwirklichte Gleichwertigkeitserwartun‐
gen, bei den Westdeutschen hingegen eher als fehlende Gleichartigkeit. In der Kommunikation werde häufig auf unterschiedliche Sinnhorizonte bezuggenom‐
men: Die ostdeutsche Wissensordnung gebe den Dingen einen anderen ‚Ort‘ als die westdeutsche Kontextualisierung. Zugleich werde der Zwang zur Wertschät‐
zung westdeutschen Wissens von den Ostdeutschen als Entwertung eigener Wissensstrukturen erfahren.
Die Westdeutschen, so Stenger/Lüchauer weiter, reproduzierten die strukturel‐
le Asymmetrie als Professionalitätsgefälle. Sie verknüpften also für ihren jewei‐
ligen beruflichen Erfahrungsbereich „ostdeutsche Herkunft“ mit „geringerer Lei‐
stungsfähigkeit“. So werde unter den Bedingungen der Konkurrenz um knappe Ressourcen die andere Vergangenheit der ostdeutschen Wissenschaftler/innen zu einem Stigmatisierungspotenzial, das stets von neuem zur Begründung der Verweigerung von Gleichwertigkeit herangezogen werden könne. Damit kom‐
me der Herkunft eine erhebliche Bedeutung hinsichtlich der Statuszuweisung und Karrierchancen zu. Verlieren werde diese sich erst dann, wenn die Biogra‐
fiemuster nicht mehr nach Ost und West zu unterscheiden sein werden. (Ebd.:
490f., 498, 501, 512f.)
Zehn Jahre später, 2005, konnte sich der aufmerksame Beobachter irritieren lassen, als die „Strukturkommission Zukunft Weimarer Klassik und Kunstsamm‐
lungen“ ein Gutachten vorlegte, das der Weimarer Stiftung ein höchst kritisches Zeugnis ausstellte:
„Immer noch sitzen Forscher und Kuratoren in den verstreuten Ablegern der Stiftung wie auf weitentfernten Inseln und verweigern geradezu systematisch die Zusammenarbeit. Auch die administrativ angeordnete Fusion der Klassikstif‐
tung mit den Weimarer Kunstsammlungen ist als bloße Addition betrieben wor‐
den, jedes Zusammengehörigkeitsgefühl fehle ... Es gebe kein Forschungskon‐
zept. Die Präsentation der Ausstellungen sei ‚verbesserungsfähig’ bis ‚unzumut‐
bar’ ... Keines der Weimarer Museen verfügt über ein klimatisiertes Depot. ...
die Zeichnungen Goethes seien noch immer größtenteils auf säure‐ oder holz‐
haltigen Kartons montiert, auf denen sie langsam zerfallen.“ (Wefing 2005)95 So weit, so schlecht. Dann aber noch ein fast unscheinbarer Satz: „Bis heute hat keine Evaluierung aller Mitarbeiter stattgefunden.“ Eine subkutane Botschaft:
Derart vernichtend müsse 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung keine an‐
dere wissenschaftliche Einrichtung im Osten bewertet werden. Dort aber, wo solch desaströse Zustände zu beschreiben sind, habe es, im Unterschied zu al‐
len anderen Einrichtungen, nie eine Evaluation der ostdeutschen Belegschaft gegeben.
Zwar ist, wie leicht zu erkennen, der größte Teil der umfangreichen Mängelliste auf Ausstattungsprobleme und administrative Insuffizienzen zurückzuführen ge‐
wesen. Auch wissen Eingeweihte, dass die Weimarer Stiftung in den 15 Jahren
95 Das Gutachten selbst ist nie veröffentlicht worden. Vgl. aber Wissenschaftsrat (2004; 2005).
zuvor mit permanenten Umstrukturierungen und Haushaltsproblemen geschla‐
gen war, was eine strategisch orientierte Organisationsentwicklung nicht eben förderte. Doch offenkundig menschelte es in der Stiftung auch beträchtlich, und eine gründliche Evaluation hätte da wohl, so die Insinuation, den Start im ver‐
einten Deutschland deutlich erleichtern können.
Vermutlich ist das sogar richtig. Jeder Neustart einer beliebigen Einrichtung dürfte besser gelingen, wenn nicht auf vorhandene Befindlichkeiten und Hierar‐
chiestrukturen Rücksicht genommen werden muss, sondern ein Punkt Null an‐
geordnet werden kann. Andernorts war dies der Normalfall, wenngleich dort dann zwar auf der formalen Ebene nicht auf vorhandene Befindlichkeiten Rück‐
sicht genommen werden musste, diese aber dennoch vorhanden waren. Wolf‐
gang Kaschuba, Ethnologe an der Humboldt‐Universität, verdankt sich der Hin‐
weis, dass die Situation durchaus im Stile eines ethnologischen Feldtagebuchs beschrieben werden könne:
„Fremde rücken in das Gebiet einer indigenen Stammeskultur vor, sie überneh‐
men dort die Schlüsselpositionen der Häuptlinge und Medizinmänner, zerstören einheimische Traditionen, verkünden neue Glaubenssätze, begründen neue Ri‐
ten. Das klassische Paradigma also eines interethnischen Kulturkonflikts, nur daß sein Schauplatz nicht in Papua‐Neuguinea liegt, sondern ganz unexotisch nah, in Berlin, Unter den Linden.“ (Kaschuba 1993)
Auswirkungen hatte das vor allem in Konkurrenzsituationen, in denen Ost‐ und Westdeutsche aufeinander stießen.96 Hierarchische Brechungen entlang der Ost‐West‐Achse führten zu einer wechselseitigen Befestigung zweier Tatbestän‐
de: Die hierarchische Untergeordnetheit verursachte eine schwächere Vertre‐
tung der Ostdeutschen in örtlichen wie in überregionalen akademischen und wissenschaftspolitischen Gremien. Das behinderte sie darin, ihre unzulängliche Verfügung über symbolisches, (wissenschafts‐)politisches und ökonomisches Kapital aufzuholen. Infolgedessen wurde wiederum die Unterrepräsentanz in Entscheidungsgremien perpetuiert.
Zugleich wurde häufig konstatiert, dass die ostdeutschen Wissenschaftler/innen durch Rat‐ und Orientierungslosigkeit, wie die neuen Freiräume individuell zu nutzen seien, mangelnde Flexibilität und wenig ausgeprägte Mobilitätsneigung charakterisiert seien (etwa Steinwachs 1993: 25). Zum Teil mag das dem Um‐
stand geschuldet gewesen sein, dass eine zunächst neue Situation Orientie‐
rungsleistungen erfordert, die Zeit benötigen. Auch hatten die äußeren Um‐
stände des DDR‐Wissenschaftsbetriebs die ostdeutschen Forscher/innen nur ungenügend für Flexibilitätsnotwendigkeiten konditioniert.
Dennoch hatten, trotz aller Fremdzwangdominanz, die Wissenschaft Treiben‐
den durchaus Selbststeuerungspotenziale ausbilden können: Auch in der DDR integrierte wissenschaftliche Arbeit – jedenfalls im Vergleich mit sonstigen Tä‐
tigkeiten – selbstbestimmte Elemente. Diese Selbststeuerungspotenziale befä‐
higten ostdeutsche Forscher/innen jedenfalls zu einem erheblichen Teil zur Ent‐
wicklung einer neuen Flexibilität unter veränderten Rahmenbedingungen.
Die nicht erfolglose Ausbildung neuer bzw. Adaption vorhandener Flexibilitäts‐
potenziale zeigte sich in den Ergebnissen unserer Befragung ostdeutscher Geis‐
teswissenschaftler/innen 1995. Von 1990 bis 1995 hatten 22 Prozent der betei‐
ligten Geisteswissenschaftler/innen Mobilitätserfahrungen gesammelt. Die Mo‐
bilitätsbereitschaft – wird ein Ortswechsel als möglich erachtet oder nicht? – betrug 56 Prozent. Drittmittelakquisitionen waren 30 Prozent der Beteiligten gelungen. Dabei habe die Bewilligungsquote bei 75 Prozent gelegen. Beide Zah‐
len bezogen sich jeweils zirka hälftig auf die DFG. Tagungsaktivitäten gaben 89 Prozent an, wobei 28,5 Prozent aller Tagungsreferate im Ausland gehalten wor‐
den seien. (Pasternack 1996: 195)
Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die Antwortenden auf die Umfrage vermutlich eine Positivauswahl darstellten und das Antwortverhalten z.T. durch soziale Erwünschtheit beeinflusst gewesen sein mag: Die 1990 festgestellte
„Rat‐ und Orientierungslosigkeit“ hatte bei wenigstens einem bedeutenden Teil der ostdeutschen GeisteswissenschaftlerInnen nicht lange vorgehalten.
Das ist um so höher einzuschätzen, als die Umbruchszeit der Jahre 1989 bis 1995 auch mangelnde Arbeitsruhe infolge existentieller Verunsicherungen und des fortwährend notwendigen Einstellens auf veränderte Bedingungen be‐
schert hatte. Verbunden war dies mit dem weitgehenden individuellen Verlust bisher gültiger sozialer Wahrnehmungsmuster und der Notwendigkeit, sich mit einem völlig neuen System von, nicht zuletzt informellen, Codierungen konfron‐
tiert zu sehen. Alte Vertraut‐ und Gewißheiten, in die man hineingewachsen war, waren auszutauschen gegen neue Unvertraut‐ und Ungewißheiten, in die man plötzlich und vorbereitungslos geriet.
Die nun abgeforderte Flexibilität trat, wo sie anzutreffen war, in zwei Varianten auf: als kreative Beweglichkeit und als anpasserische Wendigkeit. Erstere eigne‐
te sowohl DDR‐Karrieristen, gespeist aus trainiertem Durchsetzungsvermögen, als auch ‐Nonkonformisten, begründet in Konfliktfähigkeit, die auf individueller Autonomie beruht. Anpasserische Wendigkeit hingegen zeichnete den klassi‐
schen Mitläufertyp aus. Er ist zu flexibler Verhaltensanpassung solange fähig, wie die neuen Rahmenbedingungen strukturelle Ähnlichkeiten zu den vorange‐
gangenen aufweisen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Flexibili‐
tätsformen ist: Die Träger der ersteren suchen sich ggf. ihre Möglichkeiten selbst. Die Träger der letzteren jedoch müssen die Möglichkeiten geboten be‐
kommen. Andernfalls versagen die ihnen zur Verfügung stehenden subjektiven Handlungspotenziale vor den Anforderungen der geänderten Bedingungen.
Zu erkennen hatten die Wissenschaftler/innen aber auch, dass mancherlei Usancen des akademischen Betriebs zwar ihre DDR‐typische Politisierung verlo‐
ren hatten, aber im Kern keineswegs verschwunden waren. Eine prägnante journalistische Beobachtung am Historischen Institut der Universität Potsdam aus dem Jahre 1995:
„Den Studenten wird hier wahrlich einiges geboten. Junge Leute, die bei irgend‐
einem westdeutschen Karriere‐Historiker studieren, genießen dieses Privileg nicht. Nie werden sie erleben, wie sich ihr Professor im Vorlesungsraum geknickt anklagt: daß er schändlicherweise und ohne Not den herrschenden Diskurs
nachgeplappert habe; daß er konkurrierende Kollegen weggeboxt habe; daß er eigene Schüler rücksichtslos auf Versorgungsstellen gehievt habe; daß er strate‐
gische Koalitionen geschlossen habe, um der eigenen Forschung Geldmittel zu sichern; daß er planmäßig Berufungskommissionen infiltriert habe; und daß er das alles jetzt bereue.“ (Schümer 1995)
Dem entsprachen dann durchaus Beobachtungen unter den neuen Bedingun‐
gen, die offenkundig eher denjenigen gelangen, die aus ihrer DDR‐Erfahrung ei‐
ne geschärfte Wahrnehmung westdeutscher Wissenschaftsüblichkeiten zu ge‐
winnen vermochten:
„Wie kann man nur so angepaßt sein, entrüstet sich ein Kollege aus München über die DDR‐Intellektuellen. Später versucht er mit seiner intimen Kenntnis ge‐
wisser Spielregeln zu glänzen: Ohne persönliche Beziehungen bekäme man kei‐
nen Fuß in die DFG hinein. Ich wolle in einem Aufsatz mit Herrn B. polemisieren?
Welche Naivität. Herr B. sei ordentlicher Fachgutachter bei der DFG, auf mei‐
nem Gebiet; wenn ich den anginge, könne ich mir eine Projektfinanzierung gleich in den Wind schreiben ...“ (Schmidt 1994: 28)
3.4.2. Der Umbau: Kritik und Selbstkritik
Kritisiert wurden die Umbauvorgänge meist unter Gerechtigkeitsaspekten oder mit rechtspositivistischen Argumenten. Scharf davon abgesetzt waren jakobi‐
nisch inspirierte Positionen: „Die Abwicklungen sind ein hochpolitischer Befrei‐
ungsschlag, der arbeitsrechtliche Zwänge beseitigt“ (Nowak 1991: 373). In Ber‐
lin hieß es 1991 von einem Erneuerungsaktivisten, ein Ergänzungsgesetz zum Hochschulgesetz solle die „Demokratie zum Teil aussetzen“, damit die Hoch‐
schulerneuerung gelinge. Der bis dahin hochschulpolitisch zurückhaltende Kanz‐
ler der Humboldt‐Universität, ein Jurist, klärte daraufhin entgeistert darüber auf, dass es zum Wesen von Grundrechten gehöre, daß diese nicht auszusetzen sind. (Küpper 1993: 79)
In den Interventionen der ‚Jakobiner‘ drückte sich das Interesse der Benachtei‐
ligten des DDR‐Systems aus, einen Strafanspruch gegen die seinerzeitigen Sys‐
temträger durchzusetzen. Schlichtweg zurückweisen lässt sich dies kaum, je‐
denfalls wenn bedacht wird, dass dahinter häufig genug mutwillig beschädigte Biografien standen. Es kann daher nicht verwundern, dass die moralischen An‐
teile an den Bewertungen der Umbauprozesse auf allen Seiten vergleichsweise hoch waren (und sind), die Kontroversität demgemäß auch. Das zeigt sich be‐
sonders augenfällig darin, wie völlig gegensätzlich die Legitimität der Vorgänge von beteiligten ostdeutschen Akteuren selbst bewertet wurde:
Die einen behaupteten die Vollkompatibilität mit demokratischen Erforder‐
nissen. Denn die „legitimierten Vertreter des Volkes, des eigentlichen Souve‐
räns, sitzen im Landtag“ – und also nicht an den Hochschulen, wie etwa ein sächsischer Erneuerungsaktivist betonte (Reinschke 1992: 71).
Andere diagnostizierten beim Wissenschaftsumbau die Demokratie im Ko‐
ma. So stellte ein „Ostdeutsches Memorandum“, zum 3. Oktober 1992 von 29 ostdeutschen Organisationen vorgelegt, „häufig zu beobachtende grundgesetz‐
widrige und auch dem Einigungsvertrag widersprechende Praktiken bei der Schließung wissenschaftlicher Einrichtungen, bei der Kündigung von Wissen‐
schaftlern ... sowie bei der Aberkennung der ‚persönlichen Eignung’“ fest. Es forderte daher „demokratisches Mitbestimmungsrecht der Wissenschaftler, Studenten und Angestellten bei der Erneuerung der Wissenschaft …, umgehen‐
de Überwindung der Bevormundung und Entmündigung“ (Ostdeutsches Memo‐
randum 1993).
Dritte schließlich sahen Defizite, die freilich der Übergangszeit geschuldet seien und mithin zeitlicher Begrenzung unterlägen. Beispielsweise stellte sich nach Ansicht eines Akteurs in Sachsen‐Anhalt „die sehr kritische Frage, wie die personelle Zusammensetzung der [Personalüberprüfungs‐]Kommissionen zu‐
stande gekommen ist. Die Antwort ist: Nicht so demokratisch, wie man sich das wünschen könnte“. Doch: „Hätten wir die Personalkommissionen wirklich frei gewählt, dann hätten wir auch die Parteistrukturen wieder einsetzen können.
Es wäre weitgehend identisch gewesen.“ (Olbertz 1992: 28)
Aus recht unterschiedlichen Perspektiven waren im Laufe der Jahre dann Anläs‐
se gesehen worden, um die kritischen Aspekte der Umbauprozesse zu doku‐
mentatieren (Übersicht 13).
Auf der Seite derjenigen, die aus dem Wissenschaftsbereich selbst aktiv an den Evaluationen und Umbauten beteiligt waren, setzte sich im Laufe der Jahre eine doppelte Argumentation durch. Einerseits müsse man Fehler anerkennen, die im einzelnen gemacht worden seien, „die auch verletzt haben, die Personen betroffen haben, die es verdient hätten, anders behandelt zu werden“. Ande‐
rerseits sei der Weg im Grundsatz richtig gewesen, da „fast jede denkbare Al‐
ternative … zu schlechteren Ergebnissen geführt hätte“. (Markl 1997: 31) Die Ursache dafür, eine solch ambivalente Bewertung treffen zu müssen, wird ex‐
ternalisiert: Die „Zusammenführung der Wissenschaft in diesem raschen Hol‐
terdipolter“ (ebd.) wird äußeren Bewegungskräften zugeschrieben, wahlweise der Politik oder der geschichtlichen Dynamik.
Eine überraschende Facette der Kontroversität fand sich rund ein Jahrzehnt nach Umbau‐Beginn dokumentiert, als 2002 auf einer Tagung „10 Jahre da‐
nach“ west‐ und ostdeutsche Akteure ihr seinerzeitiges Tun und dessen seithe‐
rige Wirkungen bilanzierten. Im ganzen fiel die Rückschau auch hier positiv aus, doch schloss dies deutliche Selbstzweifel und kritische Anmerkungen ein.
Schuld habe man auf sich geladen und sich an einer ganzen Generation ver‐
sündigt (Horst Kern). Ungerechtigkeiten (Benno Parthier) und persönliche Tra‐
gik (Manfred Erhardt) seien zu beklagen. Es habe sich um einen schmerzlichen Prozess gehandelt (Jens Reich), für die Betroffenen um eine Katastrophe (Ger‐
hard Maess). An der Humboldt‐Universität seien Fehlentscheidungen der Eh‐
renkommissionen vorgekommen, wenngleich nur gelegentliche (Erich Thiess), und ungerechtfertigte Härten erzeugt worden (Richard Schröder). (Wegelin 2002: 14f.) Am deutlichsten formulierte der Konstanzer Philosoph Jürgen Mit‐
telstraß: