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Ab- und Umbauten seit 1990

3.4. Kulturen

3.4.1. Kollisionen: Ost-West

Die deutsch‐deutsche Wissenschaftszusammenführung war eine Kollision zwei‐

er extrem fremder Wissenschaftskulturen: einerseits die aus der DDR kommen‐

de, 40 Jahre lang weitgehend in sowjetisch‐osteuropäischem Kulturtransfer ent‐

wickelte,  andererseits  die  in  der  ehemaligen  Bundesrepublik  zuvörderst  in  westlich‐transatlantischen  Bezügen  herausgebildete  Wissenschaftskultur. Mit  einer Spur Ironie ließe es sich so sagen: Eine differenziert flexible Beamtenwis‐

senschaft,  hinsichtlich  ihres  Produktmarketings  von  angelsächsischem  Einfluss  nicht gänzlich unberührt, traf auf eine bislang an den herausragenden Leistun‐

gen  der  Sowjetwissenschaft  orientierte  zentralplangesteuerte  Erkenntnissuche  im  Dienste  der  Erfüllung  der  Hauptaufgabe  der  Realisierung  der  Einheit  von  Wirtschafts‐ und Sozialpolitik.  

1995 war der Strukturumbau weitgehend abgeschlossen und ostdeutsches Per‐

sonal noch in durchaus relevantem Maße vorhanden. Wir hatten seinerzeit die  Ost‐West‐Beziehungen  im  Alltag  der  geisteswissenschaftlichen  Einrichtungen  untersucht und dazu u.a. 28 Interviews geführt, davon 26 mit Dekanen bzw. In‐

stitutsdirektoren, von denen 19 ursprünglich aus West‐, sieben aus Ostdeutsch‐

land stammten.94 

Ost‐West‐Differenzen  im  Alltag  wurden  in  diesen  Interviews  häufig  bestritten. 

Zwölf Interviewpartner gaben ausdrücklich an, dass keine bzw. kaum wesentli‐

che Differenzen oder Konflikte bestünden. Die Ost‐West‐Mischung der sich sol‐

cherart Äußernden war durchwachsen. In den Interviewverlauf eingebaute Kon‐

trollfragen ergaben indes fast immer auch in deren Einrichtungen bestehende,  oft  unterschwellige  Differenzen.  Völlige  Eintracht,  zumindest  im  Ost‐West‐Fo‐

kus,  herrschte  wohl  nur  in  solchen  Instituten,  deren  Ostpersonal‐Anteil  gegen  Null ging: „Ein Zusammenraufen ist fast nirgends notwendig, da kaum Ost‐Pro‐

fessoren da sind“, formulierte es ein Historiker und Dekan (W). 

Allerdings: Bei aller Relativierung ost‐westlicher Unterschiede waren doch weit‐

aus mehr Beschreibungen ebensolcher Kontraste zu notieren. Sehr ausführlich  fanden sich differierende Habitusformen geschildert. Von der vorsichtigen For‐

mulierung: „unterschiedliche Stile sind spürbar“ (O), über transzendierende Aus‐

sagen  wie: „Merkwürdig  ist  es,  in  einem  Umfeld  zu  leben,  wo  ‘68  nicht  statt‐

gefunden  hat:  ‘68  hatte  eine  neue,  zivile  Kultur  gebracht  (und  das  kann  man  auch sagen, wenn man mit der Bewegung damals Schwierigkeiten hatte)“ (W),  bis hin zu sehr deutlichen Meldungen:  

      

„Wir haben hier ein vielfältig zusammengesetztes Gemisch aus inhaltlichen und  ideologischen Dispositionen. Die Fähigkeit zur Rollendistanz ist bei den Ostdeut‐

schen  geringer  ausgeprägt.  Sie  haben  große  Schwierigkeiten,  sachliche  Ausein‐

andersetzungen, insbesondere wenn die hart geführt werden, nicht auf die per‐

sönliche  Ebene  zu  beziehen,  also  auf  emotionale  Implikationen  zu  verzichten. 

Deutlich  wurde  das  z.B.  bei  einer  Kolloquiumsreihe  im  ersten  Jahr,  in  der  alle  Wissenschaftler  ihre  Projekte  vorstellten,  und  sachliche,  aber  natürlich  deutlich  vorgetragene  Einwände  seitens  der  Westler  bei  den  Ostdeutschen  erhebliche  Verstörungen  auslösten.  Bei  den  Ostlern  gibt  es  eine  stärkere  Ängstlichkeit  in  Debatten  und  die  Neigung,  Unterstellungen  zu  vermuten  bzw.  mit  solchen  zu  operieren. Das ist dann schon schwierig für jemanden, der aus einer eher ratio‐

nalen Diskurskultur kommt, wo man sich argumentativ nichts schenkt.“ (W)  Differenziert  wurde  dabei  immer  wieder  zwischen  älteren  und  jüngeren  Wis‐

senschaftlerInnen: „Die  älteren  Mittelbau‐Kollegen  machen  im  wesentlichen,  was  sie  schon  immer  gemacht  haben.“  (Sprachwissenschaftler  W)  Doch  den 

„jungen  Leuten  –  sie  müssen  sich  der  Konkurrenz  stellen  –  gelingt  die  Öffnung  nach außen problemlos. Bei den älteren Kollegen wirkt ganz augenscheinlich ei‐

ne starke Traditionalität in der Methodenorientierung“ (anderer Sprachwissen‐

schaftler  W).  Der  Kontrast  zeige  sich  auch  in  der  Bewältigung  des  Institutsall‐

tags:  

„Es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen älteren und jüngeren Ost‐Kol‐

legen: Die Älteren fragen 'Was sagt dazu die Institutsleitung?' Die Jüngeren sind  wohl ziemlich froh über die eher lockeren Westverhältnisse bezüglich der allge‐

meinen Abläufe des akademischen Betriebs.“ (Literaturwissenschaftler W)  Die  Gründe  für  solche  habituellen  Differenzen  sind,  naheliegenderweise,  we‐

sentlich in den unterschiedlichen fachlichen Biografien zu finden. Beispiele aus  den Fächern:  

„Die Profilschneidung geht von westlichen Voraussetzungen aus. Daraus folgt ei‐

ne strukturelle Benachteiligung der Ostdeutschen, da deren Profile meist schma‐

ler sind. Zum Beispiel können viele Slawisten nur Russisch und haben kein weite‐

res Standbein.“ (W)  

„In Westdeutschland hatte sich in den letzten 20 Jahren eine Kultur der werkim‐

manenten musikalischen Analyse aufgebaut, die in der DDR wohl keine so große  Rolle gespielt hat. Im Augenblick findet gerade eine Verabschiedung davon statt  hin zu stärker  soziologischen Fragestellungen. Jedoch ist es ein  Unterschied, ob  man sich von etwas verabschiedet, das man durchgemacht, oder ob man sich –  wie die ostdeutschen Kollegen – davon nicht verabschieden muß, da man es nie  kennengelernt hat.“ (W)  

„Im Prinzip gibt es keine Kulturunterschiede. Die Westdeutschen haben lediglich  bestimmte Ausbildungs‐ und Fremdsprachenvorteile.“ (O)  

Aus den unterschiedlichen fachlichen Biografien resultierten deutlich verschie‐

dene Wissenschaftsverständnisse. Die Ostdeutschen seien stark positivistisch fi‐

xiert,  wo  bei  den  Westdeutschen  mehr  ein  Offenhalten  der  Ansätze  gepflegt  werde (Historiker W). Freundlicher drückte es ein Philosoph (W) aus: „Es gibt ei‐

ne  Entwicklung  bei  den  ostdeutschen  Kollegen  dahingehend,  die  Offenheit  der  philosophischen  Debatte  als  ‚allgemeiner  Verunsicherung‘  zu  akzeptieren.“  Die 

schon genannte „augenscheinliche Traditionalität in der Methodenorientierung“ 

fand sich signifikant häufig erwähnt: „Viele ostdeutsche Kollegen haben Schwie‐

rigkeiten,  neue  methodische  Ansätze  aufzunehmen  –  oder  überhaupt  einen“ 

(Sprachwissenschaftler W).  

All  dies  vollzog  sich  vor  dem  Hintergrund  ost‐west‐differenzierter  Berufungs‐ 

und Beschäftigungsmodalitäten. Ein Philosoph (W) verwies darauf, dass bei be‐

obachtbaren  Diskriminierungen  ostdeutscher  Wissenschaftler  unterschieden  werden  müsse  zwischen  aktiver  und  passiver  Diskriminierung: „Die  passive  ist  häufiger. Für den Einzelfall ist das problematisch, obwohl oft nicht so gemeint.“ 

Ein Beispiel dafür nannte ein Berliner Dekan (W): Die Berufungen waren durch‐

weg  Neuberufungen,  d.h.  alle  Rufempfänger  haben  auch  Verhandlungen  ge‐

führt. Aber: Die Verhandlungsposition der Ostdeutschen, also oftmals der alten  Stelleninhaber, war die eines West‐Privatdozenten. Wenn der seine erste Stelle  antrete, habe er keine Verhandlungsspielräume. 

Gravierender noch waren die Probleme unterhalb der professoralen Ebene. Ein  Historiker  (W)  konnte  zwar  eines  verstehen:  Dass  der  vorgefundene  ostdeut‐

sche Mittelbau an seinen befristeten Beschäftigungen, die oft kürzlich noch un‐

befristet waren, hänge und die Ausschöpfung von Verlängerungsmöglichkeiten  wünsche.  Zugleich  hätten  aber  die  neuberufenen  Professoren  auch  ein  legiti‐

mes Interesse daran gehabt, eigene Assistenten mitzubringen: „Die benötigten  sie  für  einen  erfolgreichen  Start  einfach.“  Eine  Spur  drastischer  ein  Sprachwis‐

senschaftler  (W): „Der  Mittelbau  hat  die  Gewöhnung  an  Zeitstellen  noch  nicht  vollbracht. Darin zeigen sich gewisse Schwierigkeiten, sich zu drehen.“ 

Zwei Statements waren formuliert worden, die vor gefälligen aber unzulässigen  Zuweisungen und Verallgemeinerungen im Ost‐West‐Fokus warnten: 

„Oft sind es gar keine von einer Ost‐West‐Differenz bestimmten Probleme. Doch  ist  es  auch  verführerisch,  irgendwelche  Konflikte  auf  dieser  Ebene  abzubilden. 

Zum Beispiel ertappt man sich bei Schwierigkeiten mit der Verwaltung und den  sich dabei aufstauenden Aggressionen durchaus bei dem Gedanken: ‚Hier hätte  mal  richtig  aufgeräumt  werden  müssen.‘  Obwohl  man  ja  aus  den  West‐Hoch‐

schulen  auch  die  Schwierigkeiten  mit  der  Verwaltung  kennt.  Hier  kommt  dann  freilich  noch  die  mangelnde  Professionalität  hinzu.  Die  wäre  aber  vermutlich,  wenn  man  genauer  drüber  nachdenkt,  kaum  besser,  wenn  'richtig  aufgeräumt'  worden wäre.“ (Kulturwissenschaftler W) 

Und: „Die Abwehr bzw. Neugierde bei Einheimischen wie Neuhinzugekommenen  (unter denen sich ja auch z.T. Unerfahrene befinden) ist normal für jede Situati‐

on,  wo  Alte  und  Neue  aufeinandertreffen.  Das  ist  also  nicht  nur  typisch  für  die  hiesige  Situation.  Nur  fällt  es  hier  mit  der  unterschiedlichen  Ost‐  bzw.  West‐

Herkunft zusammen und wird auf dieser Folie reflektiert. Im übrigen besteht die  Gefahr  einer  Verwechslung  von  Überforderung  der  Organisation  einerseits  und  den Kontingenzen der Mentalitäten wie der Transformation andererseits: Anfor‐

derungen wie hier hätten wohl jede Organisation überfordert.“ (Regionalwissen‐

schaftler nichtdeutscher Herkunft) 

Auch Horst Stenger und Annemarie Lüchauer (1998) hatten Mitte der 90er Jah‐

re  auf  der  alltagsweltlichen  Ebene  des  institutionellen  Wissenschaftsbetriebs 

gezeichnete  Bild:  Die  Ost‐West‐Beziehungen  an  ostdeutschen  Universitäten  ließen sich als „Experten‐Laien‐Konstellation“ mit einem charakteristischen Sta‐

tusgefälle  beschreiben.  Gegenseitige  Enttäuschungen  konkretisierten  sich  bei  den Ostdeutschen vor allem als nicht verwirklichte Gleichwertigkeitserwartun‐

gen, bei den Westdeutschen hingegen eher als fehlende Gleichartigkeit. In der  Kommunikation werde häufig auf unterschiedliche Sinnhorizonte bezuggenom‐

men: Die ostdeutsche Wissensordnung gebe den Dingen einen anderen ‚Ort‘ als  die westdeutsche Kontextualisierung. Zugleich werde der Zwang zur Wertschät‐

zung  westdeutschen  Wissens  von  den  Ostdeutschen  als  Entwertung  eigener  Wissensstrukturen erfahren. 

Die Westdeutschen, so Stenger/Lüchauer weiter, reproduzierten die strukturel‐

le Asymmetrie als Professionalitätsgefälle. Sie verknüpften also für ihren jewei‐

ligen beruflichen Erfahrungsbereich „ostdeutsche Herkunft“ mit „geringerer Lei‐

stungsfähigkeit“. So werde unter den Bedingungen der Konkurrenz um knappe  Ressourcen die andere Vergangenheit der ostdeutschen Wissenschaftler/innen  zu  einem  Stigmatisierungspotenzial,  das  stets  von  neuem  zur  Begründung  der  Verweigerung  von  Gleichwertigkeit  herangezogen  werden  könne.  Damit  kom‐

me  der  Herkunft  eine  erhebliche  Bedeutung  hinsichtlich  der  Statuszuweisung  und Karrierchancen zu. Verlieren werde diese sich erst dann, wenn die Biogra‐

fiemuster nicht mehr nach Ost und West zu unterscheiden sein werden. (Ebd.: 

490f., 498, 501, 512f.) 

Zehn  Jahre  später,  2005,  konnte  sich  der  aufmerksame  Beobachter  irritieren  lassen, als die „Strukturkommission Zukunft Weimarer Klassik und Kunstsamm‐

lungen“ ein Gutachten vorlegte, das der Weimarer Stiftung ein höchst kritisches  Zeugnis ausstellte:  

„Immer  noch  sitzen  Forscher  und  Kuratoren  in  den  verstreuten  Ablegern  der  Stiftung  wie  auf  weitentfernten  Inseln  und  verweigern  geradezu  systematisch  die Zusammenarbeit. Auch die administrativ angeordnete Fusion der Klassikstif‐

tung mit den Weimarer Kunstsammlungen ist als bloße Addition betrieben wor‐

den,  jedes  Zusammengehörigkeitsgefühl  fehle  ...  Es  gebe  kein  Forschungskon‐

zept. Die Präsentation der Ausstellungen sei ‚verbesserungsfähig’ bis ‚unzumut‐

bar’  ...  Keines  der  Weimarer  Museen  verfügt  über  ein  klimatisiertes  Depot.  ... 

die  Zeichnungen  Goethes  seien  noch  immer  größtenteils  auf  säure‐  oder  holz‐

haltigen Kartons montiert, auf denen sie langsam zerfallen.“ (Wefing 2005)95  So weit, so schlecht. Dann aber noch ein fast unscheinbarer Satz: „Bis heute hat  keine  Evaluierung  aller  Mitarbeiter  stattgefunden.“  Eine  subkutane  Botschaft: 

Derart  vernichtend  müsse  15  Jahre  nach  der deutschen  Vereinigung  keine  an‐

dere  wissenschaftliche  Einrichtung  im  Osten  bewertet  werden.  Dort  aber,  wo  solch desaströse Zustände zu beschreiben sind, habe es, im Unterschied zu al‐

len  anderen  Einrichtungen,  nie  eine  Evaluation  der  ostdeutschen  Belegschaft  gegeben.  

Zwar ist, wie leicht zu erkennen, der größte Teil der umfangreichen Mängelliste  auf Ausstattungsprobleme und administrative Insuffizienzen zurückzuführen ge‐

wesen. Auch wissen Eingeweihte, dass die Weimarer Stiftung in den 15 Jahren        

95 Das Gutachten selbst ist nie veröffentlicht worden. Vgl. aber Wissenschaftsrat (2004; 2005). 

zuvor mit permanenten Umstrukturierungen und Haushaltsproblemen geschla‐

gen war, was eine strategisch orientierte Organisationsentwicklung nicht eben  förderte. Doch offenkundig menschelte es in der Stiftung auch beträchtlich, und  eine gründliche Evaluation hätte da wohl, so die Insinuation, den Start im ver‐

einten Deutschland deutlich erleichtern können. 

Vermutlich  ist  das  sogar  richtig.  Jeder  Neustart  einer  beliebigen  Einrichtung  dürfte besser gelingen, wenn nicht auf vorhandene Befindlichkeiten und Hierar‐

chiestrukturen Rücksicht genommen werden muss, sondern ein Punkt Null an‐

geordnet  werden  kann.  Andernorts  war  dies  der  Normalfall,  wenngleich  dort  dann zwar auf der formalen Ebene nicht auf vorhandene Befindlichkeiten Rück‐

sicht genommen werden musste, diese aber dennoch vorhanden waren. Wolf‐

gang Kaschuba, Ethnologe an der Humboldt‐Universität, verdankt sich der Hin‐

weis,  dass  die  Situation  durchaus  im  Stile  eines  ethnologischen  Feldtagebuchs  beschrieben werden könne:  

„Fremde rücken in das Gebiet einer indigenen Stammeskultur vor, sie überneh‐

men dort die Schlüsselpositionen der Häuptlinge und Medizinmänner, zerstören  einheimische  Traditionen,  verkünden  neue  Glaubenssätze,  begründen  neue  Ri‐

ten.  Das  klassische  Paradigma  also  eines  interethnischen  Kulturkonflikts,  nur  daß  sein  Schauplatz  nicht  in  Papua‐Neuguinea  liegt,  sondern  ganz  unexotisch  nah, in Berlin, Unter den Linden.“ (Kaschuba 1993) 

Auswirkungen hatte das vor allem in Konkurrenzsituationen, in denen Ost‐ und  Westdeutsche  aufeinander  stießen.96  Hierarchische  Brechungen  entlang  der  Ost‐West‐Achse führten zu einer wechselseitigen Befestigung zweier Tatbestän‐

de:  Die  hierarchische  Untergeordnetheit  verursachte  eine  schwächere  Vertre‐

tung  der  Ostdeutschen  in  örtlichen  wie  in  überregionalen  akademischen  und  wissenschaftspolitischen Gremien. Das behinderte sie darin, ihre unzulängliche  Verfügung  über  symbolisches,  (wissenschafts‐)politisches  und  ökonomisches  Kapital  aufzuholen.  Infolgedessen  wurde  wiederum  die  Unterrepräsentanz  in  Entscheidungsgremien perpetuiert.  

Zugleich wurde häufig konstatiert, dass die ostdeutschen Wissenschaftler/innen  durch  Rat‐  und  Orientierungslosigkeit,  wie  die  neuen  Freiräume  individuell  zu  nutzen seien, mangelnde Flexibilität und wenig ausgeprägte Mobilitätsneigung  charakterisiert  seien  (etwa  Steinwachs  1993:  25).  Zum  Teil  mag  das  dem  Um‐

stand  geschuldet  gewesen  sein,  dass  eine  zunächst  neue  Situation  Orientie‐

rungsleistungen  erfordert,  die  Zeit  benötigen.  Auch  hatten  die  äußeren  Um‐

stände  des  DDR‐Wissenschaftsbetriebs  die  ostdeutschen  Forscher/innen  nur  ungenügend für Flexibilitätsnotwendigkeiten konditioniert.  

Dennoch  hatten,  trotz  aller  Fremdzwangdominanz,  die  Wissenschaft  Treiben‐

den  durchaus  Selbststeuerungspotenziale  ausbilden  können:  Auch  in  der  DDR  integrierte wissenschaftliche Arbeit – jedenfalls im Vergleich  mit sonstigen Tä‐

tigkeiten  –  selbstbestimmte  Elemente.  Diese  Selbststeuerungspotenziale  befä‐

higten ostdeutsche Forscher/innen jedenfalls zu einem erheblichen Teil zur Ent‐

wicklung einer neuen Flexibilität unter veränderten Rahmenbedingungen.  

      

Die nicht erfolglose Ausbildung neuer bzw. Adaption vorhandener Flexibilitäts‐

potenziale zeigte sich in den Ergebnissen unserer Befragung ostdeutscher Geis‐

teswissenschaftler/innen 1995. Von 1990 bis 1995 hatten 22 Prozent der betei‐

ligten Geisteswissenschaftler/innen Mobilitätserfahrungen gesammelt. Die Mo‐

bilitätsbereitschaft  –  wird  ein  Ortswechsel  als  möglich  erachtet  oder  nicht?  –  betrug  56  Prozent.  Drittmittelakquisitionen  waren  30 Prozent  der  Beteiligten  gelungen. Dabei habe die Bewilligungsquote bei 75 Prozent gelegen. Beide Zah‐

len bezogen sich jeweils zirka hälftig auf die DFG. Tagungsaktivitäten gaben 89  Prozent an, wobei 28,5 Prozent aller Tagungsreferate im Ausland gehalten wor‐

den seien. (Pasternack 1996: 195) 

Auch  wenn  man  in  Rechnung  stellt,  dass  die  Antwortenden  auf  die  Umfrage  vermutlich eine Positivauswahl darstellten und das Antwortverhalten z.T. durch  soziale  Erwünschtheit  beeinflusst  gewesen  sein  mag:  Die  1990  festgestellte 

„Rat‐ und Orientierungslosigkeit“ hatte bei wenigstens einem bedeutenden Teil  der ostdeutschen GeisteswissenschaftlerInnen nicht lange vorgehalten.  

Das  ist  um  so  höher  einzuschätzen,  als  die  Umbruchszeit  der  Jahre  1989  bis  1995 auch mangelnde Arbeitsruhe infolge existentieller Verunsicherungen und  des  fortwährend  notwendigen  Einstellens  auf  veränderte  Bedingungen  be‐

schert hatte. Verbunden war dies mit dem weitgehenden individuellen Verlust  bisher gültiger sozialer Wahrnehmungsmuster und der Notwendigkeit, sich mit  einem völlig neuen System von, nicht zuletzt informellen, Codierungen konfron‐

tiert  zu  sehen.  Alte  Vertraut‐  und  Gewißheiten,  in  die  man  hineingewachsen  war, waren auszutauschen gegen neue Unvertraut‐ und Ungewißheiten, in die  man plötzlich und vorbereitungslos geriet.  

Die nun abgeforderte Flexibilität trat, wo sie anzutreffen war, in zwei Varianten  auf: als kreative Beweglichkeit und als anpasserische Wendigkeit. Erstere eigne‐

te  sowohl  DDR‐Karrieristen,  gespeist  aus  trainiertem  Durchsetzungsvermögen,  als auch ‐Nonkonformisten, begründet in Konfliktfähigkeit, die auf individueller  Autonomie  beruht.  Anpasserische  Wendigkeit  hingegen  zeichnete  den  klassi‐

schen  Mitläufertyp  aus.  Er  ist  zu  flexibler  Verhaltensanpassung  solange  fähig,  wie die neuen Rahmenbedingungen strukturelle Ähnlichkeiten zu den vorange‐

gangenen aufweisen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Flexibili‐

tätsformen  ist:  Die  Träger  der  ersteren  suchen  sich  ggf.  ihre  Möglichkeiten  selbst.  Die  Träger  der  letzteren  jedoch  müssen  die  Möglichkeiten  geboten  be‐

kommen. Andernfalls versagen die ihnen zur Verfügung stehenden subjektiven  Handlungspotenziale vor den Anforderungen der geänderten Bedingungen. 

Zu  erkennen  hatten  die  Wissenschaftler/innen  aber  auch,  dass  mancherlei  Usancen des akademischen Betriebs zwar ihre DDR‐typische Politisierung verlo‐

ren  hatten,  aber  im  Kern  keineswegs  verschwunden  waren.  Eine  prägnante  journalistische  Beobachtung  am  Historischen  Institut  der  Universität  Potsdam  aus dem Jahre 1995: 

„Den Studenten wird hier wahrlich einiges geboten. Junge Leute, die bei irgend‐

einem  westdeutschen  Karriere‐Historiker  studieren,  genießen  dieses  Privileg  nicht. Nie werden sie erleben, wie sich ihr Professor im Vorlesungsraum geknickt  anklagt:  daß  er  schändlicherweise  und  ohne  Not  den  herrschenden  Diskurs 

nachgeplappert habe; daß er konkurrierende Kollegen weggeboxt habe; daß er  eigene Schüler rücksichtslos auf Versorgungsstellen gehievt habe; daß er strate‐

gische  Koalitionen  geschlossen  habe,  um  der  eigenen  Forschung  Geldmittel  zu  sichern;  daß  er  planmäßig  Berufungskommissionen  infiltriert  habe;  und  daß  er  das alles jetzt bereue.“ (Schümer 1995) 

Dem  entsprachen  dann  durchaus  Beobachtungen  unter  den  neuen  Bedingun‐

gen, die offenkundig eher denjenigen gelangen, die aus ihrer DDR‐Erfahrung ei‐

ne  geschärfte  Wahrnehmung  westdeutscher  Wissenschaftsüblichkeiten  zu  ge‐

winnen vermochten: 

„Wie  kann  man  nur  so  angepaßt  sein,  entrüstet  sich  ein  Kollege  aus  München  über die DDR‐Intellektuellen. Später versucht er mit seiner intimen Kenntnis ge‐

wisser Spielregeln zu glänzen: Ohne persönliche Beziehungen bekäme man kei‐

nen Fuß in die DFG hinein. Ich wolle in einem Aufsatz mit Herrn B. polemisieren? 

Welche  Naivität.  Herr  B.  sei  ordentlicher  Fachgutachter  bei  der  DFG,  auf  mei‐

nem  Gebiet;  wenn  ich  den  anginge,  könne  ich  mir  eine  Projektfinanzierung  gleich in den Wind schreiben ...“ (Schmidt 1994: 28) 

3.4.2. Der Umbau: Kritik und Selbstkritik

Kritisiert wurden die Umbauvorgänge meist unter Gerechtigkeitsaspekten oder  mit  rechtspositivistischen  Argumenten.  Scharf  davon  abgesetzt  waren  jakobi‐

nisch inspirierte Positionen: „Die Abwicklungen sind ein hochpolitischer Befrei‐

ungsschlag, der arbeitsrechtliche Zwänge beseitigt“ (Nowak 1991: 373). In Ber‐

lin  hieß  es  1991  von  einem  Erneuerungsaktivisten,  ein  Ergänzungsgesetz  zum  Hochschulgesetz  solle  die  „Demokratie  zum  Teil  aussetzen“,  damit  die  Hoch‐

schulerneuerung gelinge. Der bis dahin hochschulpolitisch zurückhaltende Kanz‐

ler  der  Humboldt‐Universität,  ein  Jurist,  klärte  daraufhin  entgeistert  darüber  auf, dass es zum Wesen von Grundrechten gehöre, daß diese nicht auszusetzen  sind. (Küpper 1993: 79) 

In den Interventionen der ‚Jakobiner‘ drückte sich das Interesse der Benachtei‐

ligten des DDR‐Systems aus, einen Strafanspruch gegen die seinerzeitigen Sys‐

temträger  durchzusetzen.  Schlichtweg  zurückweisen  lässt  sich  dies  kaum,  je‐

denfalls wenn bedacht wird, dass dahinter häufig genug mutwillig beschädigte  Biografien standen. Es kann daher nicht verwundern, dass die moralischen An‐

teile an den Bewertungen der Umbauprozesse auf allen Seiten vergleichsweise  hoch  waren  (und  sind),  die  Kontroversität  demgemäß  auch.  Das  zeigt  sich  be‐

sonders augenfällig darin, wie völlig gegensätzlich die Legitimität der Vorgänge  von beteiligten ostdeutschen Akteuren selbst bewertet wurde: 

 Die einen behaupteten die Vollkompatibilität mit demokratischen Erforder‐

nissen.  Denn  die  „legitimierten  Vertreter  des  Volkes,  des  eigentlichen  Souve‐

räns,  sitzen  im  Landtag“  –  und  also  nicht  an  den  Hochschulen,  wie  etwa  ein  sächsischer Erneuerungsaktivist betonte (Reinschke 1992: 71).  

 Andere  diagnostizierten  beim  Wissenschaftsumbau  die  Demokratie  im  Ko‐

ma. So stellte ein „Ostdeutsches Memorandum“, zum 3. Oktober 1992 von 29  ostdeutschen Organisationen vorgelegt, „häufig zu beobachtende grundgesetz‐

widrige  und  auch  dem  Einigungsvertrag  widersprechende  Praktiken  bei  der  Schließung  wissenschaftlicher  Einrichtungen,  bei  der  Kündigung  von  Wissen‐

schaftlern  ...  sowie  bei  der  Aberkennung  der  ‚persönlichen  Eignung’“  fest.  Es  forderte  daher  „demokratisches  Mitbestimmungsrecht  der  Wissenschaftler,  Studenten und Angestellten bei der Erneuerung der Wissenschaft …, umgehen‐

de Überwindung der Bevormundung und Entmündigung“ (Ostdeutsches Memo‐

randum 1993). 

 Dritte  schließlich  sahen  Defizite,  die  freilich  der  Übergangszeit  geschuldet  seien  und  mithin  zeitlicher  Begrenzung  unterlägen.  Beispielsweise  stellte  sich  nach Ansicht eines Akteurs in Sachsen‐Anhalt „die sehr kritische Frage, wie die  personelle  Zusammensetzung  der  [Personalüberprüfungs‐]Kommissionen  zu‐

stande gekommen ist. Die Antwort ist: Nicht so demokratisch, wie man sich das  wünschen  könnte“.  Doch:  „Hätten  wir  die  Personalkommissionen  wirklich  frei  gewählt,  dann  hätten  wir  auch  die  Parteistrukturen  wieder  einsetzen  können. 

Es wäre weitgehend identisch gewesen.“ (Olbertz 1992: 28) 

Aus recht unterschiedlichen Perspektiven waren im Laufe der Jahre dann Anläs‐

se  gesehen  worden,  um  die  kritischen  Aspekte  der  Umbauprozesse  zu  doku‐

mentatieren (Übersicht 13). 

Auf der Seite derjenigen, die aus dem Wissenschaftsbereich selbst aktiv an den  Evaluationen und Umbauten beteiligt waren, setzte sich im Laufe der Jahre eine  doppelte  Argumentation  durch.  Einerseits  müsse  man  Fehler  anerkennen,  die  im  einzelnen  gemacht  worden  seien,  „die  auch  verletzt  haben,  die  Personen  betroffen  haben,  die  es  verdient  hätten,  anders  behandelt  zu  werden“.  Ande‐

rerseits  sei  der  Weg  im  Grundsatz  richtig  gewesen,  da  „fast  jede  denkbare  Al‐

ternative  …  zu  schlechteren  Ergebnissen  geführt  hätte“.  (Markl  1997:  31)  Die  Ursache  dafür,  eine  solch  ambivalente  Bewertung  treffen  zu  müssen,  wird  ex‐

ternalisiert:  Die  „Zusammenführung  der  Wissenschaft  in  diesem  raschen  Hol‐

terdipolter“  (ebd.)  wird  äußeren  Bewegungskräften  zugeschrieben,  wahlweise  der Politik oder der geschichtlichen Dynamik. 

Eine  überraschende  Facette  der  Kontroversität  fand  sich  rund  ein  Jahrzehnt  nach  Umbau‐Beginn  dokumentiert,  als  2002  auf  einer  Tagung  „10  Jahre  da‐

nach“ west‐ und ostdeutsche Akteure ihr seinerzeitiges Tun und dessen seithe‐

rige Wirkungen bilanzierten. Im ganzen fiel die Rückschau auch hier positiv aus,  doch schloss dies deutliche Selbstzweifel und kritische Anmerkungen ein. 

Schuld  habe  man  auf  sich  geladen  und  sich  an  einer  ganzen  Generation  ver‐

sündigt  (Horst  Kern).  Ungerechtigkeiten  (Benno  Parthier)  und  persönliche  Tra‐

gik (Manfred Erhardt) seien zu beklagen. Es habe sich um einen schmerzlichen  Prozess gehandelt (Jens Reich), für die Betroffenen um eine Katastrophe (Ger‐

hard  Maess).  An  der  Humboldt‐Universität  seien  Fehlentscheidungen  der  Eh‐

renkommissionen vorgekommen, wenngleich nur gelegentliche (Erich  Thiess),  und  ungerechtfertigte  Härten  erzeugt  worden  (Richard  Schröder).  (Wegelin  2002:  14f.)  Am  deutlichsten  formulierte  der  Konstanzer  Philosoph  Jürgen  Mit‐

telstraß: