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Tempusunabhängige130 Strukturen 1. Renarrativ

2. Die Realisierung der einzelnen Bedeutungen auf der Äußerungs- ebene in anderen Sprachenebene in anderen Sprachen

2.2. Tempusunabhängige130 Strukturen 1. Renarrativ

Die Wiedergabe einer Fremdäußerung ist zweifellos die Bedeutung des zur Diskussion ste- henden Sextetts, der bisher die größte Aufmerksamkeit geschenkt wurde und die auch in den Monographien zur Evidenz (Evidentiality 1986; Evidentials 2000; Haarmann 1970) die do- minierende Rolle spielt. Die Ursache dafür ist in der sich universell herausgebildeten gesell- schaftlich-sozialen Verpflichtung der kommunizierenden Personen zur Angabe der Informati- onsquelle zu suchen, die in ihrer bereits Jahrtausende (Ebert 1991: 91) zählenden Tradition zu einer kaum zu übertreffenden Vielfalt an Realisierungsweisen geführt hat, so daß hier nur bestimmte Akzente gesetzt werden können, die mir besonders wichtig und hervorhebenswert in bezug auf das eigentliche Thema erscheinen.

Das Bild, das im folgenden gezeichnet wird, ist nicht ohne weiteres auf die Einzelsprachen übertragbar, in denen nur eine gewisse Auswahl von Arten der Redewiedergabe gekennzeich- net wird - nicht selten in Verbindung mit bestimmten Merkmalen der Sprechereinstellung - bzw. in einigen Fällen ihre Markierung überhaupt nicht erfolgt, obwohl es sich eindeutig um die Reproduktion fremden Wissens handelt.131

Einen Überblick zu diesen Fragen kann man für die auf dem amerikanischen und asiati- sehen Kontinent existierenden Sprachen in den folgenden Arbeiten (Evidentiality 1986; Evi- dcntials 2000; Willctt 1988) einholen, сіііс sehr gute Zusammenfassung des Problems isi u.a.

für die afrikanischen Sprachen bei Ebert (1991) zu finden.

Besonders erwähnt werden muß an dieser Stelle die Kategorisierung des Renarrativs bei

l ï 0 Mit diesem Arbeitsbegriff sollen im folgenden all die Konstruktionen betrachtet werden, die unter Umstän-

den eine prädikative Struktur und damit auch temporale Beziehungen aufweisen können, aber in bezug auf die Realisierung der einzelnen BcdVFki. nicht an den Ausdruck bestimmter Tempora, vor allem aber der Vergangenheitstempora, gebunden sind. Diese Gruppe wird aus gegebenem Anlaß gesondert beschrieben werden.

131 Die Sprachen der in Wissenschaft und Technik profilierten Nationen sind dafür das beste Beispiel. Eine Kennzeichnung jeder nicht-sprechereigenen Erkenntnis müßte hier unglaubliche Ausmaße annchmcn. so daß die Markierung eines gewissen Teils unter bestimmten Bedingungen. z.B. allgemein zugängliches Wis- sen in der nichtwissenschaftlichen Kommunikation, generell nicht eingefordert wird.

mich auf die vorzustellen, Methode im

Willett (a.a.O.: 97), der auf Grundlage des ihm vorliegenden Sprachmaterials second- und third-hand-Informationen132, Rede Wiedergabe in bestimmten literarischen Genres wie Ge- schichten. Legenden usw. sowie eine auf keine spezielle Art festgelegte Form voneinander trennt. In einer Vielzahl von Sprachen decken die meisten Marker, ob bestimmte Suffixe, Partikeln usw., mehrere dieser Bereiche ab.

Der Aufsatz von Ebert (1991) ist insofern eine gute Ergänzung, als er sich hauptsächlich der Herausbildung der entsprechenden Marker widmet und die Frage nach der Verbindung zwischen den einzelnen Sprachen stellt. In überzeugender Weise wird das Funktionieren von Zitierpartikeln und Konjunktionen am Beispiel der verschiedensten asiatischen und afrikani- sehen Sprachen demonstriert, die sich aus verba dicendi entwickelt haben und auf der vorlie- genden Stufe direkte oder indirekte Rede einleiten. Für unsere Zwecke ist die Schlußfolgerung von Bedeutung, daß diese Erscheinung kaum als Sprachbundphänomen zu interpretieren ist (a.a.O.: 91), sondern ״ universale Prinzipien zum Tragen kommen“ (a.a.O.: 89). Diese werden von Ebert wie folgt zusammengefaßt133:

I. Zunächst steht das Verb ‘sagen’ in einer vollständigen Form (je nach Sprachtyp flektiert, als Partizip, als serielles Verb) zwischen dem eigentlichen Verbum dicendi und dem Komplement.

П. Auf der zweiten Stufe werden die morphologischen Markierungen reduziert (entfällt bei isolierenden Sprachen).

Ш. Das ehemalige V.dic. wird zur unveränderlichen Partikel, in der Funktion vergleichbar mit Anführungszeichen. Oft entsteht ein neues Verb *sagen’.

IV. Die Partikel wird in den Objektsatz verschoben und somit zur Konjunktion, die zunächst nur Komplementsätze einleitet.

V. Die Konjunktion markiert Finalsätze.

VI. Die Konjunktion markiert a) Kausalsätze und/oder b) Konditionalsätze. (a.a.O.: 87)

Die ersten drei Entwicklungsstufen sind für die russische Partikel de - zwar mit einigen Schwierigkeiten, was Punkt I anbelangt - , ebenfalls nachweisbar. Ein von Molotkov angeführ- ter Abschnitt aus der Nestorchronik (Повести временных лет) (Молотков 1952: 171) be- legt deutlich das Nebeneinander der 3.P.Sg. des Verbs дъяти in der Bedeutung ‘sagen* und

13 2 Diese Bezeichnung entspricht meiner Unterteilung in bezeugte und nichtbezeugte Rede von seiten des Er- Zählers in bezug auf die Originaläußerung, vgl. Levin-Steinmann (1996; 1997). Willetts Definition (a.a.O.:

96), in der nur die Akzente anders gesetzt sind, lautet wie folgt für die second-hand-Information: ״the spea- ker claims to have heard of the situation described from someone who was a direct witness.“ und für die third-hand-Information: ״ the speaker claims to have heard about the situation described, but not from a di- rect witness.**

133 Es sind in den jeweils untersuchten Sprachen nicht alle Stufen durchlaufen worden. In bestimmten Fällen fand der Prozeß auf der vierten Stufe seinen Abschluß, in anderen setzte er erst bei Stufe 3 ein. Als gemein*

samer Nenner ist aber stets die Herausbildung von Konjunktionen zu verzeichnen.

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anderer verba dicendi, vgl.:

(46) Суть ж е хитро сказающе, и чюдно слышати их, любо комуждо слушати их, и другий свътъ повъдають быти: да аще кто, д-ьеть в нашу въру сту- пить, то паки, умеръ, въстанеть, и не умрети ему в въки... [Sie erzählen aber gewandt, und es ist wunderbar, sie anzuhören; und einem jeden ist es lieb, ih- nen zuzuhören. Und sie künden, es gebe eine andere Welt. Und wenn einer, sagen sie, in unseren Glauben eintritt, so wird der, wenn er gestorben ist, wieder aufer- stehen und braucht in Ewigkeit nicht mehr zu sterben.] (Übers, nach: Müller, L.:

Die Nestorchronik. München 2001: 131)

Im Hinblick auf die Herausbildung entsprechender Konjunktionen im Russischen, z.B. якобы und будто (бы), spielen ehemalige verba dicendi keine Rolle, d.h., daß hier im Gegensatz zu den von Ebert erörterten Sprachen eine ganz andere Entwicklung erfolgt ist.134

Die Beurteilung der eigentlichen Zitierpartikeln de, дескать und мол gestaltet sich um ein Vielfaches schwieriger. Prinzipiell ist festzuhalten, daß мол universell einsetzbar ist, d.h. kei- nerlei Einschränkungen in seinem Gebrauch unterliegt. Dagegen weisen de und дескать eine gewisse Affinität zur Nichtbezeugtheit der Rede auf, bei Willett mit dem Terminus *third- hand’-Information bezeichnet, bzw. zur nichtoriginalgetreuen Zitierweise, d.h. es findet z.T.

eine Vermischung von Fremdäußerung und Erzählerkommentar statt, oder es liegt überhaupt keine zitierbare Äußerung vor, sie wird entweder erfunden bzw. aus der Mimik und Gestik eines vermeintlichen Sprechers ״herausgelesen“.

Aus dem Gesagten erklärt sich die mögliche Verwendung von дескать bei der Wiedergabe von Gerüchten (48), immer ersetzbar durch die Partikel мол. Im Gegensatz dazu ist eine

er-# « _ _

zählereigene Äußerung obligatorisch an мол gebunden, vgl. Beleg (47).

(47) - Когда я был у него в Будапеште, Бобби предложил мне сыграть в но- вые шахматы. Он же придумал свою игру - Fisher’s new chess. Я говорю, молл старые шахматы еще не успел толком освоить, а ты мне новые под- совываешъ. (Собеседник 2/97) [ - Als ich bei ihm in Budapest war, schlug mir Bobby vor, auf neue Art Schach zu spielen. Er hat sich sein eigenes Spiel ausge- dacht - Fisher’s new chess. Ich sage ihm (...), daß ich das alte Schach noch nicht einmal beherrsche und du kommst mir mit einem neuen.]

134 Während die Vorgängerform яко von якобы ausschließlich Konstruktionen der direkten Rede einleitete (М олотков 1952: 192), war будто schon immer an die indirekte Rede gebunden, in dessen unmittelbaren Umgebung nicht selten auch de als Hauptindikator für fremde Rede zu finden war. Im gegenwärtigen Sprachzustand bringen beide Einheiten generell, d.h. über ihre syntaktische Rolle als Konjunktion und pragmatische Rolle als Einleitung einer Fremdäußerung hinaus, eine distanzierte Stellung des Sprechenden gegenüber einem Sachverhalt zum Ausdruck - ein Fakt, der für den Vergleich entsprechender Textpassagen der bulgarischen Version wesentlich ist. Beide Einheiten treten außerdem in der Funktion einer Partikel auf, in der будто auch die Folgerichtigkeit einer gezogenen Schlußfolgerung anzuzweifeln vermag.

(48) В профессиональной среде модельного бизнеса ходит много различных слухов: дескать, успех здесь достигается не высококлассной работой, а умением ״подкладываться“ под нужных людей. Ни подтвердить, ни опровергнуть эти слухи я не берусь, ״свечку не держал*1. (Собеседник 27/96) [In der Modebranche gibt es die verschiedensten Gerüchte: man sagt, daß der Erfolg hier nicht von erstklassiger Arbeit henührt, sondern von der Fähigkeit, sich ״ unter die wichtigen Leute zu legen**. Ich kann diese Gerüchte weder deinen- tieren noch bestätigen, denn ich habe ,Jeeine Kerze gehalten**.]

Die Partikel de, die sich im wesentlichen noch mit den Gebrauchssphären von дескать deckt, läßt immer mehr eine Verselbständigung, wahrscheinlich durch den Übergang von der Parti- kelfunktion in die eines Enklitikons verursacht, bzw. ein Aufweichen der Gebrauchsrestrik- tionen erkennen, d.h., sie dringt in Bereiche ein, die bisher nur мол für sich beansprucht hat, vgl. ausführlich zu der Problematik Levin-Steinmann (1997).

Zitierpartikeln spielen auch im Polnischen eine wichtige Rolle, vgl. die Einheiten ponoć, rzekomo und niby, im Deutschen dagegen eine untergeordnete. Der alleinige Vertreter angeb- lieh verhält sich zudem durch den konstanten Ausdruck einer wertenden135 Distanzierung des Erzählers zum Dictum, unabhängig von der (Nicht)Bezeugtheit der Rede, semantisch eindeu- tig•

Diskussionsbedürftig ist dagegen die Funktion der Modalverben sollen und wollen. Wäh- rend man sich weitgehend darüber einig ist, daß sollen keine spezifische modale Bedeutung an sich bindet (Öhlschläger 1989: 234) - eine Distanzierung vom Gesagten wird in dem Fall meistens durch eine entsprechende Satzintonation angezeigt - , gehen die Meinungen ausein- ander, ob wollen unabhängig vom kontextuellen Zusammenhang in der Lage ist, *Zweifel an der Wahrheit’ bezüglich des Dictums auszudrücken (a.a.O.: 234f; Dobrewa-Kostowa/Don- tschewa 1978: 46).136

13 5 An dieser Stelle macht sich der Hinweis auf die Mehrdeutigkeit der Lexeme Distanz bzw. Distanzierung erforderlich, die sowohl im zeitlich-räumlichen als auch gefühlsmäßig wertenden Sinne gebraucht werden können. Da beide Anwendungssphären eine herausragende Rolle in dieser Arbeit spielen, ist deren eindeu- tige Unterscheidung von besonderer Wichtigkeit. Ein Nachteil vieler Arbeiten auf diesem Gebiet besteht ge- rade darin, daß sie keine diesbezügliche Differenzierung vornehmen, was wiederum zu einer einseitigen In- terpretation im von einigen Linguisten gewünschten Sinne verleitet.

13 6 Ein wesentlicher Unterschied in der Anwendung der beiden Modalverben besteht darin, daß es sich bei sollen sowohl um eine sog. *second'• als auch ‘third-hand'-Information handeln kann, bei der die Identität des ״Vermittlers“ im dunkeln bleibt, vgl. (Calbert 1975: 52f; Öhlschläger 1989: 234), d.h., die im Subjekt genannte Person - es treten auch Objektbenennungen in dieser Position auf - und die als Informationsquelle auftretende Person sind auf keinen Fall ein und dieselbe. Im Vergleich dazu ist wollen an ein Agentiv bzw.

SubjektfeM gebunden. Außerdem ist die Person, auf die sich die Proposition bezieht, mit der als Sprecher der Originaläußerung fungierenden Person identisch. Sehr oft ist der Erzähler Zeuge der Rede, über deren Inhalt er sich ein Urteil bildet, und zwar überwiegend ein ablehnendes, vgl. auch Calbert (a.a.O.). Die Rolle von wollen in dieser grammatikalisierten Konstruktion signalisiert dabei den *Wunsch des Originalspre- chers, den dargestellten Sachverhalt als geschehen zu betrachten*, der allerdings von dem Rezipienten als solcher erkannt wird und damit auch die in den meisten Fällen bestehende Diskrepanz zwischen dargestell­

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Vor allem an dieser Realisierungsart des Renarrativs wird die Dimension deutlich, wie zahl- reich und vielfältig die Metainformationen sein können, aus deren Menge sich jede Sprache eine für sie relevant erscheinende Anzahl auswählt und dieser eine Form verleiht. Der Ge- brauch des Konjunktivs im Deutschen steht dem in nichts nach, seine Besprechung wird aber in das nächste Teilkapitel verlegt, um den wesentlichen Unterschied zwischen Konjunktiv I und П, der u.a. auf diesen Formen zugrunde liegende temporale Vorstellungen zurückzuführen ist, im Zusammenhang darstellen zu können.

2.2.2. Zustandskonstatierung

Eine langjährige Tradition der Beschreibung der Kategorie *Zustand1 besteht meines Wissens nur in der Russistik, allerdings mit der Einschränkung, daß es hierbei weniger um die Darstel- lung der Gesamtheit ihrer sprachlichen Wiedergabe geht, sondern um die semantische Inter- pretation bestimmter Wortarten137 bzw. grammatischer Formen. Bei den letztgenannten han- delt es sich um adjektivische Kurzformen , die in der prädikativen Funktion eine Zwischen- Stellung zwischen Nomen und Verb einnehmen (vgl. Виноградов 1972: 319ff)• Eingebettet sind sie entweder in persönliche oder unpersönliche Sätze, wobei letztere im Zusammenhang mit dem im Dativ stehenden Experiencer, vgl. кому-л. холодно, хорошо, скучно oder j-m ist warm, langweilig, besonders typisch für das Russische139 sind. Die einer Person oder einem Ding bzw. Sachverhalt auf diese Weise, d.h. auf Grundlage einer semantisch erzeugten Iden- tifikationsbeziehung, zugeschriebenen Eigenschaften, realisiert durch entsprechende Kopulae

tem und tatsächlichem Geschehen. Ist der Erzähler nicht unmittelbarer Zeuge der Rede, stützt er sich ent*

weder auf einen entsprechenden Verdacht, der ihm durch die aussagevermittelnde Person mitgeteilt wurde oder abc.‘ auf eine sehr gute Kenninis Jer Situation. Au* dei skizzicKcn Konstellation wird auch deutlich, warum sich wollen nicht auf die l.P. in der Subjektfunktion beziehen kann, weil dann die Position von Sprecher und Erzähler zusammenschmclzcn würde, was gewissermaßen zu einer ,kommunikativen Selbst*

cntlarvung’ führen würde. Daß wollen seinen optativischcn bzw. voluntativen Charakter in diese Art von Konstruktionen einbringt, beweist die blockierte Identifizierung von Redcwiedcrgabc für die Fälle, wenn das Dictum selbst einen Wunsch expliziert bzw. von der sprechenden Person ein Sachverhalt als Wunsch interpretiert wird, ohne daß er Gegenstand einer vorangegangenen Äußerung war, vgl. die Beispielsätze in (Dobrewa-Kostowa/Dontschewa 1978: 46):

Er will alles besser wissen, (+R) vs. Er will gut deutsch sprechen und hat dabei kein W on von unserem Gespräch verstanden. (-R)

13 7 Im Deutschen beträfe das die sog. Modalwörter, soweit sic als eigenständige Wortartklassc anerkannt wer-

den. bzw. einen Teil der Adjektive und Adverbien. In bezug auf die Vertreter der jeweiligen Gruppen mit modaler Bedeutung habe ich allerdings Zweifel, inwieweit sie auch einen 'Zustand* explizieren können.

lM Eingeschlossen die Kurzformen der Partizipien Passiv Präteritum.

13 9 Diese Feststellung trifft auch Wierzbicka, die in diesem Konstmktionstyp ein Zeichen von ‘fehlender Kon-

trolle* und *Passivität’ sieht, vgl. (Вежбицкая 1996: 45ff)■

unter Berücksichtigung nochmaliger semantischer Differenzierungen zwischen den einzelnen Sprachen140 sowie durch deren Nullrealisierung, gehört unbestritten zu den universellen Kemmittein der Zustandsexplizierung.

Außer den Lexemen mit der Funktion einer Kopula kann diese von Morphemen übemom- men werden, vgl. die agglutinierenden Sprachen, die sich aus den verschiedensten Wortarten, vor allem aber Verben und Demonstrativpronomen usw., entwickelt haben. Nicht zu verges- sen sind außerdem spezielle Marker wie Suffixe, Kopulae, Partikeln, Konjunktionen (comple- mentizer) usw., die vor allem in indianischen und verschiedenen asiatischen Sprachen über die Zustandskonstatierung hinaus Auskunft über die Art der Wahrnehmung (optisch, akustisch usw.) geben (Hardman 1986: 115; Willett 1988: 97).

Eine nicht unwesentliche Rolle bei der Realisierung dieser Bedeutung in einer Vielzahl von Sprachen spielt die Gruppe der phraseologisierten bis hin zu den idiomatischen Wendungen, die zum einen mit bestimmten zustandsexplizierenden Komponenten ihre semantische Funk- tion offenbaren wie z.B.:

(49) у кого тошно на душе oder у-m ist es warm ums Herz usw.

bzw. in ihrer Gesamtbedeutung ohne direkten strukturellen Hinweis auf einen Zustand rekur- rieren, vgl. Levin-Steinmann (1999c, 1999b). Daneben existieren Ausdrücke, in denen ein Substantiv mit besonderer charakterisierender Semantik die entsprechende morphologische Eigenschaft mehr und mehr verliert und Züge von unpersönlich-prädikativen Wörtern nach Vinogradov (a.a.O.: 333) annimmt, vgl. лень/охота/грех делать что-л. In der modernen ras- sischen Umgangssprache sind feste Verbindungen diesen Typs wie auch folgende expressive Ausrufe:

(50) Фантастика! Класс! Морока какая! Полный улет! Полный отпад!

vgl. deutsch:

(51) So eine Idiotie! Klasse! Super! usw.,

denen ein hoher Anteil an zustandsexplizierenden Eigenschaften neben entsprechenden ex- pressiven und konnotativen Merkmalen zuzusprechen ist, nicht wegzudenken. Die Paarung

14 0 Vgl. im Spanischen den semantischen Unterschied zwischen ser und estar.

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von Emotivität141 bzw. Expressivität mit Faktizität142, wie sie in diesen Beispielen zum Aus- druck kommt, ist in indoeuropäischer Sprachen weit verbreitet. Ein signifikantes Merkmal

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dieses Außerungstyps ist nach Isačenko der ״emphatische Wegfall der Kopula“ (Исаченко 1955: 53), der in bezug auf das vorliegende Thema besonders interessant sein dürfte wie auch der Kopulaausfall in allgemein-faktischen Aussagen, vgl. entsprechende Parömien des Typs:

(52) здравый дух в здоровом теле (a.a.O.: 51), Gesagt, getan! u.a.m.

Entgegen der Annahme, daß mit den hier beschriebenen Realisierungstypen das Reservoir weitgehend erschöpft sein müßte143, ist eine weitere Quelle mit den Vergangenheitsformen auszumachen, die im Zusammenspiel mit der Verbsemantik und ggf. mit den Aspektbedeu- tungen ein durchaus universelles Mittel darstellen, um die Vorstellung der Erzeugung eines Zustandes zu vermitteln, s. dazu die entsprechenden Abschnitte.

Eine Brückenfunktion zu den Tempora mit entsprechender Bedeutung üben im Russischen u.a. prädikativ gebrauchte Partizipien Präteritum Aktiv144 aus. Es handelt sich dabei um ein sehr produktives Überbleibsel in der dialektalen und/oder salopp gefärbten Umgangssprache (Плунгян 2000: 298; Соболев 1998) aus den Zeiten, als Aorist- und Perfektformen noch nebeneinander existiert haben (Trost 1968: 99) und in bezug auf Resultativa gegenseitig aus- tauschbar waren, vgl.:

(53) - Старуха железная оказалась. Не то что в обморок.״ Подошла к мужи- ку, стала карманы шмонать. А ему־то щекотно. Он и засмеялся. Тут ста- руха - раз и выключилась. И с концами. А он висит. Отцепиться не мо- жет. Приходит жена. Видит - такое дело. Бабка с концами и муж пове- сивш и. Ж ена берет трубку, звонит: »Вася, у меня дома - тыщ а и одна ночь. Зато я теперь свободна. Приезжай...“ (Довлатов / Компромисс восьмой) [ - Die Alte erwies sich als eiskalt. Fiel nicht etwa in Ohnmacht... Ging zu dem Mann hin und begann die Taschen zu durchsuchen, was ihn kitzelte. Er lachte plötzlich !os. Da drehte sie weg und cs war aus mit ihr. Aber er hängi da

141 Emotivität verwende ich nicht als Synonym zu Expressivität, sondern zu Konnotativität, d.h., der Sprecher bringt eine Wertung des dargestellten Sachverhalts zum Ausdruck, ohne daß diese obligatorisch von einer äußerlich erkennbaren Gefühlsregung begleitet sein muß.

14 2 Die Termini Faktizität und Zustandskonstatierung bzw. *explizierung werden von mir synonym verwendet.

14 3 Auf Aussagen, die zustandscxplizierende Prädikatsadjektive enthalten wie z.B. in:

Он вернулся усталый. *Er kam müde zurück.',

soll an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. Sie gewinnen erst im Zusammenhang mit be- stimmten Realisierungen im Bulgarischen an Bedeutung.

144 Eine Verbindung dieses Partizips mit der noch zur Anwendung kommenden Kopula быти im Präsens soll bereits für das Urslavische belegt sein und gilt als einer der Vorläufer für das altrussische Perfekt (Eckert et al. 1983: 167; Соболев 1998). Während sich das entsprechende Partizip im literatursprachlichen Russi- sehen nur in der attributiv gebrauchten Langform behaupten konnte und in prädikativer Funktion durch das /•Partizip ersetzt wurde, setzte sich letzteres im Bulgarischen in beiden Formen und Positionen durch.

und kann sich nicht losmachen. Als die Frau kommt, bietet sich ihr folgendes Bild: ein totes Weib und der Mann erhängt. Sie nimmt den Telefonhörer und ruft an: ״ Wasja, bei mir zu Hause ist das reinste Chaos, dafür bin ich aber jetzt frei.

Komm her...“]

(54) Но тогда я рвалась на части. Андреи придет, чем его кормить? И где он будет? И как вообще? Я не спала совершенно, заснешь проснешься, за- снешь проснешься и леж иш ь вся в поту облившись.143 (Петрушевская / Время ночь) [Aber da hat sie sich noch in Stücke gerissen. Andrej kommt und was soll ich ihm vorsetzen? Und wo wird er sein? Und wie überhaupt? Ich hab kein Auge zugemacht, bin eingeschlafen und wieder aufgewacht und habe die ganze Nacht schweißgebadet dagelegen.]

Bei näherer Betrachtung erinnert diese Art der Partizipverwendung, für die Kononov bezeich- nenderweise den Terminus *vulgäres Perfekt’ wählt (Кононов 1939: 44), stark an die bulgari- sehe kllP mit der gleichen BedVFkt. Kononov stieß auf diese Konstruktion beim Vergleich bestimmter türkischer Verbformen mit dem Suffix -m ię, die seiner Meinung nach vollständi- ge Äquivalente bilden, vgl.:

(55) он есть выпивши = *içmiçtir* (a.a.O.) [er hat getrunken].

Das Gesagte soll implizieren, daß auch der russische Ausdruck die mit der türkischen Form mitschwingende Metainformation wiedergibt, d.h., daß der Sprecher kein Zeuge des Vorgangs an sich war, sondern nur das Resultat wahrgenommen hat. Wortwörtlich schlußfolgert Kono- nov (a.a.O.):

״ ...говорящим отчетливо выражено не самое действие ״пития“ (говорящий не был свидетелем действия); он знаком лишь с его результатом, т.е. с состоянием опья- нения, с теми признаками, которые отличают человека ״уже выпившего“. [... dem Sprecher geht es nicht um die Wiedergabe der Handlung des Trinkens an sich (er war kein Zeuge der Handlung), sondern er kennt nur ihr Resultat, d.h. den Zustand des Betrunkenseins, also die Merkmale, die einen ״schon betrunkenen“ Menschen kennzeichnen.]

Nach den Vorstellungen Kononovs reiht sich die prädikativ funktionierende Kurzform des russischen Partizip Präteritum Aktiv in die Sprachmittel ein, die den u.a. in 2.2.6. näher zu beleuchtenden Imperzeptiv signalisieren. Untersuchungen seines dialektalen Gebrauchs konnten allerdings solche semantische Parallelen mit dem Türkischen nicht bestätigen.

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NS Der Vorteil dieses von der literarischen Norm abweichenden Partizipgebrauchs ist die damit einhergehende Fokussierung sowohl der vorangegangenen Handlung als auch des mit ihr erzielten Zustandes, wie z.B. die deutschen Äquivalente *erhängt* und 'schweißgebadet' zum Ausdruck bringen. Zeitgemäße bzw. literatur- sprachliche Ausdrücke wie повесился oder висит sowie вся в поту würden entweder nur die Handlung oder nur den Zustand in den Mittelpunkt stellen, die jeweils andere Seite müßte der Rezipient selbst ״rekonstru- ieren‘‘.

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bolev neigt im Gegenteil der bereits von Trubinskij geäußerten Auffassung zu, daß diese Bit-dungen auf -ши die ‘Nichtprozessualität, das Statale der Bedeutungen*:.... характеризуется, как правило, непроцессуальностью, статальностью значений“ (Соболев 1998: 80) explizieren. Das Merkmal der ‘Nichtbezeugtheit der Handlung* spielt in dieser Beziehung eine eher sekundäre Rolle.

bolev neigt im Gegenteil der bereits von Trubinskij geäußerten Auffassung zu, daß diese Bit-dungen auf -ши die ‘Nichtprozessualität, das Statale der Bedeutungen*:.... характеризуется, как правило, непроцессуальностью, статальностью значений“ (Соболев 1998: 80) explizieren. Das Merkmal der ‘Nichtbezeugtheit der Handlung* spielt in dieser Beziehung eine eher sekundäre Rolle.