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Die Bewertung der renarrativischen Funktion aus historischer Sicht

Im Dokument Die Legende vom bulgarischen Renarrativ (Seite 168-173)

4. Die Expansion der /-Periphrase im bulgarischen Tempussystem - eine zusammenfassende Darstellungzusammenfassende Darstellung

4.4. Die Bewertung der renarrativischen Funktion aus historischer Sicht

Was die These der Herausbildung der sog. ״ Kategorie ‘Renarrativ’“ anbelangt, so ist vor al- lem in sprachgeschichtlichen Arbeiten eine diesbezügliche Zurückhaltung zu registrieren, d.h., man möchte sich erstens nicht in der Sache und zweitens auch nicht zeitlich genau festlegen.

Folgt man den Untersuchungen Pärvevs, so war es Radulov 1871, der zum ersten Mal dar- auf verwies, daß solche Formen wie ״ копал, копали се употребяват, когато става дума за действие, на което говорителят ‘не е бил очевидец, а ся е научил за него от други’“

[.״ gebraucht werden, wenn von einer Handlung die Rede ist, die der Sprecher nicht bezeugt, sondern von ihr durch andere erfahren hat] (Радулов, "Начална граматика за изучение на българский язик", кн. II, синтаксис, Болград 1871 - zit. nach Първев 1975: 279).

Meiner Meinung nach wurde hier durch Radulov eine bestimmte Art und Weise der Reali- sierung der bereits erwähnten Funktionsspezialisierung des Perfekts wahrgenommen und re- gistriert, die zum Teil in Verbindung mit dem Ausfall der Kopula auftrat.276 Daß es sich um keine ״ reguläre“ oder ״ auffällig neue“ Erscheinung gehandelt haben kann, beweist die Tatsa- che, daß sie in nachfolgenden Arbeiten ebenfalls nur sporadisch oder keine Erwähnung fand, was vor dem Hintergrund, daß das ״ Außergewöhnliche“ formal nur im Kopulaausfall bestand, nicht weiter verwundert, denn die *щл-Form galt damals noch als normales Tempus, s. die obigen Ausführungen. Ivanova charakterisiert die Lage in einem erst vor kurzem zum Thema veröffentlichten Artikel sehr treffend, vgl.:

״ Особеност дори на езика на дамаскините и на ранната възрожденска книжанина е, че използването на преизказни по облик времена още не гарантира наличие на преизказна семантика, както и обратното...“ (Иванова 2001: 219 - Unterstreichung von mir) [Die Besonderheit der Damaskinen und der frühen Wiedergeburtsliteratur überhaupt besteht darin, daß die Verwendung der formal renarrativisch anmutenden Tempora noch nicht

2 75 Wortwörtlich heißt es da: ״ Въпреки че статията на Т. Попжелязков се различава по своя характер от другите статии в подхванатата дискусия по някон въпросн на българската глаголна система, редакцията реши да даде и на нея място, за да има повод и възможност да се изяснят по־добре повече въпроси." (Obwohl sich der Artikel von T. Popželjazkov seinem Charakter nach von den anderen Artikeln hinsichtlich einiger Fragen zum bulgarischen Verbalsystcm in der aufgekommenen Diskussion un*

terscheidei, hat sich die Redaktion dazu entschlossen, auch ihm einen Platz einzuräumen und damit die Möglichkeit, besser die bestehenden Fragen klären zu können.]

2 7 6 Auch Pàrvev schätzt die Rolle dieser Formverwendung bei Radulov als ״ zweitrangig" (a.a.O.: 211) ein,

zumal er sie nur auf die /•Partizipien mit Aoristbasis in der 3. Person bezieht.

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das Vorhandensein der renarrativischen Semantik garantiert und umgekehrt...]

Folgt man der Argumentation von Trümmer, so ist im Mittelbulgarischen das Nacherzählen noch nicht ,.m o rp h o lo g is c h “ charakterisiert (1971: 21). Diese von Borodič als modal bezeich- nete Funktion hat zu diesem Zeitpunkt allein das ״ normale“ Perfekt inne, das sich außerdem auf das Wiedergeben nichtbeobachteter Handlungen spezialisiert hat (Бородич 1963: 15) und auf dessen Grundlage sich in der modernen bulgarischen Gegenwartssprache schließlich be- sondere 1Wiedererzähltempora* herausgebildet haben sollen (a.a.O.: 18). All diese Beobach- tungen können aber auch darauf zurückgeführt werden, daß eine Kluft zwischen mündlicher und schriftlicher Sprachnorm bis zu diesem Zeitpunkt bestanden hat, diese morphologische Form in bestimmten Gegenden keine Rolle gespielt hat bzw. die Wiedergabe fremder Rede im heutigen Verständnis in frühen Texten einfach nicht thematisiert wurde usw., s. dazu die Aus•

führungen in Kapitel 8.

ln den Dialekten dient laut Dejanova das Perfekt bis in die frühe neusprachliche Periode als bevorzugtes Mittel zur Wiedergabe von Fremdäußerungen (Деянова 1970b: 167), was sich mit den Aussagen von Koseska-Toszewa (1977) insofern deckt, als bis zum heutigen Tag in einigen von ihnen - und nicht nur dort! - ein sehr freier Wechsel zwischen Explizierung und Nichtexplizierung der Kopula in dieser BedTFkt. und den eigentlich perfektivischen Bedeu- tungen zu beobachten ist. Das heißt, daß ebensowenig, wie bestimmte Formen der /-Peri- phrase unmittelbar mit dem Renarrativ in Verbindung zu bringen sind, der Kopulaausfall von Anfang an ein Indikator für diese BedTFkt. war.

Schon dem Altbulgarischen bzw. Aksl. war laut Dejanova die Erscheinung des Weglassens der Kopula nicht fremd. Sie trat im Zusammenhang mit dem Ausdruck von Expressivität, Faktkonstatierung bzw. -kommentierung auf, was aus heutiger Sicht sehr an die kllP-basierte Realisierung des Admirativs, der Zustandskonstatierung und des Konklusivs sowie an die Kennzeichnung von Vorzeitigkeit (Деянова 1970b: 148) erinnert. Der Ausdruck von Ex- pressivität wird auch im Mittelbulgarischen in erster Linie vom kopulalosen Perfekt (a.a.O.:

158) übernommen. Ein Perfekt ohne Hilfsverb ״ като форма на категория преизказност - непреизказност“ [als Form der Kategorie Renarrativität - Nichtrenarrativität] ist nach den Worten von Dejanova auf S. 159 derselben Arbeit zu dieser Zeit nicht zu verzeichnen.277

2 7 7 D.h. nicht im Sinne einer festen Größe eines grammatischen Paradigmas, sondern nur mit der Möglichkeit

der Wiedergabe der betreffenden Funktion.

Was könnten folglich die innersprachlichen Gründe dafür sein, daß es, in welcher Spnchperi- ode auch immer, zu einer immer stärkeren Bindung der renarrativischen Bed./ Fkt. an die kllP kam?

Der Beantwortung dieser Frage geht als erstes die Erkenntnis voraus, daß sich im Laufe der Herausbildung des Perfekts und Plusquamperfekts ein teilweiser Funktionswechsel der Kopu- la als Mittel zur bloßen Identifizierung bzw. Zuordnung des mit dem Partizip zum Aisdruck kommenden Zustandes zum Zeitstellenwert־ und Durchführungsoperator der jeweiligea Hand- lung vollzog. Des weiteren ist der Umstand in Rechnung zu stellen, daß es nach Einbeziehung sowohl des unvollendeten Aspekts als auch des Verbstammes mit Imperfektmorpheni in das Perfekt- bzw. Plusquamperfektparadigma möglich wurde, alle von den anderen Tempora bezeichneten Bedeutungen hinsichtlich der zeitlichen Perspektive und der Sicht auf die Hand- lung in ihrer Wirkung für ihre Verwendung aus einer gewissen Distanz verfügbar zu machen und damit auch die Voraussetzungen geschaffen wurden, die in bezug auf die kommunikati- ven Rahmenbedingungen für die Wiedergabe fremder Äußerungen erforderlich sind.

Der durch den Wegfall der Kopula erzielte Effekt, daß der zeitliche Bezug der unraittelba- ren Handlung zur Gegenwart gekappt wird, vgl. PaSov: ״ при приказването се губи разли- ката между сегашен и минал момент“ (Пашов 1976 [1965]: 201) [bei der Redewieder- gabe geht der Unterschied zwischen jetzigem und vergangenem Moment verloren] und auch die operationale Funktion nicht mehr zum Tragen kommen kann, ist für die renarrativische Funktion bestens geeignet, weil sich der Erzähler einerseits auf einer ganz anderen Zeitebene als der Sprecher bewegt und zweitens mit der im Dictum repräsentierten Handlung im Nor- malfall selbst nicht in Berührung gekommen ist. Der Erzähler operiert folglich nur mit dem ihm zur Verfügung gestellten Handlungsergebnis, tatsächlich der einzige Aspekt der betref- fenden Handlung, auf den er sich, objektiv gesehen, berufen kann.

Bestätigt wird diese Sicht einmal mehr durch das mit der kllP nahezu in jedem Fall mitas- soziierte Merkmal der *Nichtbezeugtheif bzw. die imperzeptivische BedVFkt.

Diesem logischen Zusammenspiel von Form und Bedeutung hat die kllP auch ihr Durch- setzungsvermögen in bezug auf die renarrativische Bed./Fkt., zumindest in bezug auf den Sprachstandard, zu verdanken. Daß sie sich nicht zur einzigen Möglichkeit entwickelt hat, Fremdäußerungen sprachlich wiederzugeben, liegt an der Vielschichtigkeit dieses Sprechaktes

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2 7 8 Daß diese Entwicklung erst durch die sich an die /׳ Periphrase bindende rcnarrativische Lesart ausgelöst

wurde, kann nach den Erkenntnissen aus 4.2. als unwahrscheinlich gelten. Eine Verfestigung der Formen im System aufgrund dieser Entwicklung ist allerdings nicht von der Hand zu weisen.

und der damit verbundenen Vielseitigkeit in der Wahl der Mittel. So liegt es u.a. im Ermessen des Erzählers, durch die Verwendung der kelP die Sicht des Sprechers auf die Handlung zu übernehmen, um dadurch u.a. die zeitliche Distanz zum Geschehenen zu verkürzen bzw. das Prozeßhafte, d.h. das dynamische Moment, stärker hervorzuheben.

5• Weitere morphologisch-syntaktische Realisierungen des

/-Partizips im Bulgarischen

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