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Weitere Realisierungsmöglichkeiten der zur Diskussion stehenden Bedeutungen auf der Äußerungsebene und ihr Vergleich mit den Bedeutungen auf der Äußerungsebene und ihr Vergleich mit den

Im Dokument Die Legende vom bulgarischen Renarrativ (Seite 131-157)

entsprechenden kllP-Verwendungen im Bulgarischen

3.1. Vorbemerkungen

Ein Überblick über diesen Problembereich erweist sich als notwendig, um sich einen Zugang zur eigentlichen Frage nach der Einordnung der zur Diskussion stehenden morphologischen Form in das bestehende Gesamtsystems verschaffen zu können. Die Betrachtung der Rolle der bulgarischen kllP aus der Perspektive der vielfältigen anderen Realisierungsweisen der einzel- nen Äußerungsbedeutungen und ihre Konfrontation mit denselben werden die Beurteilung erleichtern, ob es sich bei den Realisierungsweisen der kllP um *Polysemie* oder um be- stimmte Funktionen nur einer Invariante handelt.

In diesem Zusammenhang fällt zunächst auf, daß die kllP im Rahmen der einzelnen Sprechaktrealisierungen ganz unterschiedliche, d.h. beinahe diametrale, Stellenwerte ein- nimmt, man denke an die hochfrequentierte Verwendung der kllP bei der Realisierung des Renarrativs und im Gegensatz dazu an ihre Ausnahmestellung bezüglich des Optativs, was bei der einen Realisierungsweise zur Anerkennung eines Sonderstatus und bei der bzw. bei ande- ren mehr oder weniger zur Ausklammerung aus der allgemeinen Betrachtung geführt hat.

Ausgehend von der Erfahrung mit dem Aufbau von funktional-semantischen Feldern stellt diese Erscheinung allerdings nichts Ungewöhnliches dar, denn die Rolle bestimmter lexikali- scher, morphologischer, syntaktischer oder intonatorischer Mittel kann in Abhängigkeit von der Bedeutung, die auf einer bestimmten Ebene realisiert werden soll, ganz unterschiedlich gewichtet sein. Dabei wird die Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Formen innerhalb eines Konzeptrahmens von (ggf. sehr feinen) semantischen Nuancen getragen. Die Bevorzugung einer bestimmten Variante ist in den meisten Fällen auf die hohe Vorkommenshäufigkeit der bezeichneten bzw. mit einer solchen in Verbindung zu bringenden Situation oder auf inner- sprachliche Regelungen bzw. Präferenzen zurückzuführen.

Die zeitweise Erweiterung der Untersuchungsgrenzen gewährt u.a. einen besseren Einblick in die Beziehungen zwischen dem Sprecher als unmittelbarem Verbindungsglied mit dem Rezipienten und einem unter Umständen von ihm zu unterscheidenden Bedeutungsträger, d.h.

einer Person, deren Äußerung die entsprechenden Bedeutungen an sich bindet.229 Eine sich

229 Diese Unterscheidung ist durchaus nicht trivial, denn es gibt Situationen, in denen ein Sprecher nicht eige- ne, sondern die Empfindungen, vgl. Admirativ und Optativ, bzw. vollzogene Schlußfolgerungen einer an*

deren Person, vgl. Konklusiv, wiedergibt, und zwar unter Umständen auf eine solche Weise, daß er die

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daraus ergebende Frage lautet, ob beide Personen bei Verwendung der kllP identisch sind und ob es diesbezüglich Unterschiede zu anderen Realisierungsweisen gibt.

Der geplante Vergleich ermöglicht außerdem Einsichten hinsichtlich des Zusammenspiels der kllP mit anderen Sprachmitteln bei der Realisierung der einen oder anderen BedV Fkt. Die Wirkungsbreite reicht dabei von der Unterstreichung einer BedVFkt., z.B. durch entsprechen- de Modalwörter, bis hin zur Möglichkeit, daß das vorliegende semantische Ergebnis allein durch die Intonation erzeugt wird - letzteres wäre ein eindeutiger Indikator für das Vorliegen einer pragmatischen Funktion, vgl. Bierwisch (1979: 84, Anm. 6) bzw. Fries (1995: 162f), und damit für die Abhängigkeit von einer zu ermittelnden semantischen Invariante.

In der folgenden Besprechung der einzelnen Äußerungsrealisiemngen, deren Reihenfolge an die der vorhergehenden Abschnitte anknüpft, kann es nicht um Vollständigkeit bei der Er- fassung aller existierenden Sprachmittel gehen, sondern nur um die Erwähnung deijenigen, die als relevant zu betrachten sind.

3.2. Renarrativ

Während bei den anderen fiinf BedVFkt. die Herstellung einer Beziehung zwischen kllP und Zustandskonstatierung fast problemlos gelingt, wird diese Affinität im Hinblick auf den Re- narrativ nicht gleich deutlich. Die Diskussion darüber, ob die Imperfektformen der kllP auf präsentische Handlungen rekurrieren können oder ob sich diese Bedeutung aufgrund der kllP- Struktur von allein verbietet, ist bis heute noch zu keinem befriedigenden Resultat geführt worden. Selbst die Frage, unter welchen Bedingungen beim Explizieren des Renarrativs obli- gatorisch auf die kllP zurückgegriffen werden muß, ist keineswegs endgültig gelöst. Die Be- hauptung von Korytkowska, daß die morphologische Form obligatorisch ist, wenn keine ande- ren Indikatoren für eine Fremdäußerung vorhanden sind, vgl.:

,3 ra k w tekście verbum dicendi lub innych sygnałów o przekazie informacji sprawia, że im- perceptywne formy morfologiczne w tekście bułgarskim są nieredundantne.“ (1996: 137) [Das Fehlen eines verbum dicendi oder anderer Indikatoren für die Informationsvermittlung im Text bewirkt, daß die Imperzeptivformen im bulgarischen Text morphologisch notwendig sind.],

können durch Belege wie (104) - (106) problemlos widerlegt werden. In unmittelbarem Zu- sammenhang damit steht die Klärung der von Nicolova (1997: 437ff) angesprochenen

Mög-ßerungsintention auf seine Person überträgt, d.h. keine bloße Beschreibung des Gesagten vomimmt.

lichkeiten der Sprachmanipulation durch den gezielten Einsatz bzw. die Nichtverwendung der kllP. Ist das eine direkte Folge der zugrunde liegenden semantischen Invariante oder definiert sich eine solche Verwendungsweise ausschließlich pragmatisch?

Betrachtet man sich einen beliebigen belletristischen Text mit Dialogen nach dem Ge- sichtspunkt der kllP-Anwendung in renarrativischer BedVFkt., so offenbaren sich bemerkens- werte Einsichten, u.a. diese, daß der Einsatz der kllP bei der Wiedergabe eindeutig fremder Rede keinen festen Regeln folgt.230 Selbst das Erzählen von Legenden u.a.m., vgl. Beleg (105), entzieht sich der allgemein als zuverlässig geltenden Gesetzmäßigkeit, daß in diesen Fällen die Anwendung der kllP ״obligatorisch“ ist. Dem Sprecher steht im Resultat dessen ein außergewöhnlich großes Reservoir an Sprachmitteln zur Verfügung, um den Fakt der Fremd- information zu versprachlichen, aus dem er sich, geleitet von bestimmten Intentionen, das (ftir ihn) jeweils Passende aussuchen kann. Genau diese Intentionen gilt es aufzudecken.

Wenden wir uns zunächst den Textausschnitten von (103) und (104) zu. Es ist auffällig, daß sie ־ wie in anderen Sprachen auch - nur aus der Situation heraus erkennen lassen, daß es sich um die Wiedergabe fremder Worte handelt. In (103) liegt der Fall eindeutig. Beide von mir hervorgehobenen Aussagen sind dem erwähnten Bekannten zuzuschreiben, die erste bringt darüber hinaus deutlich den Imperzeptiv zum Ausdruck. Der Sprecher übernimmt ge- wissermaßen die Information bzw. macht sie sich zueigen, vgl.:

(103) Днес пообяд бях в Сент-Шапел. Утре отивам в музея Клюни. Един по- знат, конто ни е вндял заедно, твърди, че ти приличаш на дамата с еднорога от гоблена, изложен в този музей. Имаш огромен успех. (Ре- марк / Ж ивот назаем - Übers, aus dem Deut.) [Ich war heute mittag in der Sainte-Chapelle. Morgen gehe ich ins Cluny-Museum. Jemand, der uns zusam- men gesehen hat, behauptet, du sähest aus wie die Dame mit dem Einhorn auf dem Gobelin, der dort hängt. Du hast sehr viel Erfolg.] (Remarque / Der Himmel kennt keine Günstlinge)

Der folgende Beleg (104), der auf der kelP aufbaut, läßt im Gegensatz dazu zwei Lesarten zu.

Auf der einen Seite können alle betreffenden Aussagen dem Vater des Sprechers zugespro- chen werden, was aufgrund der nachfolgenden Passage sehr wahrscheinlich ist, auf der ande- ren Seite ist nicht auszuschließen, daß es sich um sprechereigene Schlußfolgerungen handelt, die sich zwangsläufig auf frühere Aussagen des Vaters beziehen (müssen).231 Der

Sprachana-23 0 Das hat zur Folge, daß sich in dieser Hinsicht Individualstile herausbilden können, d.h., es werden nur in ausgewählten, für den konkreten Sprecher relevanten Situationen die kllP-Formen gebraucht, und zwar un- ter der Maßgabe, daß dieser prinzipiell zu den aktiven Anwendern dieses morphologischen Konstrukts in- nerhalb der bulgarischen Sprachgemeinschaft gehört

231 Diese Feststellung ist der Tatsache geschuldet daß sich der Sohn bei dem Geschilderten auf Dinge bezieht

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lyse sind hier aber natürliche Grenzen gesetzt, weil die tatsächlich zugrunde liegende Spre- cherintention nicht aufgeklärt werden kann. Es ist auf jeden Fall möglich, daß in (104) bewußt von der Quelle der Information abstrahiert werden soll, vgl.:

(104) - ... Вече никой не иска да харчи луди пари за транспортирането на мъртъвците. Преди е било съвсем друго. Много семейства са искали да им се изпращат тленните останки на близките им в цинкови ковчези.

Били са къде по־добри времена от cera!

- Не се и съмнявам.

- И как не! Трябва да чуете някой път баща ми какво разправя, Обиколил е целия свят по този начин. (Ремарк / Ж ивот назаем - Übers, aus dem Deut.) [״.״ Die Leute wollen jetzt nicht mehr so viel Geld ausgeben für den Lei- chentransport. Früher war das anders. Da ließen viele Familien ihre Toten in versiegelten Zinksärgen in die Heimat kommen. Das waren schönere Zeiten als heute!4* - ״Das glaube ich.“ ״ Und ob! Sie müssen einmal meinen Vater davon er- zählen hören! Er hat die ganze Welt so gesehen!“] (Remarque / Der Himmel kennt keine Günstlinge)

Eindeutigkeit liegt in dieser Hinsicht in Beleg (105) vor. Jegliche Überlagerung durch den Konklusiv ist hier ausgeschlossen, der Imperzeptiv wird mehr als deutlich fokussiert und den- noch favorisiert der Sprecher bzw. an seiner Stelle der bulgarischsprachige Übersetzer, der die kllP im allgemeinen nicht selten verwendet232, die kelP, vgl.:

(105) Няма да любопитствувам повече. Което чух, е достатъчно, за да разпа- ли въображението ми. Видели сте я [жената] сред сивия здрач на безна- дежността, от който единствено Орфей е ѵспял да се отскубне. Но с каква цена? Колкото и пародоксално да звучи» затова, че е пожелал да спаси една жена от царството на Хадес, Орфей е бил наказан с двойно потолям а самота. А вие готов ли сте да заплатите тази цена, Клерфе?

(Ремарк / Ж и вот назаем - Übers, aus dem Deut.) [Ich will Sie nicht weiter fragen. Es ist genug, um die Phantasie blühen zu lassen. In dem grauen Zwielicht der Hoffnungslosigkeit, dem nur Orpheus entrann. Aber selbst er mußte den Preis zahlen: doppelte Einsamkeit - so paradox das auch klingt - weil er eine Frau aus dem Hades zurückholen wollte. Sie sind bereit zu zahlen, Clerfayt?]

(Remarque / Der Himmel kennt keine Günstlinge)

Die obigen Belege und auch (106), in denen innerhalb der Fremdinformation ein Wechsel von der kelP auf die kllP erfolgt, beweisen einmal mehr, daß der Kopulaausfall nicht auf die

Si-die mehr als dreißig Jahre zuriicklicgen (vgl. den weiten Kontext) und deshalb nicht zu seinem Erfahrungs- schätz gehören können.

2 3 2 Der in der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach zitierte Roman von Remarque stellte zum Zeitpunkt der

Abfassung der entsprechenden Abschnitte meine tägliche Lektüre dar. Diese Tatsache ist deshalb hervorhe- benswert, weil damit bewiesen wird, daß die hier vorgcstellten Belege für die unterschiedlichsten Erschei- nungen nicht mühsam zusammengcsucht werden müssen, sondern normal für die bulgarische Alltagssprache sind.

gnalisierung der zur Diskussion stehenden BedTFkt. begrenzt ist, sondern noch andere Vor- Stellungen auf diese Weise gekennzeichnet werden, vgl.:

(106) - А нима през осемнадесети век не са говорили за щастие повече, от- колкото когато и да било?

- Само в теж ки времена. Но и тогава, макар и да са приказвали и меч■

тали за него, хората са гледали практично на нещата в най-широкия смисъл на думата.

- Докато не се появила гилотината.

- Докато не се появила гилотината и не измислили "правото на щас- тие" - потвърди Пестр. - Накрая винаги се появява гилотината.

(Ремарк / Ж и вот назаем - Übers, aus dem Deut.) [״ Hat man je mehr von Glück geredet als damals?“ ״Nur in den schlechten Perioden: Und auch dann hat man zwar davon geredet und geschwärmt, aber man war praktisch im großen Sinne.“ ״ Bis die Guillotine kam.“ Bis die Guillotine kam und man das Recht auf das Glück erfand“, bestätigte Peystre. ״Die Guillotine kommt immer.“] (Re- marque / Der Himmel kennt keine Günstlinge)

Die Passagen mit der kelP stellen meiner Meinung nach den Vorgang des Geschehenen aus Sicht des Sprechenden in den Vordergrund. Die Tatsache, daß er mit dem Geschilderten nicht auf eigenes Erleben und Erfahren zurückgreifen kann, wird ausgeblendet. Ein Wechsel zur kllP bedeutet dabei nicht, daß jetzt plötzlich ausdrücklich auf die Fremdaussage verwiesen werden soll.233 Es wird mit einem *Zustand’ einer in der Vergangenheit stattgefundenen und aus der Distanz zu betrachtenden Handlung operiert, wobei letztere, d.h. der Prozeß an sich, vernachlässigt wird, weil er für das vom Sprecher verfolgte kommunikative Ziel nicht we- sentlich ist. Diese Kemaussage, die die kllP aufgrund ihrer semantischen Entwicklung

״ liefert“, eignet sich bestens für die Wiedergabe alles nicht unmittelbar Wahrgenommenen, insbesondere des aus zweiter Hand Erfahrenen. Mit Hilfe der kllP wird eindeutig das Prozeß- hafte, das Geschehen in seiner Entwicklung abgestreift, dem gegenüber sich die kelP mehr oder weniger neutral verhält und nur im Hinblick auf die Resultativa eine unmißverständliche Aussage trifft, s. Kapitel 4.

Legt man das Gesagte der Verwendung der kllP in (107) zugrunde, findet man auch eine Erklärung für die Fälle, in denen man ein Dictum als solches nicht konstatieren kann, sondern nur eine Art Zusammenfassung dessen, was zuvor geäußert worden ist. Im gleichen Maß, wie bei einer solchen Zusammenfassung von Inhaltsidentität mit der Originaläußerung in den

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233 Der in (106) staufindende Sprecherwechsel kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden. Beide Sprecher befinden sich von Anfang an im Diskurs der Fremdaussage, machen diesen Fakt aber nicht zum Aussagethema, so daß von seiten des 2. Sprechers mit Verwendung der kllP auch keine diesbezügliche

״ Korrektur“ seines Redevorgängers oder eine Verdeutlichung dessen Aussage angestrebt wird.

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sentlichsten Zügen gesprochen werden kann, ist es hier möglich, sowohl die renarrativische als auch die rein perfektivische Lesart anzunehmen, vgl.:

(107) Стана ученикът Васерфогел, момче с възпалени очи, вирнат нос, из- щръкнали уши и огризани нокти на пръстите. Той довърши с мазен женствен глас "резюмето" и започна да разказва за Йов, човека в зе- мята Уц и какво станало с него. (Ман / Буденброкови - Übers, aus dem Deut.) [s.u.]

Weiter wird deutlich, daß eine Verwischung der Grenzen zwischen Renarrativ und Zustands- konstatierung oftmals darauf zuriickzuführen ist, daß bei verba dicendi, die die Grundlage der kllP bilden, vgl. auch Beleg (158) u.a.m., unter Umständen der Vorgang des ‘Zitierens’ be- schrieben wird und nicht der Sprechakt als solcher Platz findet. Genau an diesem Punkt wird die Verbindung zwischen den betreffenden BedVFkt. offensichtlich.

An dieser Stelle ist ein Exkurs ins Deutsche interessant. Aus Sicht der modernen Gegen- wartssprache verfügt das Deutsche über keine analogen morphologischen Indikatoren, die die dargestellte Beziehung für das Bulgarische untermauern. Für einen Nachweis dieser Art muß man auf frühere Sprachzustände zurückgreifen, z.B. auf den der ersten Hälfte des 20. Jahr- hunderts. Ein auffälliges Charakteristikum des Stils von Thomas Mann ist an einigen der be- treffenden Stellen das Weglassen der Kopula, vgl. den Ausschnitt (107) in der Originalfas- sung:

(107״) Der Schüler Wasservogel stand auf, ein Junge mit entzündeten Augen, aufge- stülpter Nase, abstehenden Ohren und zerkauten Fingernägeln. Er vollendete mit weichlicher Quetschstimme die ״ Übersicht“ und fing an von Hiob, dem Mann im Lande Uz, zu erzählen, und was sich mit ihm begeben. (Mann / Budden- brooks),

das für das heutige Sprachempfinden einerseits als veraltet und andererseits als Kennzeichen von literarischer Hochsprache gilt. Dieses Verfahren dient - wie im Bulgarischen die kllP - dazu, den dynamischen, prozeßhaften Aspekt der nicht selbst beobachteten Handlung auszu- blenden. Im Resultat dessen bleibt das Ergebnis der Handlung oder nach Kissling ״ das auf eine Ebene projizierte Bild“ stehen, auf das zu bestimmten Zwecken zurückgegriffen werden kann. Ein solcher Zweck kann das Weiter- bzw. Nacherzählen sein, bei dem die dynamische Seite einer Handlung, die nicht bezeugt werden kann, eine sekundäre Rolle spielt, wenn die Fakten an sich in den Vordergrund gerückt werden sollen. Ein sehr anschauliches Beispiel für das Gesagte bietet (108), das für den Übersetzer ins Bulgarische eine sehr gute Vorlage für die Anwendung der kllP gebildet hat, vgl.:

(108) Wann er [Johann Buddenbrook] die Frieseln und wann die echten Blattern habt, wann er vom dritten Boden auf die Darre gestürzt und wann in ein hitzig Fieber mit Raserei verfallen, verlas sie mit einem religiösen Ernste. Sie konnte sich nicht genug tun, sie griff zurück bis ins sechzehnte Jahrhundert zu dem äl- testen Buddenbrook, der bekannt, zu dem, der zu Grabau Ratsherr gewesen, und zu dem Gewandschneider in Rostock, der sich ..sehr gut gestanden“ - was un- terstrichen war... (Mann / Buddenbrooks) [Тя прочете с религиозна сериоз- ноет, кога [Йохан Буденброк] имал обикновен обрив и кога истинска шарка, кога папнал от третия одър върху сушилнята и кога имал огне- ница с буйства. Това обаче не и беше достатьчно и тя посегна още по*

назад, чак до шестнадесетия век, до най-стария известен Буденброк, онзи, който бил общински съветник в Грабау, и до шивача в Росток, който "имал много пари״ - това беше подчертано״ . (Ман / Буденбро- кови - Übers, aus dem Deut.)]

Aus den für beide Sprachen zur Verfügung stehenden Mitteln für die Redewiedergabe wurde vom Sprecher/Erzähler bzw. Autor/Übersetzer meines Erachtens bewußt die kopulalose Per- fektperiphrase bzw. das Partizip П ohne Hilfsverb gewählt. Im Gegensatz zum deutschen Konjunktiv I, der bei T. Mann in dieser Funktion sehr häufig zum Einsatz kommt, fällt damit jeder Anschein von persönlicher Anteilnahme am Geschehen von seiten des Erzählers weg, es wird die Faktizität des Erzählten aus entsprechender zeitlicher Distanz unterstrichen, was aus heutiger Sicht das normale Perfekt ebensogut leistet. Mit der bulgarischen kllP verhält es sich nicht anders234: es wird auf das Ergebnis eines zeitlich entfernten Ereignisses ohne persönli- che gefühlsmäßige Anteil- oder Stellungnahme, ob positiver oder negativer Art, zuriiekge- blickt.235 Diese Sache ist deutlich von dem im Zusammenhang mit der kllP oft erwähnten se- mantischen Merkmal der ‘Ablehnung der Verantwortung vom Gesagten’ (vgl. Korytkowska 1983; Koseska 1974; Норман 1994) zu unterscheiden, weil es automatisch mitschwingt, wenn eine Handlung, die sich zudem außerhalb des Gesichtskreises des Erzählers befindet, aus der Distanz betrachtet wird. Es kann der kelP ebenso zugeordnet werden wie dem deut- sehen Konjunktiv I oder dem Perfekt in der Funktion der Redewiedergabe, d.h. es handelt sich um nichts Bulgarisch* oder kllP-Spezifisches.

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234 Damit soll nicht behauptet werden, daß der Gebrauch des deutschen Partizips II ohne Hilfsverb der bulgari- sehen kllP gleichzusetzen ist. Erstens steht die Anwendungsrate der Erscheinung im Deutschen in keinem Verhältnis zum Bulgarischen - sie hat sich bewiesenermaßen nicht behauptet und eine zunehmende Spezia■

lisicrung auf den Renarrativ ist auch nicht belegt. Sie war außerdem auf der Stufe stehengeblieben, daß sich ihre Anwendung auf den Nebensatz beschränkt hat, während sich die der bulgarischen kllP auch auf Haupt- Sätze ausdehnen konnte usw.

2 3 5 Mit dieser Auffassung stehe ich im direkten Widerspruch zur Position von Gerdžikov (Герджиков 1984),

der in der Verwendung der kllP ein Zeichen für die Engagiertheit des Erzählers sieht. Es ist in dieser Hin- sicht allerdings strikt zwischen dem Gebrauch der einfachen und der mit бил verstärkten kllP zu differenzier ren, vgl. Kapitel 7.

Wie in anderen Sprachen ist darüber hinaus auch im Bulgarischen die Verwendung aller ande- ren Tempora in der indirekten Rede möglich.

Der Vollständigkeit halber ist noch auf den Gebrauch einschlägiger Partikeln einzugehen, die im Bulgarischen im Gegensatz zum partikelreichen Russischen oder Polnischen aufgrund seiner Vielfalt an morphologischen Ausdrucksmitteln nur eine Ausnahmeerscheinung bildet.

Die Rede ist von кай, dessen Gebrauch auf die umgangssprachliche bzw. die dialektalen Va- rietäten begrenzt ist, wie die meines Erachtens sehr gelungene Übersetzung von Rasputins ,Abschied von Matjora“ in (109) zeigt.

(109) Мен веч доле на пеиката бабите ми бяха обяснили, че дигали във въз- духа земята, щото изпърво, кога тресна, с ал дет не пукнах. А той нийде не ходеше, аз му разправям, че тъй и тъй става. "П ищ ят ми ушите, кай.

измъчи ме туй пищене." Сал от туй пищене в ушите се и ж алеш е зать, от нищ о друго. (Распутин / Прощаване с Матьора / Übers, aus dem Russ.) [Mir haben schon die Omis unten auf der Bank erklärt, daß man die Erde in die Luft sprengt, weil ich das erste Mal, als es krachte, fast gestorben wäre. Aber er ist nirgendwo hingegangen, ich habe ihm erzählt, was los ist. ״Dieses Zischen im Ohr“, sagt er. ״ dieses Zischen im Ohr macht mich fertig.“ Nur über dieses Zi- sehen im Ohr hat er sich beschwert, über nichts anderes.]

Außer кай, dessen Bedeutungsradius auf das Signalisieren einer Fremdäußerung begrenzt ist, muß die Partikel уж Erwähnung finden, die wie deutsch angeblich oder russisch якобы zu- sätzlich eine einstellungsmäßige Distanzierung des Erzählers zum Dictum anzeigt. Genau diese Fähigkeit bewirkt, daß sie sowohl mit einschlägigen verba dicendi als auch mit der kllP kompatibel ist, was einmal mehr beweist, daß bestimmte negative Sprechereinstellungen nicht der morphologischen Form zuzuschreiben sind, vgl.:

(110) Директорът спа лошо тази нощ, но на другая ден няколко отговорни сътрудници го запитаха вярно ли е това за Борис Левиташки и той се успокой. Захариева бе си отмъстила, разгласявайки само тайната около специалната комисия, която уж щ яла да погуби годеника й с изтощи- тел ни експерименти, вместо да го изведе на световната сцена. (Дилов / Странните качества на Борис Левиташки) [Der Direktor schlief schlecht diese Nacht, aber am nächsten Tag fragten ihn einige verantwortliche Mitarbei- ter, ob das mit Boris Levitaški wahr wäre und er beruhigte sich. Die Zacharieva hat sich gerächt, indem sie das Geheimnis um die Spezialkommission verraten hat, die angeblich ihren Verlobten mit kräftezehrenden Experimenten ins Ver- derben stürzen will, anstatt ihn ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit zu stel- len.]

Das heißt außerdem, daß der Einsatz der Partikel ebensowenig die automatische Verwendung der entsprechenden morphologisehen Form verlangt, so daß im Ergebnis die Frage nach der Bindung der genannten Sprechereinstellungen wieder völlig offen ist.

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3.3. Zustandskonstatierung

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In Abschnitt 2.2.2. wurde die Feststellung getroffen, daß eine Beschreibung der semantischen Kategorie 4Zustand’, d.h. der sprachlichen Möglichkeiten für die Widerspiegelung dieses Konzepts auf der Äußerungsebene, aus Sicht der slavischen Sprachen nur für das Russische sehr intensiv betrieben wurde. Für das Bulgarische steht meines Wissens eine solche kompié- xe Untersuchung bis zum heutigen Tag aus.

Ein Großteil der diesbezüglichen Potenzen sind zweifellos im Verb angelegt, das einerseits aufgrund seiner Semantik selbst einen Zustand kennzeichnen kann bzw. diesen mit einer Ko- pula durch die Herstellung einer Relation zwischen grammatischem Subjekt und einem ihm zugeschriebenen Merkmal X236 zu erzeugen in der Lage ist. In Abhängigkeit von der mit spe- zialisierten Verben realisierten Art des Zustandes spricht man auch von Zustands- und Exi- stenzverben, die neben den Kopulae eine nicht zu übersehende produktive Klasse bilden. Ei- nige von ihnen sind in kontextuellem Zusammenhang in den ersten vier Beispielen unter (111) zu finden. Darüber hinaus wird mit den zwei letzten Beispielen eine weitere sprachliche Rea- lisierungsmöglichkeit von Zuständen in Form von beliebig ausgewählten Phraseologismen

Ein Großteil der diesbezüglichen Potenzen sind zweifellos im Verb angelegt, das einerseits aufgrund seiner Semantik selbst einen Zustand kennzeichnen kann bzw. diesen mit einer Ko- pula durch die Herstellung einer Relation zwischen grammatischem Subjekt und einem ihm zugeschriebenen Merkmal X236 zu erzeugen in der Lage ist. In Abhängigkeit von der mit spe- zialisierten Verben realisierten Art des Zustandes spricht man auch von Zustands- und Exi- stenzverben, die neben den Kopulae eine nicht zu übersehende produktive Klasse bilden. Ei- nige von ihnen sind in kontextuellem Zusammenhang in den ersten vier Beispielen unter (111) zu finden. Darüber hinaus wird mit den zwei letzten Beispielen eine weitere sprachliche Rea- lisierungsmöglichkeit von Zuständen in Form von beliebig ausgewählten Phraseologismen

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