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4.6 Verwahrung und Beaufsichtigung

4.6.3 Die Haftung für Tiere in Alm- und Weidegebieten

4.6.3.3 StVO

§ 81 StVO hält eine Regelung für uneingefriedete Viehweiden an öffentlichen Straßen bereit.

Erfasst werden davon all jene Grundstücke, die in einem räumlichen Naheverhältnis zu einer Straße stehen und bei denen die Gefahr des Überwechselns von Vieh auf die Fahrbahn besteht. Es kommt dabei nicht auf ein unmittelbares Naheverhältnis, also das Angrenzen an eine Straße, an.287

§ 81 StVO unterscheidet 3 Fallgruppen. Absatz 1 erfasst die Viehweide an Autobahnen und Vorrangstraßen, Absatz 2 die Viehweide an anderen Straßen, die keine ausreichende Sicht auf die Weidegrundstücke zulassen, und Absatz 3 die Viehweide in Alpgebieten und Gebieten, in denen der unbeaufsichtigte Weidegang nach altem Herkommen üblich ist.288 Bei an Autobahnen und Vorrangstraßen gelegenen Weideflächen muss das Vieh von geeigneten Personen beaufsichtigt und von der Straße ferngehalten werden. Ebenso besteht diese Verpflichtung bei Straßen, die zwar keine Autobahnen oder Vorrangstraßen sind, bei denen die Sicht auf die Weidefläche aber derart eingeschränkt ist, dass eine Reaktion des Autofahrers auf plötzlich auftauchendes Vieh nicht rechtzeitig erfolgen kann.289 Die Beurteilung, ob ausreichende Sicht gegeben ist, orientiert sich dabei nicht an den

285 OGH 5 Ob 168/19w Causa Sport 2020, 55 = ZVR 2020, 251 (Hinteregger) = JBl 2020, 572 = Zak 2020/315

= ecolex 2020, 690 = JBl 2020, 686 (Dullinger) = ÖJZ 2021, 453 (Höller); vgl Ecker, RFG 2019, 141 (146).

286 Hattenberger/Steinwender, ZfV 2010, 194 (202).

287 Oberhofer, ZVR 1996, 34.

288 Hattenberger/Steinwender, ZfV 2010, 194 (195).

289 Oberhofer, ZVR 1996, 34 mwN.

bestehenden Licht- oder Witterungsverhältnissen, sondern daran, ob natürliche Geländeverhältnisse wie Wälder, Böschungen oder Bauwerke die Sicht behindern.290 Die Notwendigkeit der Beaufsichtigung der Tiere kann nicht durch das Anbringen eines Warnschildes „Achtung Tiere“ umgangen werden.291 Ein Hinweisschild ist, soweit nicht § 81 Abs 3 StVO zur Anwendung kommt, nur eine zusätzliche Sicherungsmaßnahme, die durchaus empfehlenswert ist.

Der Schutzzweck der Norm bezieht sich auf die Erhaltung des fließenden Verkehrs.

Fahrzeuglenker sollen vor dem plötzlichen Auftauchen von Weidevieh und den damit verbundenen Gefahren geschützt werden. Außerhalb des Schutzzweckes liegen Schäden an geparkten Kraftfahrzeugen. Der ruhende Verkehr ist nicht vom Schutzzweck erfasst, weswegen Schäden nach § 1320 ABGB zu beurteilen sind.292 Ausschließlich nach § 1320 ABGB sind Schadensfälle auch dann zu beurteilen, wenn die Beaufsichtigung des Weideviehs durch eine geeignete Person nicht erforderlich ist, da es sich bei der Straße weder um eine Autobahn noch um eine Vorrangstraße handelt und ausreichende Sicht auf die Weidefläche besteht.293

Eine Sonderbestimmung enthält § 81 Abs 3 iVm Abs 4 StVO für Alp- und Weidegebiete und Gebiete, in denen der unbeaufsichtigte Weidegang nach altem Herkommen üblich ist.

Die Bezirksverwaltungsbehörde kann für solche Gebiete die Notwendigkeit der Beaufsichtigung durch eine Verordnung aufheben. Es besteht diesbezüglich sogar eine Verpflichtung, soweit es sich bei der öffentlichen Straße nicht um eine Autobahn oder eine Vorrangstraße handelt. Die Behörde kann eine solche Verordnung aber auch dann erlassen, wenn sich in der unmittelbaren Nähe Autobahnen oder Vorrangstraßen befinden, soweit dem nicht erhebliche Bedenken aus Gründen der Verkehrssicherheit entgegenstehen.294 Gebiete, in denen der unbeaufsichtigte Weidegang durch eine Verordnung gestattet ist, müssen durch Hinweisschilder nach § 50 Z 13a StVO mit dem Wortlaut „Achtung Tiere“ gekennzeichnet werden. Das Gefahrenzeichen zeigt den Beginn des Gebietes an, in dem mit unbegleiteten Weidetieren zu rechnen ist.295 Die Feststellung, in welchen Gebieten der unbeaufsichtigte Weidegang nach altem Herkommen üblich ist, obliegt der Bezirksverwaltungsbehörde in

290 Pürstl, StVO-ON15.00 § 81.

291 RIS-Justiz RS0030405.

292 OGH 1 Ob 571/82 ZVR 1983, 208.

293 Oberhofer, ZVR 1996, 34, vgl OGH 2 Ob 18/93 ZVR 1995, 5.

294 Straßenverkehrsordnung 1960 BGBl 1960/159.

295 OGH 2 Ob 2326/96i SZ 69/231 = ZVR 1997, 373 = RZ 1997, 198.

Zusammenarbeit mit den Landwirtschaftskammern. Die Alpgebiete sind statistisch erfasst.296

Die im Gesetz verankerte Verpflichtung der Behörde, eine Verordnung zu erlassen, befreit den Tierhalter nicht bereits ex lege von seiner Verpflichtung der Beaufsichtigung. Die Notwendigkeit der Beaufsichtigung entfällt erst ab Erlassung der Verordnung. Erhebliche Bedenken aus Gründen der Verkehrssicherheit, wie sie der Erlassung einer solchen Verordnung bei an Autobahnen oder Vorrangstraßen angrenzenden Weideflächen entgegenstehen können, können aber durchaus auch bei Landes- und Gemeindestraßen bestehen. Oberhofer297 hält aus diesem Grund eine generelle „Kann-Bestimmung“ bezüglich der Aufhebung der Aufsichtspflicht durchaus für angebracht. Eine Berücksichtigung der Verkehrssicherheit wäre rechtspolitisch geboten, egal ob es sich um Autobahnen, Vorrangstraßen oder andere Straßen handelt. Demgegenüber wird in der Judikatur298 die Ansicht vertreten, dass der Gesetzgeber mit § 81 Abs 3 StVO deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass er auf Grund der von ihm vorgenommenen Interessenabwägung in diesen Fällen eine Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit durch unbeaufsichtigten Weidegang in Kauf nimmt. Eine Verordnung ist demnach auch dann zu erlassen, wenn die Verkehrssicherheit durch die Aufhebung der Beaufsichtigungsverpflichtung des Tierhalters beeinträchtigt wird. Verordnungen nach § 81 Abs 3 StVO befreien den Tierhalter nicht nur von der Notwendigkeit der Aufsicht, sondern auch von seiner Haftung. Der OGH299 hält fest, dass in einem solchen Fall die Norm des § 1320 ABGB iVm den Bestimmungen der StVO dahingehend auszulegen ist, dass der Landwirt als Tierhalter des Weideviehs den Beweis der erforderlichen Verwahrung und Beaufsichtigung nicht zu erbringen hat. Dies allerdings mit der Einschränkung, dass ihm bösartige Eigenschaften seiner Tiere weder bekannt sind noch bei ordnungsgemäßer Sorgfaltspflicht bekannt sein müssen. In diesem Zusammenhang gab der OGH300 dem Tierhalter selbst dann den Vorzug, als es bereits mehrfach zu Schadensfällen mit seinen weidenden Pferden gekommen war und der Geschädigte den Pferden deshalb bösartige Eigenschaften vorwarf. Das Höchstgericht verneinte dies mit der Begründung, dass auch gutmütige Tiere nicht in der Lage seien, sich auf einer Straße so zu verhalten, dass keine Gefahren für die Verkehrssicherheit entstehen können. Es scheint so, als würde die Judikatur eine vorliegende Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO als Freibrief für

296 Pürstl, StVO-ON15.00 § 81.

297 Oberhofer, ZVR 1996, 34.

298 OGH 8.11.1979 8 Ob 202/79.

299 OGH 2 Ob 2326/96i SZ 69/231 = ZVR 1997, 373 = RZ 1997, 198.

300 OGH 08.11.1979 8 Ob 201/79.

den Tierhalter betrachten. Nur in seltenen Fällen sieht sie dahingehend Handlungsbedarf, dass dem Halter trotz Verordnung Verwahrungsmaßnahmen aufzuerlegen sind. Es kommt damit zu einer Überwälzung des Risikos auf die Verkehrsteilnehmer. Einem Landwirt bzw Tierhalter werden einerseits an die Grenzen des Zumutbaren gehende Sicherungsmaßnahmen abverlangt, in diesem speziellen Bereich wird andererseits gänzlich auf Verwahrungsmaßnahmen verzichtet, auch wenn sie in bestimmten Fällen zumutbar wären. Oberhofer301 kritisiert zu Recht, dass tatsächliche Verhältnisse nicht mitberücksichtigt werden. Bei zunehmender Verkehrsdichte auf neu gebauten oder ausgebauten Straßen kann nicht die Tatsache, dass der unbeaufsichtigte Weidegang nach altem Herkommen üblich ist, allein ausschlaggebend sein, vor allem dann nicht, wenn nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Wahrscheinlichkeit eines Unfalles, wenn es beispielsweise bereits zu Unfällen mit weidenden Tieren gekommen ist, gegeben ist.

Tierhalter haben nach § 1320 ABGB auf geänderte Verhältnisse in Alm- und Weideregionen zu reagieren und Verwahrungs- und Beaufsichtigungsmaßnahmen entsprechend anzupassen.302 Eine gänzliche Angleichung der Verwahrungspflichten des Tierhalters auch bei Vorliegen einer Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO würde zu einer Derogation der Norm führen. Sinn und Zweck dieser Norm ist es gerade, die Landwirte von den übermäßigen Anforderungen an die Verwahrung der Tiere zu befreien und so eine Erleichterung zu schaffen. Es wäre aber wichtig, einen Kompromiss zwischen den strengen Verwahrungspflichten des Tierhalters und der gänzlichen Aussetzung des Sorgfaltsmaßstabes, die durch die Erlassung der Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO entsteht, zu schaffen. Dieser Kompromiss sollte nach der Meinung Oberhofers303 Tierhalter und Verkehrsteilnehmer gleichermaßen belasten, etwa durch die Verpflichtung zur Umzäunung exponierter Stellen und strengere Geschwindigkeitsbeschränkungen in Alpregionen.