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4.6 Verwahrung und Beaufsichtigung

4.6.3 Die Haftung für Tiere in Alm- und Weidegebieten

4.6.3.4 Haftungsrechtsänderungsgesetz

Die Novellierung des seit 1917 unverändert gebliebenen § 1320 ABGB war die Reaktion des Gesetzgebers auf das viel diskutierte „Kuh-Urteil“304 vom Februar 2019. Mit dem Einfügen eines zweiten Absatzes anerkennt der Gesetzgeber nun die Eigenverantwortung anderer Personen. Erstmals wird festgehalten, dass nicht nur der Tierhalter im Schadensfall

301 Oberhofer, ZVR 1996, 34.

302 Vgl OGH 8 Ob 101/70 EvBl 1979/326 = LwBetr 1972, 27.

303 Oberhofer, ZVR 1996, 34.

304 OGH 5 Ob 168/19w Causa Sport 2020, 55 = ZVR 2020, 251 (Hinteregger) = JBl 2020, 572 = Zak 2020/315

= ecolex 2020, 690 = JBl 2020, 686 (Dullinger) = ÖJZ 2021, 453 (Höller); vgl Ecker, RFG 2019, 141 (146).

zur Verantwortung gezogen wird, sondern auch die Eigenverantwortung der Almbesucher eine Rolle spielt. Dies soll das Miteinander von Almbesuchern und Tierhaltern fördern, zugleich aber auch zu einer Entlastung des Halters führen. Diese Entlastung zeigt sich darin, dass der Tierhalter auf altanerkannte Standards im Hinblick auf die entsprechende Verwahrung zurückgreifen kann.

Das HaftRäg 2019 und die damit einhergehende Novellierung des § 1320 ABGB traten am 24.07.2019 in Kraft. Die in einem Ministerialentwurf305 vorgeschlagene Fassung wurde trotz heftiger Kritik ohne Adaptierung übernommen. Die Vereinigung der Österreichischen Richterinnen und Richter,306 die Österreichischen Rechtsanwälte307 sowie auch der Oberste Gerichtshof308 empfahlen, das Gesetzesvorhaben fallen zu lassen. Sie bezeichneten den Entwurf als missglückte Anlassgesetzgebung, die keine Rechtssicherheit mit sich bringt, sondern vielmehr neue Probleme bei der Konkretisierung des Wortlautes schafft. Obwohl diese Kritik nicht unbegründet war, sah der Gesetzgeber keinerlei Änderungsbedarf. Der neu eingefügte zweite Absatz lautet wie folgt: „In der Alm- und Weidewirtschaft kann der Halter bei Beurteilung der Frage, welche Verwahrung erforderlich ist, auf anerkannte Standards der Tierhaltung zurückgreifen. Andernfalls hat er die im Hinblick auf die ihm bekannte Gefährlichkeit der Tiere, die ihm zumutbaren Möglichkeiten zur Vermeidung solcher Gefahren und die erwartbare Eigenverantwortung anderer Personen gebotenen Maßnahmen zu ergreifen. Die erwartbare Eigenverantwortung der Besucher von Almen und Weiden richtet sich nach den durch die Alm- und Weidewirtschaft drohenden Gefahren, der Verkehrsübung und anwendbaren Verhaltensregeln.“309

Wie bereits aus den Stellungnahmen zum Entwurf zu entnehmen ist, bringt der Wortlaut des neu eingefügten Absatzes bei näherer Betrachtung einige Probleme mit sich. Der Tierhalter kann sich bei der Beurteilung der Frage, welche Verwahrung erforderlich ist, auf anerkannte Standards stützen. Diese Standards haben sich nach den Erläuterungen310 an der Rechtsprechung und den von ihr entwickelten Grundsätzen zu orientieren. Im Grunde hält der Gesetzgeber damit nur Selbstverständliches fest. Hinteregger311 deutet darauf hin, dass der ausdrückliche Verweis auf derartige Standards im Gesetz auch als Misstrauen gegenüber

305 133/ME 26. GP.

306 24/SN-133/ME XXVI. GP.

307 17/SN-133/ME XXVI. GP.

308 9/SN-133/ME XXVI. GP.

309 Haftungsrechts-Änderungsgesetz 2019 BGBl I 2019/69.

310 ErläutRV 623 BlgNR 26. GP 1.

311 OGH 5 Ob 168/19w Causa Sport 2020, 55 = ZVR 2020, 251 (Hinteregger) = JBl 2020, 572 = Zak 2020/315

= ecolex 2020, 690 = JBl 2020, 686 (Dullinger) = ÖJZ 2021, 453 (Höller).

den Gerichten angesehen werden kann. Diese Ansicht wird durch die Erläuterungen312 bestärkt, da diese auf Verhaltensstandards abzielen, die bundesweit von den landwirtschaftlichen Interessensvertretungen einheitlich ausgearbeitet werden sollen. Diese Regeln sollen wie die sog FIS-Regeln313 bei Wintersportarten bei der Beurteilung des Verschuldens oder Mitverschuldens bedeutsam sein. Verfassungsrechtlich erscheint es bedenklich, eine Aufgabe des Gerichts, nämlich die Konkretisierung eines Gesetzeswortlautes, in die Hände von Interessensvertretungen zu legen. Außerdem ist die Bindung des Gerichts an ein solches Regelwerk nicht gegeben.314 Es kann aus diesem Grund lediglich angenommen werden, dass sich die Ausführungen in den Erläuterungen zu den anerkannten Standards der Tierhalter auf den vom BMLRT ausgearbeiteten Aktionsplan für sichere Almen315 beziehen. Dieser Aktionsplan fasst im Grunde die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zusammen und schafft so einen bundesweit einheitlichen Verhaltenskatalog.316

Etwas unverständlich erscheint auch der zweite Satz des § 1320 Abs 2 ABGB. Dieser umschreibt einige Kriterien, die im Rahmen der Alm- und Weidewirtschaft wesentlich sind, soweit die oben genannten Standards keine Rolle spielen. Dies kann etwa der Fall sein, weil solche noch nicht bestehen, weil sie eine bestimmte Frage nicht behandeln oder weil sich der Tierhalter nicht daran orientieren will. Einerseits hält der Gesetzgeber in den Erläuterungen317 fest, dass der Tierhalter seinen Verwahrungspflichten nachkommt, wenn er sich an die anerkannten Standards hält, andererseits stellt er es ihm aber frei, sich nicht daran zu orientieren und die Verwahrungsmaßnahmen in Eigenverantwortung zu gestalten. Diese Ausnahme führt wiederum dazu, dass den Gerichten Einzelfallentscheidungen abverlangt werden. Ein ausgearbeiteter Verhaltenskatalog für Tierhalter in Alm- und Weidegebieten

312 ErläutRV 623 BlgNR 26. GP 1.

313 Die FIS-Regeln sind ebenso wie der vom Österreichischen Kuratorium für Sicherung vor Berggefahren erarbeitete Pistenordnungsentwurf (die sogenannten POE-Regeln) keine gültigen Rechtsnormen, auch nicht Gewohnheitsrecht. Als Zusammenfassung der Sorgfaltspflichten, die bei der Ausübung des alpinen Schisports im Interesse aller Beteiligten zu beachten sind, kommt diesen Regeln jedoch erhebliche Bedeutung zu, s dazu OGH 1 Ob 639/82 JBl 1983, 258 = ZVR 1983, 15; 6 Ob 270/05g Zak 2006/173 = ZVR 2006, 530 = ZVR 2007, 47 (Kaltenegger/Schöllnast) = RZ 2006, 129 EÜ141.

314 Dullinger, JBl 2020, 686 (689); ebenso Hinteregger, ZVR 2020, 251 mit Verweis auf die Stellungnahmen 17/SN-133/ME und 20/SN-133/ME.

315 Https://www.sichere-almen.at (Zugriff 18.07.2020).

316 Dullinger, JBl 2020, 686 (689).

317 ErläutRV 623 BlgNR 26. GP 1.

bringt damit nicht die Rechtssicherheit, die erreicht werden wollte, wenn es im Ermessen des Tierhalters liegt, sich daran zu orientieren oder nicht.318

Der Tierhalter hat in jedem Fall die Gefährlichkeit der Tiere bei der Beurteilung der erforderlichen Verwahrung zu berücksichtigen. Obwohl Weidetiere grundsätzlich als harmlos gelten, können Umstände des Einzelfalles dazu führen, dass erweiterte Verwahrungsmaßnahmen erforderlich sind. Zudem kommt es auf die Zumutbarkeit der Maßnahmen zur Abwehr von möglichen Tiergefahren an.319 Der zweite Satz der Novelle bringt damit keine wesentlichen Änderungen im Haftungsrecht. Bereits in den vorhergehenden Entscheidungen des OGH floss die Gefährlichkeit der Tiere als ausschlaggebende Komponente in die Beurteilung der Verwahrungspflicht mit ein.320 Auch wurde bereits mehrfach festgehalten, dass gerade die Landwirtschaft nicht durch Überspannung der Anforderungen unbillig belastet werden darf.321 Die Vorkehrungen müssen demnach zumutbar sein.322 Der zweite Satz der Norm wiederholt damit lediglich die ausgearbeiteten Grundsätze der Rechtsprechung. Eine progressive Neuerung ist darin nicht zu erblicken.

Interessant sind die Ausführungen in den Gesetzesmaterialien, nach denen nun auch Personen, die Almen betreten, zur Verantwortung gezogen werden. Die Verankerung der Eigenverantwortung von Wanderern und Touristen im Gesetzeswortlaut soll wiederum eine Entlastung der Tierhalter bringen. Der Tierhalter darf davon ausgehen, dass sich andere Personen auf eigene Verantwortung im Alm- und Weidegebiet aufhalten. Darin ist zunächst eine bedeutende Neuerung zu erblicken, da der Gesetzgeber in den Erläuterungen323 deutlich hervorhebt, dass ein Bewusstsein über die Gefahren, welche beim Betreten eines solchen Gebietes entstehen können, mittlerweile allgemein vorhanden sein müsste. Der Wanderer hat sich auf mögliche Gefahren einzustellen und sein Verhalten entsprechend anzupassen.

Die Eigenverantwortung wird im Rahmen des Mitverschuldens berücksichtigt oder kann eine Haftung des Tierhalters nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalles überhaupt verdrängen. Die Regelung würde zu einer deutlichen Besserstellung des Tierhalters führen, da dieser lediglich ein Fehlverhalten nachweisen müsste, um aus der Haftung zu entkommen.

318 OGH 5 Ob 168/19w Causa Sport 2020, 55 = ZVR 2020, 251 (Hinteregger) = JBl 2020, 572 = Zak 2020/315

= ecolex 2020, 690 = JBl 2020, 686 (Dullinger) = ÖJZ 2021, 453 (Höller).

319 ErläutRV 623 BlgNR 26. GP 1.

320 Vgl OGH 18.09.1991, 2 Ob 540/91; 27.03.1995, 1 Ob 646/94; 2 Ob 70/16g ZVR 2018/62 (Huber) = Zak 2016/439 = JBl 2016, 723 = EvBl‑LS 2016/144 = HAVE/REAS 2017, 196 (Huber).

321 OGH 2 Ob 180/98d ZVR 1999, 373 = ÖAMTC-LSK 1998, 152.

322 Vgl RIS-Justiz RS0030157.

323 ErläutRV 623 BlgNR 26. GP 1.

Der Oberste Gerichtshof übt in seiner Stellungnahme324 dahingehend Kritik, als vollkommen verkannt wurde, dass § 1320 Abs 2 S 2 ABGB nicht den Sorgfaltsmaßstab für das Mitverschulden des Geschädigten regelt, sondern jenen für das Verhalten des Tierhalters.

Im Entfall der Haftung des Tierhalters, sollte sich der Geschädigte ein Fehlverhalten zuschulden kommen lassen, sieht der OGH einen Verstoß gegen die Grundsätze des Schadenersatzrechts, das bei Mitverschulden in der Regel eine Schadensteilung und nicht den vollständigen Haftungsentfall vorsieht. So der OGH weiter, bringt der Verweis auf

„anwendbare Verhaltensregeln“ keine Rechtssicherheit mit sich. Es wird offengelassen, wer die Verhaltensregeln aufstellt und welchen Inhalt und Rechtscharakter sie haben können.

Sollten sie lediglich Empfehlungen hinsichtlich des richtigen Verhaltens auf Almen sein, so ist darin nur ein Mehrwert für unerfahrene Almbesucher erkennbar. Drücken diese Regelungen aber konkrete, nicht zu erwartende Vorgaben aus, so wäre nicht erkennbar, auf welcher Rechtsgrundlage sie für Wanderer bindend sein sollen. Zwar verweist der Gesetzgeber auf die bereits veröffentlichten „Verhaltensregeln für ein Miteinander auf Österreichs Almen – 10 Regeln für den richtigen Umgang mit Weidetieren“325,stellt aber trotzdem weiterhin auf die Verkehrsüblichkeit, womit also vernünftigerweise gerechnet werden kann, ab. Diese Verkehrsüblichkeit wird dahin gehend konkretisiert, als von einem maßgerechten Wanderer ausgegangen wird. Ob nun der maßgerechte Wanderer ein unerfahrener Almtourist oder ein erfahrener Berggeher sein soll, bleibt dahingestellt.

Ob sich die Almwirtschaft im landwirtschaftlichen Sinn und der Wandertourismus durch eine solche Neuregelung in Einklang bringen lassen, wird sich durch die Anwendung der Norm durch die Rechtsprechung zeigen. Es kann mitunter, auch wenn notwendige Konkretisierungen fehlen, als positiv erachtet werden, dass das Haftungsrisiko nun nicht mehr nur auf den Tierhaltern lastet. Die gesetzliche Verankerung der Eigenverantwortung verlangt den Touristen zumindest ein gewisses Maß an sorgfältigem Verhalten ab. Das Bewusstsein der Wanderer in Bezug auf drohende Gefahren wird hoffentlich auch durch die aktuelle mediale Präsenz des Themas deutlich verbessert werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung die Ansichten des Gesetzgebers aufgreift und einen Haftungsentfall des Tierhalters bei entsprechend gravierendem Fehlverhalten des Geschädigten annimmt. Ein solches Fehlverhalten wäre aber erst dann anzunehmen, wenn der Schadensfall, verursacht durch Tiere, geradezu provoziert wurde. Möglicherweise wäre eine solche Provokation in

324 9/SN-133/ME.

325 Https://ww.sichere-almen.at (Zugriff 18.07.2020).

der neuen Internet-Challenge „Kulikitaka“326 zu erkennen. Kühe werden durch einen Tanz absichtlich erschreckt, was mit erheblichen Gefahren sowohl für den Menschen als auch für die Tiere verbunden ist. Es wäre nachvollziehbar und auch angebracht, in einem solchen Fall die Haftung des Tierhalters entfallen zu lassen, sollte es zu Schadensfällen kommen.

Ansonsten führt das Prinzip der Eigenverantwortung nur auf den ersten Blick zu einer Neuerung. Bereits zuvor berücksichtigte die Rechtsprechung ein Fehlverhalten der Wanderer als Mitverschulden. Im Kuh-Urteil,327 das Anlassfall für die Gesetzesänderung war, wurde das sorgfaltswidrige Verhalten der Wanderin mit einem Mitverschulden von 50

% bemessen. Die Wanderin hätte, auch durch die angebrachten Warntafeln, wissen müssen, dass das Mitführen eines Hundes durch eine Mutterkuh-Weide mit Gefahren verbunden ist, da Mutterkühe instinktiv aggressiv auf Hunde reagieren, da sie einem Wolf sehr ähneln. Die Wanderin hätte daraufhin die Leinenführung des Hundes so gestalten müssen, dass sie sich jederzeit vom Hund hätte trennen können. Das Weglaufen des Hundes hätte die Aufmerksamkeit der Kühe von der Wanderin weggelenkt, sodass ein Unfall hätte vermieden werden können. Die Verschuldensteilung 1:1 zeigt, dass die Judikatur bereits zuvor auf einen maßgerechten Wanderer abstellte und ein Fehlverhalten dessen auch angemessen als Mitverschulden bewertete. Die Verankerung der Eigenverantwortung im Gesetz wird daher in der Rechtsprechung keine erkennbaren Veränderungen schaffen, da der OGH328 den gänzlichen Haftungsentfall bei Fehlverhalten der Wanderer in seiner Stellungnahme zum Ministerialentwurf deutlich ablehnt.