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2.8. Ausblick auf weitere diagnostische Möglichkeiten

2.8.2. Strong ion difference (SID)

Die Strong ion difference (SID) ist Bestandteil des Stewart-Modells zur Klärung des Säure-Basen-Haushaltes (SBH). Bis dahin diente zur Analytik des SBH die Hasselbalch-Gleichung, der „base excess“ und die Anionenlücke. Stewart kritisierte das

Henderson-Hasselbalch-Modell mit Bezug auf metabolische Säure-Basen-Turbulenzen als zu einfach und unvollständig (Stewart, 1978, 1981, 1983). Sein Ansatz verfolgt das Prinzip der

Elektroneutralität. Dazu unterschied er zwischen jeweils drei abhängigen und unabhängigen Variablen. Bei den unabhängigen Variablen handelt es sich um den Kohlendioxidpartialdruck (pCO2), die Gesamtkonzentration aller schwachen Säuren (Atot) und die Differenz der starken Ionen (SID). Als abhängige Variablen bezeichnete Stewart die Bicarbonatkonzentration (HCO3-), den pH-Wert und damit in der Folge auch die Wasserstoffionenkonzentration (H+).

Die abhängigen Variablen sind den unabhängigen vollständig untergeordnet und können sich nur verändern, wenn die unabhängigen Variablen dies zulassen (Rehm et al., 2004).

Starke Ionen liegen bei physiologischem pH-Wert vollständig dissoziiert vor. Die SID

beschreibt nun die Differenz zwischen dem Anteil der starken Kationen (Na+, K+, Ca++, Mg++) und den starken Anionen (Cl-, Laktat-, Sulfate, Ketosäuren,VFA und viele andere) im Blut.

Na und Cl stellen dabei die Hauptkomponenten dar, da diese bezüglich ihrer Konzentrationen im Extrazellularraum die wichtigsten Ionen sind. Die anderen starken Ionen spielen aufgrund ihrer niedrigen Plasmakonzentrationen und kleineren Variabilität eine untergeordnete Rolle bei der Adjustierung der Plasma-pH-Werte.

Eine Sonderstellung nehmen das Laktat und andere organische Verbindungen wie BHB und Acetoacetat ein, die bei physiologischem pH fast vollständig dissoziiert vorliegen und sich wie starke Ionen verhalten. Zu beachten ist, dass einige Ionen, wie z.B. Sulfate, BHB und andere organische Säuren messtechnisch nicht erfasst oder routinemäßig nicht untersucht werden können (Constable, 1997; Rehm et al., 2004; Bachmann et al., 2009). Die Berechnung der SID kann daher nur annäherungsweise erfolgen und wird in der Regel folgendermaßen ausgedrückt:

SID3 = [Na+] + [K+] – [Cl-] oder SID4 = [Na+] + [K+] – [Cl-] – [Laktat-]

Bei der Gesamtmenge der schwachen Säuren (Atot) handelt es sich um nichtflüchtige

Substanzen, wie z.B. Albumin, Phosphat und Globulin. In Kälberserum kann die Atot über die Methode von Constable et al. (2005b) bestimmt werden: Atot (mmol/L) = 0.343 (mmol/g) x [total Protein] (g/L) oder 0.622 (mmol/g) x [Albumin] (g/L) (Bachmann et al., 2009).

Die oben angeführten Variablen und Berechnungen können nun in die vereinfachte elektroneutrale Gleichung der starken Ionen eingesetzt werden. Diese lautet wie folgt:

S x pCO2 x 10(pH – pK1) = SID – (Atot / [1 + 10 (pKa – pH)]

Die Variable s beschreibt hierbei die Plasmalöslichkeit von CO2. pK1 ist der negative Logarithmus (zur Basis 10) der apparenten Dissoziationskonstante der Kohlensäure und pKa

Dissoziationskonstante der nichtflüchtigen Puffer im Plasma und liegt bei 0,84 x 10-7 (Constable, 2002; Constable et al., 2005b).

Berechnet man nun aus dieser Formel die SID, so muss diese bei einem gesunden Rind (d.h., pH im Blut ist 7,43, pCO2 ist 43 mmHg und HCO3 ist 26,4 mm/L) bei annähernd 44 mEq/L liegen, um den Anspruch der Elektroneutralität zu erfüllen. Bei einem gesunden Kalb wird der Wert der SID mit 42 mEq/L angegeben. Dies begründet sich durch den etwas niedrigeren pH-Wert im Blut (7,38). Zudem ist der Blutdruck etwas höher (53 mmHg) (Constable et al., 2005b).

Verschiedene Studien beschäftigen sich mit der Anwendbarkeit dieses Modells für die Praxis.

Im Fokus dieser Studien stehen an Durchfall erkrankte Kälber. Im Gegensatz zur Henderson-Hasselbalch-Gleichung und base excess, die jeweils deskriptive Indizes liefern, anhand derer Säure-Basen-Turbulenzen klassifiziert werden können, stellen quantitative Indizes wie SID und Atot eine Möglichkeit zur Erklärung dieser Störungen dar (Müller et al., 2012).

Ein Großteil der an Diarrhoe erkrankten Kälber erfährt eine metabolische Azidose. Diese wird traditionell dem exzessiven Verlust von Wasser, Elektrolyten und Bicarbonat zugeschrieben.

Verschiedene Studien von Gentile et al. (2004, 2008), Lorenz et al. (2005) und Lorenz (2009) konnten zeigen, dass die metabolische Azidose häufig aus einer Hyper-D-Laktatämie resultiert, da die herabgesetzte Absorption von Substraten eine Ansammlung von D-Laktat im

Gastrointestinaltrakt zur Folge hat.

Constable et al (2005b) konnte mit Hilfe der SID zusätzlich eine Hyponatriämie als mitwirkende Komponenten zur metabolischen Azidose ausmachen. Eine Hyponatriämie sowie eine Hyper-D-Laktatämie vermindern die SID und lösen in der Folge eine „strong ion acidosis“ aus. Anhand des Modells konnte auch gezeigt werden, dass der Verlust von freiem Wasser und Dehydration durch eine Erhöhung der Konzentration vom Totalprotein im Serum und folglich auch des Wertes von Atot zur Azidämie beiträgt

Diese Erkenntnisse führen dazu, dass bei der Infusionstherapie dieser Kälber eine

isosmotische bzw milde hyperosmotische Lösung mit Natrium und einer hohen effektiven SID, wie z.B. 1,3% oder 1,4% NaHCO3- Lösung, eingesetzt werden sollte.

Eine 1,4% NaHCO3- Lösung besitzt eine effektive SID von 167 mEq/L. Zum Vergleich: 0,9%

NaCl-Lösung, 7,2% Ringer-Lösung und 5% Dextrose-Lösung haben eine effektive SID von 0

mEq/L. Werden diese Lösungen in großen Volumen und schnell intravenös verabreicht, haben sie in der Summe sogar einen ansäuernden Effekt (Constable, 2005).

Müller et al. (2012) verglichen den Einfluss der spezifischen Effekte von NaHCO3 und Natrium (als Natriumgluconat) auf die Säure-Basen-Balance bei an Durchfall erkrankten Kälbern. Natriumgluconat besitzt eine effektive SID von 0 mEq/L. Dennoch konnte mit beiden Lösungen eine Anhebung der SID in den Normalbereich erreicht werden. Dieser Umstand zeigt, dass die SID aus gemessenen Werten (measured SID) von der SID aus

errechneten Werten (estimated SID) abweichen kann. Die Erklärung ist einfach: Starke Ionen wie Gluconat werden bei der Kalkulation der effektiven SID nicht berücksichtigt, da sie im Plasma nicht bestimmt werden.

Zwei Aspekte werden in dieser Studie deutlich: Zum einen unterstützt sie die Anwendung der SID; andererseits zeigt sie, wie anfällig dieser Index für Kalkulationen ist.

Bislang scheint der Durchbruch dieses Modells noch auszustehen. Dies zeigt sich, wenn man die Studien zu diesem Thema überblickt. Die erste Erwähnung mit Bezug auf Rindvieh erfolgte 1997 durch Constable. Seitdem, also mittlerweile 17 Jahre, gehen alle

Veröffentlichungen zu diesem Thema auf Constable zurück. Wenn sie nicht direkt vom ihm veröffentlicht wurden, so findet er sich doch bei den Mitarbeitern.

Inwieweit dieses Modell auf andere Erkrankungen übertragen und Anwendung finden kann, bleibt vorerst weiteren Studien vorbehalten. Die SID als losgelöster Wert erscheint in jedem Fall als zu anfällig um als Index alleine zu funktionieren.