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Staatliche Schutzpflicht für ein gelingendes Aufwachsen aus den Grundrechten der Kinder und Jugendlichen

Prävention als notwendiges Anliegen des Wächteramts?

3.4 Staatliche Schutzpflicht für ein gelingendes Aufwachsen aus den Grundrechten der Kinder und Jugendlichen

Obwohl die Kindeswohlorientierung integraler Bestandteil des Familiengrundrechts ist, erwachsen Kindern aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG keine eigenen subjektiven Rechte.

Sie sind im Familienverbund geschützt, nicht aber als Individuum.189 Daher haben sie auch kein Recht auf optimale Förderung im Rahmen der Pflege und Erziehung,190 da die Eltern ihre Erziehungsaufgabe nicht im Auftrag des Staates wahrnehmen.191 Auch wenn sich aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG keine spezifischen Rechte des Kindes ableiten lassen,

188 Hölbling 2010, S. 183.

189 Badura in Maunz / Dürig, GG, Art. 6, Rn. 4; Brosius-Gersdorf in Dreier, GG, Art. 6, Rn. 152;

Robbers in v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 6, Rn. 182; Hölbling 2010, S. 142.

190 Brosius-Gersdorf in Dreier, GG, Art. 6, Rn. 152.

191 Robbers in v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 6, Rn. 148.

hat jedes Kind innerhalb seiner Familie ein eigenes, auf Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG gestütztes Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit.192

Um seine Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu gewährleisten, ist der freiheitliche Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, „die Lebens-bedingungen zum Wohl des Kindes [zu] sichern“.193 Dem Staat erwächst folglich aus den Grundrechten des Kindes ein eigenständiger Schutzauftrag,194 der sich darauf erstreckt,

„Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen, zu verbessern, zu schützen“, solange dadurch nicht unmittelbar die Persönlichkeit im Sinne einer „Optimierung“ beeinflusst oder ihre „Integrität in geistig-seelischer Beziehung“ 195 angetastet wird.

Diesem Schutzauftrag kommt der Staat mit verschiedenen familienpolitischen Maßnah-men nach, naMaßnah-mentlich der Kinder- und Jugendhilfe, der Ermöglichung von Wahlfrei-heit für die familiären Lebensmodelle, dem Familienlastenausgleich, aber auch mit dem Kindschaftsrecht. Kinder dürfen insofern nicht als bloße „Anhängsel“ ihrer Eltern (miss) verstanden werden, sondern sind in ihrem familiären Kontext spezifisch zu fördern, ins-besondere wenn dies den Eltern – etwa aufgrund mangelnder Ressourcen – nicht mög-lich ist.196 Kann soziale Gleichheit durch die Gesellschaft und den freien Markt nicht hinreichend bewirkt werden, kommt dem (Sozial)Staat die Letztverantwortung zu.197

Die mit den Präventionsketten verbundenen Beratungs- und Unterstützungsangebote sollen Familien begleiten und ihnen zur freiwilligen Inanspruchnahme offenstehen. Sie stellen sich weder als staatliche Erziehungsmaßnahmen dar oder als das Aufzwingen optimaler Erziehungsziele198 noch als Ermächtigungsgrundlage für Beschränkungen oder gar den Entzug der elterlichen Sorge. Eltern wird durch die Bündelung von Kom-petenzen und die biografiebezogene Begleitung nicht die Verantwortung für die Pflege

192 BVerfGE 24, 119, 144; 55, 171, 179; 59, 360, 382; 79, 51, 63; 79, 256, 268; 121, 69, 93 f.

193 BVerfGE 56, 363, 384.

194 Siehe nur BVerfGE 79, 256, 268; 96, 56, 64; 99, 145, 157.

195 Evers 1979, S. 59 f.; dazu auch Hölbling 2010, S. 157.

196 Für ergänzende Angebote vor dem Hintergrund der verschiedenen, weit über die Kernfamilie reichenden Sozialisationsräume des Kindes auch Jeand’Heur 1993, S. 80.

197 Axer 2009, S. 185.

198 Grundlegend zu Erziehungszielen, in denen ein durch gesellschaftliche Grundwerte geprägtes Menschenbild zum Ausdruck kommt: Häberle 1981 (passim). Evers 1979, S. 101 ff., nennt insofern ethische Normen, Grundwerte des Grundgesetzes einschließlich Rechtsgehorsam und Anerkennung der Verfassungsgrundwerte sowie die spezifische Frage des Sexualunterrichts.

und Erziehung ihrer Kinder vorenthalten, sondern Hilfe zur verantwortungsgerech-ten Erziehung geleistet. Dies ginge nicht mit dauerhafter Überwachung oder erzieheri-scher Bevormundung einher, sondern erwiese sich als „vorausschauende Wacht“.199 Die natürliche Bereitschaft der Eltern wird damit nicht infrage gestellt – schon gar nicht sollen die Präventionsketten gegen den Willen und die Wertvorstellungen der Eltern gesetzt werden.

Sie wirken vielmehr auf struktureller Ebene, sollen also nicht in die Familie intervenie-ren, sondern in deren Umfeld. Damit sind sie Ausdruck einer staatlichen Förderpflicht für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen: Sie zielen darauf ab, für jedes einzelne Kind – gemessen an dessen individuellen Bedürfnissen – die Teil-habe an Bildung sicherzustellen, statt die Verantwortung dafür allein auf Eltern und Schule zu übertragen, die isoliert nicht zur adäquaten Förderung in der Lage sind. Die Schwelle eines Eingriffs in das Elternrecht wird folglich nicht erreicht, da jedem Kind und Jugendlichen im eigenen familiären Umfeld bestmögliche Chancen eröffnet wer-den. Stattdessen wird erreicht, dass der grundrechtliche Schutz der Familie als „inter-ventionsfreier Raum“ nicht als Vorwand für die Untätigkeit der staatlichen Gemein-schaft genutzt wird.

3.5 Ergebnis

Aus grundrechtlicher Sicht ist der Aufbau verpflichtender Präventionsketten in den Kommunen unproblematisch. Adressatin der Verpflichtung soll allein die staatliche Gemeinschaft sein. Diese Verbindlichkeit ist im Interesse der Ergebnisverantwortung des Staates dringend geboten. Bloße Anreize für die Nutzung bestehender präventiver Angebote genügen nicht, da deren Inanspruchnahme häufig an systemischen Hinder-nissen scheitert – seien es ungeklärte Zuständigkeiten, ein nicht bedarfs- oder ziel-gruppengerechter Zuschnitt oder fehlende personelle wie sachliche Ressourcen. Inter-ventionen gegen den Willen der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern sind nicht vorgesehen. Der Zwang zum Aufbau integriert-präventiver Leistungssysteme ist daher Ausdruck der staatlichen Förderpflicht sowohl für die Familie als Lebensgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 GG) als auch für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugend-lichen (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG).

199 So der Begriff bei Hölbling 2010, S. 156, 176 und 183, jedoch unter dem Blickwinkel des Kinderschutzes.

Dieser Ansatz wird durch die beabsichtigte Erweiterung des Grundgesetzes um explizit formulierte Kinderrechte gestützt und gestärkt. Nach dem Vorschlag einer vom Koalitionsausschuss eingesetzten Arbeitsgruppe soll Art. 6 Abs. 2 GG um folgende Sätze ergänzt werden: „Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungs-rechtliche Anspruch von Kindern auf verfassungs-rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverant-wortung der Eltern bleibt unberührt.“200

Damit geht kein Paradigmenwechsel einher, doch wird die Verantwortung der staat-lichen Gemeinschaft für das Wohl der Kinder auch im Kontext ihrer allgemeinen Per-sönlichkeitsentwicklung stärker als bisher betont. Die staatliche Schutzpflicht für das gelingende Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen gewinnt damit an Kontur. Das Gebot, das Kindeswohl „in angemessener Weise“ zu berücksichtigen, steht zwar hinter den Vorgaben der UN-KRK zurück, die eine „vorrangige“ Berücksichtigung der Inter-essen der Kinder fordert. Dies ist einem politischen Kompromiss geschuldet, wurde in der rechtspolitischen Debatte doch befürchtet, staatliche Interventionen würden zulas-ten des Elternrechts und weit im Vorfeld einer Kindeswohlgefährdung ermöglicht. Die Verpflichtung zur Achtung der Kinderrechte steht jedoch keineswegs im Widerspruch zum Elternrecht, sondern ergänzt dieses um eine weitere Verantwortungsdimension.

Die im Entwurf enthaltene Formulierung, dass die Eltern auch weiterhin die wesent-liche Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder tragen, ist daher lediglich dekla-ratorischer Natur.

200 BMJV, Pressemitteilung vom 12.1.2021, www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/011221_

Kinderrechte.html

4 Gesetzgebungskompetenzen

Zulässigkeit bundesrechtlich verankerter Präventionsketten im Lichte der