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In Ausnahmefällen darf der Bund nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG das Abweichungsrecht der Länder ausschließen. Eine solche Regelung bedarf nach Art. 84 Abs. 1 S. 6 GG der Zustimmung des Bundesrates. Diese Ausnahme betrifft allein das Verfahrensrecht, nicht aber die Einrichtung von Behörden und damit auch nicht die Zuweisung von Auf-gaben an diese. Beide Fälle sind folglich strikt voneinander abzugrenzen, um die Reich-weite der Sperrwirkung beurteilen zu können. Auch diese Abgrenzung birgt Schwie-rigkeiten.

Als Ausnahme ist Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG eng auszulegen.308 Die Norm bezieht sich auf atypische Sondersituationen, setzt also eine wesentliche Abweichung vom Normalfall voraus und kann sich damit notwendig nur auf zahlenmäßig wenige Fälle erstre-cken.309 Überdies ist vom Bund ein besonderes Bedürfnis für eine bundeseinheit liche Regelung darzulegen. Insofern wird eine Orientierung an Art.  72 Abs. 2 GG vorge-schlagen, wenngleich spezifisch bezogen auf eine „verwaltungsverfahrensspezifische Erforderlichkeitsprüfung“.310 Die bloße Einheitlichkeit der Rechtsanwendung bildet danach für sich keinen wichtigen Grund, das Abweichungsrecht auszuschließen.311 Schutzgut des Art. 84 GG ist die wirksame Durchsetzung des Rechts, die grundsätzlich auch durch Verfahrensregelungen im Landesrecht gewährleistet ist, selbst wenn diese erheblich divergieren.312

Zu berücksichtigen ist außerdem, ob die erwünschte einheitliche Rechtsanwendung statt durch eine bundeseinheitliche Regelung durch die Ingerenzrechte des Bundes gegenüber den Ländern gleichermaßen sichergestellt werden kann. Nach anderer Auf-fassung beinhalten jedwede Erwägungen des Gemeinwohls ein Bedürfnis für eine bun-deseinheitliche Regelung. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass Art. 84 Abs. 1 S.

308 Suerbaum in BeckOK GG, Art. 84, Rn. 41; so auch Hermes in Dreier, GG, Art. 84, Rn. 63; a. A. Broß / Mayer in v. Münch / Kunig, GG, Art. 84, Rn. 20, denen zufolge der Ausnahmefall immer dann zu bejahen ist, wenn ein Bedürfnis für eine bundeseinheitliche Regelung bejaht wird.

309 Kirchhof in Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 128.

310 Hermes in Dreier, GG, Art. 84, Rn. 65.

311 So aber Trute in v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 84, Rn. 38, der ein Regelungsbedürfnis annimmt, wenn angesichts des Regelungsgegenstands ein bundesweit einheitlicher Vollzug von Bundesrecht unabdingbar ist; ähnlich Broß / Mayer in v. Münch / Kunig, GG, Art. 84, Rn. 21.

312 Kirchhof in Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 125 und 131.

5 GG keine Art. 72 Abs. 2 GG vergleichbare Formulierung enthält und gerade nicht auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse oder die Rechts- und Wirtschaftseinheit verweist.313 Umstritten ist auch, inwieweit die Einschätzung des Gesetzgebers gericht-lich überprüfbar ist.314

Dem Bund wäre es danach grundsätzlich möglich, unter Ausschluss des Abweichungs-rechts präventiv-integriertes Agieren den Behörden als Aufgabe zuzuweisen, nicht aber, das Verfahren selbst zu regeln. Folgt man der strengeren Auffassung, sind die Hürden für die Darlegung des Bedürfnisses nach einer bundeseinheitlichen Regelung hoch und zudem voll überprüfbar.

5.1.3 Aufsicht und Ingerenzrechte des Bundes

Da die Länder die Ausführung des Bundesrechts gemäß Art. 83 GG in eigener Verant-wortung wahrnehmen, bestehen keinerlei Weisungsrechte des Bundes.315 Dass es Unter-schiede in Zuständigkeit und Verfahren zwischen den einzelnen Bundesländern gibt, ist als Folge der föderalen Kompetenzverteilung hinzunehmen.316 Der Bund ist auf die Rechtmäßigkeitskontrolle am Maßstab des gesamten Bundesrechts beschränkt, Art. 84 Abs. 3 und 4 GG. Diese Kontrolle kann durch Entsendung von Beauftragten (Art. 84 Abs.

3 S. 2 GG) vorbereitet werden, die ein Recht auf Auskunft, Unterrichtung und Aktenein-sicht, nicht aber Anordnungs- und Weisungsbefugnisse haben.317 Die Aufsicht kann in ein Mängelrügeverfahren nach Art. 84 Abs. 4 GG münden.

Eine andere Einwirkungsmöglichkeit ergibt sich aus dem Erlass von Verwaltungsvor-schriften durch die Bundesregierung, Art. 84 Abs. 2 GG. Dabei handelt es sich um Rege-lungen, „die für eine abstrakte Vielheit von Sachverhalten des Verwaltungsgeschehens verbindliche Aussagen treffen, ohne auf eine unmittelbare Rechtswirkung nach außen

313 Broß / Mayer in v. Münch / Kunig, GG, Art. 84, Rn. 21.

314 Für eine bloße Evidenzkontrolle: Dittmann / Winkler in Sachs, GG, Art. 84, Rn. 31; Trute in

v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 84, Rn. 44; Broß / Mayer in v. Münch / Kunig, GG, Art. 84, Rn. 22;

für eine umfassende Überprüfung durch das BVerfG dagegen Hermes in Dreier, GG, Art. 84, Rn. 64;

Kirchhof in Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 133.

315 Hermes in Dreier, GG, Art. 83, Rn. 33; Kirchhof in Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 194.

316 Siehe nur BVerfGE 104, 51, 57.

317 Suerbaum in BeckOK GG, Art. 84, Rn. 60; Hermes in Dreier, GG, Art. 84, Rn. 103; Kirchhof in Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 207.

gerichtet zu sein“,318 beispielsweise ermessensleitende Vorschriften. Diese haben Vor-rang vor abweichenden Regelungen der Länder und dürfen explizit auch Verfahrensre-geln enthalten.319 Denkbar ist auch der Erlass von Einzelweisungen, Art. 84 Abs. 5 GG.

Diese bedürfen einer Grundlage in einem formellen Gesetz, das den Anwendungsbereich der Einzelweisung konkretisiert,320 und sind auf „besondere Fälle“ beschränkt, sodass die Ermächtigung nur greift, wenn der Verwaltungsvollzug deutlich oder erheblich vom Normalfall abweicht.321 Dabei handelt es sich um verbindliche Vorgaben für einen kon-kreten Einzelfall. Adressiert werden können nur die oberen Landesbehörden, also die Ministerien, nicht aber untere Ebenen.

Die Einwirkungsbefugnisse des Bundes sind abschließend geregelt.322 Ob der Bund davon Gebrauch macht, liegt in seinem Ermessen.323 Mit der Wahrnehmung seiner Ingerenz-rechte kann die Wirksamkeit und eine gewisse Einheitlichkeit des Verwaltungsvollzugs im Bundesgebiet sichergestellt werden, zumal die in Ausübung der Ausführungskom-petenz für das Bundesrecht erlassenen Verwaltungsakte bundesweit wirksam sind.324

5.1.4 Verbot der Aufgabenzuweisung an Kommunen durch den Bund (Durchgriffsverbot)

Die bundesweite Vorgabe kommunaler Präventionsketten dürfte jedoch an Art. 84 Abs.

1 S. 7 GG scheitern. Nach Art. 84 GG a. F. stand dem Bund vor der Föderalismusreform eine „(punktuell beschränkte) Annexkompetenz“ zur Regelung der Einrichtung kom-munaler Behörden und des Verwaltungsverfahrens zu. Der unmittelbare Durchgriff des Bundes auf die Kommunen wurde als zulässig angesehen, wenn dieser unerlässlich für den wirksamen Vollzug der materiell-rechtlichen Regelungen war. Dies war der Fall,

318 BVerfGE 100, 249, 258.

319 Suerbaum in BeckOK GG, Art. 84, Rn. 52; Hermes in Dreier, GG, Art. 84, Rn. 81.

320 Hermes in Dreier, GG, Art. 84, Rn. 95.

321 Broß / Mayer in v. Münch / Kunig, GG, Art. 84, Rn. 48; Suerbaum in BeckOK GG, Art. 84, Rn. 56;

Dittmann / Winkler in Sachs, GG, Art. 84, Rn. 42; Trute in v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 84, Rn. 73;

Kirchhof in Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 240: „exzeptionelle Vollzugsprobleme“.

322 Hermes in Dreier, GG, Art. 83, Rn. 19.

323 BVerfGE 11, 6, 18.

324 BVerfGE 11, 6, 18 f.; 22, 180, 210; 127, 165, 203. Nach Kirchhof in Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 176 ist Ziel der Ingerenzrechte vor allem der wirksame Vollzug des Bundesrechts; siehe auch Hermes in Dreier, GG, Art. 84, Rn. 20, der auf den Widerspruch zwischen dem Ziel der Einheitlichkeit des Verwaltungsvollzugs und der Eigenständigkeit der Länder hinweist.

solange den Ländern – aufgrund ihrer ausschließlichen Zuständigkeit für das Kom-munalrecht – noch hinreichender Gestaltungsspielraum verblieb, etwa die Bestim-mung der Zuständigkeit der Behörden im Einzelnen.325 Insbesondere im Sozialrecht hat der Bund von dieser Kompetenz regen Gebrauch gemacht und mangels Vorgaben zur Finanzierung der zugewiesenen Ausgaben den Kommunen teils erhebliche finanzielle Lasten aufgebürdet.326