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Zulässigkeit bundesrechtlich verankerter Präventionsketten im Lichte der Verteilung materiell-rechtlicher Gesetzgebungskompetenzen

4.3 Abgrenzung zu den Gesetzgebungskompetenzen der Länder

4.3.1 Befugnis zur Regelung der gesundheitlichen Vorsorge

Die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder für das Gesundheitswesen darf nicht durch eine zu weite Interpretation des Fürsorgebegriffs unterlaufen werden.228 Im Landes-recht, etwa in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ÖGDG NRW, ist dem Öffentlichen Gesundheitsdienst regelmäßig die Mitwirkung an der Gesundheitsförderung, der Prävention und dem Gesundheitsschutz zugewiesen. Im Rahmen der Präventionsketten steht aber nicht die gesundheitliche Vorsorge als solche im Vordergrund, sondern lediglich die Vernetzung der Akteure. Dem Öffentlichen Gesundheitsdienst würden damit weder Aufgaben ent-zogen noch neue, über sein bisheriges Spektrum hinausgehende Aufgaben übertra-gen. Auch die behördliche Struktur bliebe unangetastet. Einzig würden die Gesund-heitsdienste im Interesse und unter dem Dach der Fürsorge zur Kooperation und zum Informationsaustausch verpflichtet. Der fürsorgerische Ansatz bildete den Schwerpunkt einer einfachgesetzlichen Regelung, sodass die Kompetenz der Länder für das Gesund-heitswesen als solche nicht beeinträchtigt wird.

4.3.2 Schulwesen

Ebenfalls problematisch ist die Abgrenzung von Maßnahmen, die Kinder und Jugend-liche betreffen, gegenüber der Gesetzgebungskompetenz der Länder in der (schulischen) Bildung.229 Die Schule als wichtigster Bildungsort und zugleich Lebensort von Kindern und Jugendlichen spielt bei der Prävention eine bedeutende Rolle. Es ist daher zu prü-fen, ob mit der bundesrechtlichen Verankerung von Präventionsketten die Kulturhoheit

228 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 88, 203, 330; 106, 62, 132.

229 Vgl. dazu die grundlegenden Entscheidungen BVerfGE 6, 309, 354 und BVerfGE 43, 291, 348: Schul- und bil dungs politische Entscheidungen seien „als Hausgut der Länder der Regelungskompetenz des Bundes entzogen“.

der Länder beeinträchtigt würde, weil die fürsorgerischen Aspekte im Vergleich zur Bildung deutlich zurückstehen.230

Für die Kindertagesbetreuung hat das BVerfG entschieden, dass sie Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zuzuordnen ist, da die bildungsbezogenen Aufgaben der Tagesbetreuung untrenn-bar mit dem fürsorglichen Aspekt verbunden seien. Im Vordergrund stünde die Vor-beugung von Entwicklungsschwierigkeiten, die Konfliktverhütung durch eine Stärkung des Sozialverhaltens; zudem würden die Eltern bei der Erziehung unterstützt und den Kindern werde Schutz und Förderung zuteil. Die Kindertagesbetreuung diene damit der Abwehr späterer Gefahrenlagen und trage zur Schaffung positiver Lebensbedingun-gen für Familien bei.231 Auch wenn der Tagesbetreuung eine wichtige Bedeutung für die frühkindliche Bildung zukomme, könne deren bildungsbezogener Auftrag nicht von den fürsorgerischen Aspekten getrennt werden, sodass eine Aufspaltung der Gesetz-gebungskompetenzen nicht sachgerecht sei. Der Bildungsauftrag trete gegenüber den fürsorgerischen Zielen der Förderung sozialer Verhaltensweisung und der Konfliktver-meidung zurück, sodass das BVerfG im Ergebnis eine einheitliche Zuordnung der Kin-dertagesbetreuung zur öffentlichen Fürsorge bejahte.232

Bei den Präventionsketten geht es im Gegensatz dazu gar nicht um die Vermittlung von Bildungsinhalten, sondern um die fürsorgerische Begleitung der Kinder und Jugend-lichen, an der die Schulträger mitwirken sollen, indem sie sich mit anderen Akteuren vernetzen, austauschen und abstimmen. Dies dient dazu, die Lebenschancen der Kin-der und Jugendlichen zu förKin-dern; auch dies ist ein fürsorgerischer Aspekt, Kin-der gegen-über dem Bildungsbezug klar im Vordergrund steht.

4.3.3 Zwischenergebnis

Alle Materien, die nicht explizit dem Bund zugewiesen werden, fallen in die Zustän-digkeit der Länder. Indes kann der Bund gewisse Rechtsfragen auch kraft Sachzusam-menhangs regeln, obwohl diese eigentlich nicht seiner Zuständigkeit unterliegen. Der Sachzusammenhang ist gegeben, wenn der Bund eine ihm zugewiesene Kompetenz

230 Vgl. BVerfGE 97, 332, 342; dazu auch Ewer NJW 2012, S. 2252.

231 BVerfGE 97, 332, 341; a. A. BayVerfGH, BayVBl 1977, 81, 83 f., wonach es sich um eine Bildungseinrichtung handele; dem zustimmend Rixen NVwZ 2019, S. 436. Zum Streitstand Oeter in v. Mangold / Klein / Starck, GG Art. 74, Rn. 63.

232 BVerfGE 97, 332, 342.

nicht ausüben kann, ohne zugleich zwingend eine andere, ihm nicht explizit zugewie-sene Materie zu regeln. Das punktuelle (!) Übergreifen des Bundes in die Kompetenz der Länder muss also unerlässlich sein, um diese Materie regeln zu können.233 Dies gilt etwa für organisatorische Folgekonzepte, die zur Durchführung der materiellen Rege-lungen erforderlich sind.234 Im Grunde handelt es sich also um eine weite Interpreta-tion der einzelnen Kompetenztitel des GG.235 Das Erfordernis einer eindeutigen und einheitlichen Zuordnung zu einer der Kompetenznormen erklärt sich nicht zuletzt dar-aus, dass aufgrund des Abgrenzungserfordernisses aus Art. 70 Abs. 2 GG eine Doppel-zuständigkeit von Bund und Ländern für denselben Regelungsgegenstand vermieden werden muss.236

Das BVerfG hat einen engen Sachzusammenhang beispielsweise für die Regelungen der praktischen Jugendarbeit im Verhältnis zur Jugendhilfe und Jugendpflege als Elemente der Leistungsverwaltung bejaht. Beide Materien seien eng miteinander verzahnt, da der Übergang zwischen gefährdeten Jugendlichen – die die Jugendhilfe im engeren Sinne im Blick hat – und „der Förderung der gesunden Jugend“237 fließend sei. Die präven-tive Jugendpflege kann Notlagen frühzeitig abwenden und spätere Fürsorgeleistungen dadurch überflüssig machen.238

Da die Präventionsketten einen engen Sachzusammenhang mit der Jugendhilfe auf-weisen, ergibt sich daraus ohne Weiteres die entsprechende Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Dort anzusetzen, ist nicht zuletzt wegen der Zielsetzung der Jugendhilfe sinnvoll. Diese überlagert gleichsam die Anliegen der sonstigen Akteure wie Gesund-heitsdienste oder Schulwesen, steht doch weder die Vermittlung und Organisation von Bildungsinhalten noch die Ausrichtung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes in Rede, sondern die Bündelung von Kompetenzen, wodurch Hilfe zur Förderung der Entwick-lung von Kindern und Jugendlichen geleistet werden soll. Der Schwerpunkt einer bun-desrechtlichen Regelung zur verpflichtenden Etablierung von Präventionsketten läge

233 BVerfGE 3, 407, 421; 8, 143 149 f.; 15, 1, 20; 26, 246, 256; 98, 265, 299; 106, 62, 115; 109, 190, 215; 137, 108, 170; siehe auch BVerfGE 97, 228, 251 f. zur Abgrenzung zwischen Rundfunkrecht und Urheberrecht.

234 Vgl. BVerfGE 88, 203, 331 zur Schaffung von Einrichtungen für den Schwangerschaftsabbruch.

235 Jarass NVwZ 2000, S. 1090.

236 BVerfGE 106, 62, 114.

237 BVerfGE 22, 180, 213.

238 BVerfGE 22, 180, 212 f.

folglich im Fürsorgerecht. Es schadet daher nicht, dass mit den Schulen und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst Akteure an der Präventionskette mitwirken, die der Landesgesetzgebung unterliegen. Aufbau

4.4 Erfordernis einer bundesrechtlichen Regelung, Art. 72 Abs. 2 GG

Die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes räumt den Ländern Vorrang bei der Gesetzgebung ein. Grundsätzlich ist ihnen im Rahmen der konkurrierenden Gesetzge-bung nach Art. 72 Abs. 1 GG eine eigene Regelung verwehrt, wenn und soweit der Bund von seiner Befugnis Gebrauch macht. Von diesem Grundsatz beinhaltet jedoch Art. 72 Abs. 2 GG eine Ausnahme und etabliert eine sogenannte erweitere Subsidiaritätsklausel für bestimmte Materien der konkurrierenden Gesetzgebung, zu denen auch die öffent-liche Fürsorge nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zählt. Eine Regelung durch den Bund steht trotz des Vorliegens eines Kompetenztitels in diesen Fällen unter der Voraussetzung, dass sie zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforder-lich ist. Das Bundesverfassungsgericht legt die Regelung restriktiv aus und stellt hohe Anforderungen an die Prüfung des Merkmals der Erforderlichkeit. Dies erklärt sich dar-aus, dass die Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG im Jahr 1994 mit der

explizi-Lässt sich der Aufbau kommunaler Präventionsketten auch über Art. 72 Abs. 2 GG verpflichtend umsetzen?

Es ist überaus fraglich, ob die Installierung kommunaler Präventionsketten vor Art. 72 Abs. 2 GG Bestand hätte. Die Tatsache, dass sich Lebensverhältnisse innerhalb eines Bun-deslands erheblich unterscheiden können, wird in Art. 72 Abs. 2 GG nicht hinreichend reflektiert. Dieser Sachgrund könnte sich ansonsten als hinreichend erweisen, um für eine Umsetzung über Art. 72 Abs. 2 zu argumentieren. Als Beispiel kann angeführt werden, dass sich die Rechtseinheit in der äußerst unterschiedlichen Umsetzung der Hilfen zur Erziehung (SGB VIII, 27 ff.) als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe der Kommunen nicht mehr nachvollziehen lässt.

ten Zielsetzung in das Grundgesetz aufgenommen wurde, den Anwendungsbereich der konkurrierenden Gesetzgebung zu beschränken.239