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3. Faktoren, die den Spracherwerb beeinflussen

3.1 Sprachlicher Input und Interaktionsstile

Die Forschung der letzten Jahrzehnte konnte nachweisen, dass sowohl Quantität als auch Qualität des an das Kind gerichteten sprachlichen Inputs einen Einfluss auf die Aneignung des Systems Sprache hat. Wenn diese auch nicht die Erwerbsreihenfolge grammatikalischer Konstrukte an sich beeinflussen, so wird dennoch davon ausgegangen, dass, wenn dem Kind nicht eine ‚kritische Menge’ an Input zur Verfügung steht, es relevante Strukturen nicht vollständig bzw. gar nicht oder erst später erwirbt. Was die kritische Menge ist, mit der ein Kind konfrontiert werden muss, ist bislang unklar, wobei es aber Zusammenhänge mit der relativen Transparenz bzw. der Undurchsichtigkeit eines zu erlernenden Konstrukts gibt. Zum Erlernen undurchsichtiger Strukturen ist eine häufigere Präsentation der Struktur notwendig als für transparente (Mueller Gathercole &

Hoff, 2007). Untersuchungen mit bilingualen Kindern, die mit jeweils einer Sprache häufiger

35 konfrontiert waren, erwarben gewisse Strukturen früher in der Sprache, der sie häufiger ausgesetzt waren als in der anderen16 (Mueller Gathercole & Hoff, 2007).

Mehrere Untersuchungen im häuslichen sowie im außerhäuslichen Setting, die sich auf den Erstspracherwerb beziehen, fanden eine positive Beziehung der Quantität des sprachlichen Inputs der Eltern und Erzieher zur grammatikalischen (Barnes, Gutfreund, Satterly & Wells, 1983; Bradley

& Caldwell, 1976; Clarke-Stewart, 1973; McCartney, 1984; NICHD-Network, 2000b), zur semantischen (vgl. Barnes, et al, 1983) und zur lexikalischen Entwicklung der Kinder (Huttenlocher, Haight, Bryk, Seltzer & Lyons, 1991). In einer Untersuchung von Hart & Risley (1995) ließ sich der Umfang der verbalen Interaktion zwischen Eltern und Kind als stärkster Einfluss auf die kindliche Sprachentwicklung ermitteln, wobei eine größere Quantität der elterlichen Äußerungen in dieser Stichprobe mit einer größeren Vielfalt an Wörtern und Sätzen, d.h. einer höheren Qualität, einherging.

In Bezug auf die Qualität des sprachlichen Inputs zeigt sich, dass es sowohl Elemente und spezifische Strukturen im Input gibt, die sich positiv auf die Sprachentwicklung auswirken, als auch solche, die diese eher hemmen. Als positive Einflussfaktoren wurden Ja/Nein-Fragen, Modellierungen der kindlichen Aussage und Deixis ermittelt (Hoff-Ginsberg, 1985, 1986, 1990;

Newport, Gleitman & Gleitman, 1977) sowie die Häufigkeit von Nominalphrasen von Hoff-Ginsberg (Hoff-Ginsberg, 1985, 1986, 1990), nicht aber von Newport und Kollegen (1977). Auch ein variationsreicher Verbgebrauch in vielfältigen grammatikalischen Strukturen (Naigles & Hoff-Ginsberg, 1998) sowie häufiger Gebrauch offener Fragen (Hoff-Ginsberg & Shatz, 1982) beeinflussen den Grammatikerwerb des Kindes positiv. Auch steht die Wortschatzentwicklung zweijähriger Kinder in positivem Zusammenhang mit der Höhe des MLU17 (Mean Length of Utterance) und einem vielfältigeren Vokabular in den sprachlichen Äußerungen der Mütter. Auch Huttenlocher et al (Huttenlocher, Vasilyeva, Cymermann & Levine, 2002) belegen, dass Kinder, deren Erzieher häufiger komplexe Sätze verwendeten, weiter fortgeschritten im Gebrauch komplexer Sätze waren als Kinder, deren Erzieher seltener komplexe Sätze produzierten.18

Negativ auf Fortschritte im Spracherwerb wirken sich dagegen Imperative aus: Während sie bei jüngeren Kindern die Entwicklung von Flexionen und Hilfsverben verzögern (Hoff-Ginsberg, 1985, 1986, 1990; Newport et al., 1977), reduzieren Imperative bei älteren Kindern die Bereitschaft, sich

16 Gathercole (2002a, 2002b) untersuchte englisch-spanische Bilinguale im Vergleich zu einsprachig englisch bzw. spanisch aufwachsenden Kindern, wobei die bilingualen jeweils der einen Sprache häufiger ausgesetzt waren als der anderen, was den Erwerb von Mengen/Zahlenstrukturen betrifft, und fand heraus, dass die bilingualen Kinder die Struktur jeweils in der Sprache früher erwarben, der sie häufiger ausgesetzt waren, diese aber insgesamt später erwarben als die einsprachigen Kinder.

17 Mean Length of Utterance ist ein Maß, das nicht nur Wortanzahl, sondern auch grammatikalische Komplexität erfasst.

18 Szagun (1996) konnte nach Durchsicht mehrerer Untersuchungen die häufig vertretene These, dass eine Feinabstimmung im Sinne einer Anpassung an das Sprachproduktionsniveau des Kindes sprachförderlich sei, nicht bestätigt finden. Hoff-Ginsberg (2000) argumentiert, dass Kinder in der Lage seien, relevante

Informationen und Strukturen aus einem sprachlich komplexen Input herauszufiltern und dass in diesem Prozess die Strukturen, die ihre Fähigkeiten übersteigen, einfach nicht verarbeitet werden. Dies geschehe ohne negative Konsequenzen für die Sprachentwicklung, solange ausreichend Input vorhanden ist. Die Möglichkeit, einen zu einfachen Input zu kompensieren, bestehe aber nicht.

36 sprachlich zu äußern und Fragen zu stellen (Hoff-Ginsberg, 2000). Wörtliche Wiederholungen der kindlichen Aussage zeigten in den Studien von Hoff-Ginsberg (1985, 1986, 1990) einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Flexionen und Hilfsverben, bei Newport et al. (1977) hingegen einen negativen.

Als förderlich für die kindliche Sprachentwicklung wurden sogenannte Modellierungen der kindlichen Aussage identifiziert, bei denen eine formal falsche bzw. unvollständige Äußerung des Kindes durch den Erwachsenen als formal korrekte Aussage wiedergegeben wird. In zahlreichen Studien wurde die sprachförderliche Wirkung dieser Modellierungen bestätigt (Bohannon &

Stanowicz, 1988; Farrar, 1990, 1992; Moerk, 1983, 1991; Newport et al., 1977; Snow, Perlman &

Nathan, 1987). Positiv hervorzuheben sind hier vor allem Modellierungen, die dem Kind seine ursprüngliche Aussage formal korrekt wieder repräsentieren, was als korrigierte Wiederholung, Reformulierung oder korrektives Feedback bezeichnet wird, sowie Modellierungen, die die kindliche Aussage inhaltlich und/oder syntaktisch zusätzlich erweitern, was Expansion oder erweiterte Wiederholung genannt wird.19

In Bezug auf Konversations- und Interaktionsstile Erwachsener wurde die Häufigkeit kontingenter Antworten der Mutter (Hoff-Ginsberg, 1986; Snow et al., 1987), ein Konversation anregender Sprachstil, das Aufgreifen des Themas des Kindes (Hoff-Ginsberg, 1986, 1987), eine vertikale Dialogstruktur, in der ein Thema gemeinsam vertieft wird (vgl. Ritterfeld, 2000) sowie häufiger Gebrauch offener Fragen (Hoff-Ginsberg & Shatz, 1982) als anregend für die kindliche Sprachentwicklung ermittelt. Nelson (1973) identifizierte bei Müttern zwei verschiedene Interaktionsstile und untersuchte deren Beziehung zur kindlichen Sprachentwicklung. Ein akzeptierender Stil, der sich an Objekten orientiert (Benennung und Beschreibung von Objekten sowie der Tätigkeiten des Kindes mit dem Objekt) und auch falsche Benennungen des Kindes akzeptiert, wirkt positiv auf die Fortschritte im Spracherwerb, während der direktive Stil, der weniger an Objekten als am Verhalten bzw. der Verhaltensregulierung des Kindes orientiert ist und mehr Imperative enthält, negative Wirkung zeigt. Ähnliche Beziehungen zwischen Erziehungsstil und Sprachentwicklung, wenn auch unter anderen Begrifflichkeiten, fanden Beller und Kollegen (Beller, E. K., Stahnke, Butz, Stahl & Wessels, 1996) in einer Münchener Krippenstudie.

Ein Großteil der zitierten Ergebnisse wurde in Studien gewonnen, die die KGS20 von Müttern der Mittelschicht in industrialisierten Ländern untersuchten (vgl. Szagun, 2008). Studien, die den verbalen Input in Beziehung zum sozioökonomischen Status (SES) der Mütter analysierten, beobachteten, dass Mütter mit höherem SES mehr Modellierungen der kindlichen Aussagen vornehmen, weniger Direktive verwenden (Miller, 1976; Snow et al., 1976), seltener Verbote erteilen (Hart & Risley, 1995), häufiger das Thema des Kindes aufgreifen und fortführen und mehr

19 Studien, die die Wirkung von Modellierungen auf den kindlichen Spracherwerb untersuchten, unterscheiden sich teilweise in der Wahl der Bezeichnung des gleichen Verhaltens, nutzen also verschiedene

Begrifflichkeiten für das gleiche Phänomen und unterscheiden sich im Grad der Differenzierung verschiedener Formen der Modellierungen.

20 KGS= die an das Kind gerichtete Sprache

37 offene Fragen stellen (Hoff-Ginsberg, 1991) als Mütter mit niedrigem SES. Hart & Risley (1995) belegen, dass auch die Menge des Inputs stark abhängig vom SES ist: In Familien mit niedrigem SES hörten Kinder in der Woche durchschnittlich 62.000 Wörter, in Familien mittleren SES wurde mit 125.000 Wörtern die doppelte Menge gesprochen und Familien mit hohem SES produzierten gar nahezu dreieinhalb Mal mehr Sprache mit 215.000 Wörter wöchentlich.

Die Anwendung spezifischer sprachlicher Strukturen steht in engem Zusammenhang mit Gesprächs- und Interaktionsstilen, die auch abhängig vom SES zu sein scheinen, und mögen eine Konsequenz des Stils sein (Szagun, 2008). Es ist bislang unklar, „ob KGS aufgrund seiner syntaktischen Struktur oder aufgrund einer dialogfördernden Struktur wirkt (Hoff-Ginsberg & Shatz, 1982; Pine, 1994)“ (Szagun, 2008 S. 188). Ein interessantes Ergebnis im Hinblick darauf ist, dass Expansionen zwar im natürlichen Kontext sprachförderlich wirken, diese Wirkung aber nicht bzw.

nur kurzfristig in einer experimentellen Situation nachgewiesen werden konnte (Cazden, 1965;

Nelson, 1973). Für die pädagogische Gestaltung von außerhäuslicher vorschulischer Sprachförderung ist diese Frage von zentraler Bedeutung, da überlegt werden muss, ob eine Qualifizierung der Erzieher mit dem Ziel erfolgen soll, die häufigere Verwendung spezifischer sprachförderlicher Strukturen zu trainieren oder ob versucht werden soll, den Gesprächs- und Interaktionsstil zu verändern.

Die den in diesem Abschnitt zitierten Untersuchungen gemeinsame Grundhypothese ist, dass der sprachliche Input die Sprachentwicklung des Kindes beeinflusst. Es gibt allerdings auch einzelne Ergebnisse, die die Vermutung nahelegen, dass die sprachlichen Kompetenzen des Kindes auch die Qualität des Input beeinflussen, d.h. eine reziproke Beziehung zwischen der Qualität des Inputs und der sprachlichen Kompetenz des Kindes besteht: 1. Die spezifischen Merkmale der KGS21 werden mit zunehmendem Alter der Kinder schwächer und sind in Interaktionen mit Fünfjährigen kaum noch zu beobachten (Garnica, 1977). 2. Kinder mit fortgeschrittenen sprachlichen Fähigkeiten bestimmen den Diskurs aktiv mit und evozieren dadurch auch einen Sprachstil, der sprachförderlich wirkt (vgl. Szagun, 2008). 3. Studien, die den sprachlichen Input von Müttern spracherwerbsgestörter bzw. -verzögerter Kinder im Vergleich zu Müttern sprachlich altersangemessen entwickelter Kinder untersuchten, belegen, dass Kinder mit Störungen in der Sprachentwicklung einen weniger sprachförderlichen Input erhalten und teilweise auch kognitiv unterfordert werden (Grimm, H., 1994; Grimm, H. & Kaltenbacher, 1982; Snyder, 1984). Nach Szagun (1996) gibt es keinen Beleg dafür, dass der Input ursächlich wirkt, d.h. die Sprachverzögerung hervorruft. Tatsache aber ist, dass „dem sowieso spracherwerbsgestörten Kind eine weniger reiche sprachliche Umwelt“ (Szagun, 1996 S. 284) geboten wird. Sazgun kommt auf der Basis ihrer vergleichenden Studie der Wirkung des Inputs bei Kindern mit und ohne

21 Zu den spezifischen Charakteristika der KGS zählen häufige Aussagen in syntaktisch reduzierter

Komplexität (vgl. Snow, 1972), aber auch syntaktisch komplexe Aussagen wurden beobachtet(Newport et al., 1977), eine hohe Anzahl an Fragen, häufige Verwendung von Inhaltswörtern und Wiederholungen (vgl. Snow, 1972), Modellierungen kindlicher Aussagen (vgl. Hoff-Ginsberg, 1986; Newport, Gleitman, & Gleitman, 1977) sowie prosodische Merkmale (vgl. Garnica, 1977). Anzumerken ist, dass die so charakterisierte KGS nicht in allen Kulturen vorkommt (vgl. Szagun, 2008).

38 Implantat zu dem Schluss, „dass die Art der Sprache, die Erwachsene mit Sprache erwerbenden Kindern sprechen, einen stärkeren Einfluss ausübt, wenn die Kinder eine nicht-typische Sprachentwicklung haben“ (Szagun, 2008 S. 203). Interessant ist, dass Modellierungen sich für beide Gruppen von Kindern als gleich förderlich gezeigt haben, aber für Kinder mit nicht-typischer Sprachentwicklung das Sicherstellen der Aufmerksamkeit, ein höheres MLU, das Erfragen von Informationen und eine geringere Anzahl von hintereinander folgenden Äußerungen wichtiger war als für Kinder mit typischer Sprachentwicklung.

3.1.2 Zweitspracherwerb

Bislang existieren weder Untersuchungen, die die Quantität und Qualität des sprachlichen Inputs, den Migrantenkinder in den ersten Lebensjahren in ihrer Familiensprache erhalten, beschreiben, noch Studien, die den sprachlichen Input, der diesen Kindern in der Majoritätssprache zur Verfügung steht, systematisch untersuchen. Aufgrund der Tatsache, dass in Deutschland Migrantenfamilien überwiegend einen niedrigen SES haben und die Immigration häufig aufgrund eines niedrigen SES im Herkunftsland erfolgte, ist allerdings davon auszugehen, dass diese Kinder in den meisten Familien einen weniger qualitativ hochwertigen Input erhalten und Gesprächs- und Interaktionsstile eher direktiv geprägt sind.

Leider gibt es kaum Untersuchungen, die die Rolle des sprachlichen Inputs, den Kinder beispielsweise in der Kindertagesstätte in der Zweitsprache erhalten, systematisch untersuchen. Es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass der sprachliche Anregungsgehalt nicht nur für den Erstspracherwerb von großer Bedeutung ist, sondern auch für den Zweitspracherwerb. So zeigen Untersuchungen mit bilingualen Kindern, die mit jeweils einer Sprache häufiger konfrontiert waren, dass diese gewisse Strukturen früher in der Sprache erwerben, der sie häufiger ausgesetzt sind als in der anderen (Mueller Gathercole, 2002a, 2002b; Mueller Gathercole & Hoff, 2007). Auch in Bezug auf die Wortschatzentwicklung bilingual aufwachsender Kinder konnte eine Beziehung zwischen der in der jeweiligen Sprache zur Verfügung stehenden Menge an Input und der Größe des Vokabulars des Kindes in der jeweiligen Sprache belegt werden (Marchman, Martinez-Sussmann & Dale, 2004; Pearson, Fernández, Lewedeg & Oller, 1997).

Unklar ist bis dato, ob Kinder mit Migrationshintergrund, die mit der Majoritätssprache in der Regel mit dem Eintritt in den Kindergarten oder in die Krippe intensiver konfrontiert werden, von den gleichen Verhaltensweisen in der Zweitsprache profitieren, die sich für Kinder im Erstspracherwerb als sprachförderlich erwiesen haben. Beller und Kollegen (2006), die in einer Interventionsstudie im Kindergartenalltag das sprachliche Anregungsniveau sowie das Auftreten demokratischer Verhaltensweisen bei Erziehern, die ein- bis dreijährige Kinder betreuen, erhöht haben, fanden zwar einen positiven Effekt der Intervention auf die Sprachentwicklung der Kinder unabhängig von deren Herkunft (Kind deutscher versus Kind türkischer Herkunft); allerdings liefert die Studie keine differenzierten Informationen darüber, welche Verhaltensweisen sich im Einzelnen positiv auf den Zweitspracherwerb auswirkten (Beller, E. K. et al., 2006).

39 Eine weitere offene Frage ist auch, ob Kindern mit Migrationshintergrund in Krippe oder Kindergarten tatsächlich die gleiche Qualität und Quantität des Inputs geboten wird wie Kindern mit Deutsch als Erstsprache. Die am Ende des vorangegangenen Abschnitts (3.1.1) zitierten Untersuchungen legen die Vermutung nahe, dass eine reziproke Beziehung zwischen der Sprachentwicklung des Kindes und der Qualität des sprachlichen Inputs besteht. Ein niedriges Kompetenzniveau in der Zweitsprache Deutsch von Kindern mit Migrationshintergrund mag deshalb dazu führen, dass der sprachliche Input, den diese Kinder erhalten, qualitativ weniger hochwertig ist, die Kinder seltener zu Gesprächen angeregt und häufig auch kognitiv unterfordert werden.