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Soziometrische Daten

Im Dokument Methoden der Sozialstrukturforschung (Seite 11-14)

”Sociometry. A Journal of Inter-Personal Relations“ darstellt) in erster Linie um eine Erfassung und Analyse affektiver Beziehungen ging. Je-doch war nicht nur das Programm von Anfang an weiter gespannt;2 es entwickelten sich auch zunehmend Forschungsans¨atze, und zwar bereits im ideologischen und institutionellen Rahmen der

”soziometrischen Bewe-gung“, in denen nicht nur affektive Beziehungen, sondern auch empirisch ermittelbare Interaktionen thematisiert wurden.

3.Eine wesentlich allgemeinere Definition findet sich z.B. bereits in den 50 er Jahren in einem Buch ¨uber

”Research methods in social relations“

von Selltiz, Jahoda, Deutsch und Cook (1959, S. 268):

“Sociometry is concerned with the social interactions among any group of people.

The data collection is geared to obtaining information about the interaction or lack of interaction among the members of any group (or among subgroups, or among groups, or among groups and individual members, etc.). The interaction that is investigated may be behavioral, or it may only be desired, or anticipated, or fantasied. The content or type of interaction studied may be any one of a variety of social behaviors – sitting next to, eating with, bying from, lending to, visiting, playing with, having as a friend, talking to, living next to, etc.”

Offenbar denken die Autoren nicht nur an affektive Beziehungen, sondern gleichermaßen daran, wie sich Menschen in Interaktionsprozessen verhal-ten. Außerdem wird angedeutet, daß die

”Knoten“, zwischen denen soziale Beziehungen bestehen, nicht nur aus einzelnen Individuen, sondern selbst aus Gruppen bestehen k¨onnen.

2.2 Soziometrische Daten

1.Soziometrische Daten k¨onnen auf unterschiedliche Weisen erhoben wer-den; etwa durch Beobachtungen, Analyse von Dokumenten oder durch eine Befragung der beteiligten Personen. Die gr¨oßte Verbreitung hat zun¨achst ein von Moreno vorgeschlagenersoziometrischer Test erlangt. Moreno cha-rakterisiert ihn folgendermaßen:3

”Wir k¨onnen die Haupttendenz der sozialen Entwicklung eines Individuums we-der durch bloße Beobachtung (z.B. we-der spontanen Ausdrucksformen und des Spiels des Kindes) noch durch eigene Teilnahme v¨ollig verstehen. Wir m¨ussen das zu erforschende Objekt selbst in einen Experimentator verwandeln, im Fall einer Gruppenformation die Mitglieder der zuk¨unftigen Gruppe zu Gestaltern der eigenen Gruppe machen. Der soziometrische Test wird angewendet, um ge-naue Kenntnis der Gruppenorganisation zu erhalten. Er beruht darauf, daß ein Individuum die Teilnehmer f¨ur irgendeine Gruppe w¨ahlt, der es angeh¨ort oder

2Z.B. schrieb Moreno (1951, S. 7):

Sociometry means measurement of social relations, in its broadest sense,allmeasurement ofallsocial relations.“

3Wir zitieren aus der 2. Auflage der deutschen ¨Ubersetzung seines Buches

Who shall survive?“, die 1967 erschienen ist. Die erste Auflage dieser ¨Ubersetzung erschien 1954.

angeh¨oren m¨ochte. Da diese Wahlen von den Personen selbst bestimmt werden, wird jedes Individuum zum Teilnehmer. Auf diese Weise legt der Test die Be-ziehungen der einzelnen Personen zueinander frei und gibt somit ein Bild der Gesamtstruktur.“ (Moreno 1967, S. 36 f.)

Wie sich in diesen Ausf¨uhrungen bereits andeutet, legte Moreno großen Wert darauf, dass die Personen, die einem soziometrischen Test unterzo-gen werden sollen, aktiv in dessen Durchf¨uhrung einbezogen werden, und er hat auch stets gefordert, dass die Ergebnisse solcher Tests soweit m¨oglich praktisch umgesetzt werden sollten, d.h. dass auf der Grundlage der von den Teilnehmern ge¨außerten Pr¨aferenzen neue Gruppenkonstellationen ge-bildet werden sollten.4

2.Morenos soziometrischer Test wurde in unterschiedlichen Formen ange-wendet, abh¨angig in erster Linie von der Art der Gruppen, die untersucht werden sollten. Ein bevorzugtes Anwendungsfeld bildeten Schulen.

”InSchulgruppen wurde der Test in folgender Form ausgef¨uhrt: Der Tester trat in das Klassenzimmer und wendete sich an die Sch¨uler: ‘Ihr sitzt jetzt in der Ordnung, wie Euer Lehrer sie bestimmt hat. Euer Nachbar wurde nicht von Euch gew¨ahlt. Es wird Euch nun die Gelegenheit gegeben, das M¨adchen oder den Jungen zu w¨ahlen, den ihr gerne neben Euch sitzen haben m¨ochtet. Schreibt daher auf, wen ihr am liebsten zum Nachbarn haben wollt. Schaut Euch um, entschließt Euch und denkt daran, daß in Zukunft diejenigen Freunde, die ihr jetzt w¨ahlt, neben Euch sitzen werden.’ Es wurde eine Minute zur ¨Uberlegung der Wahl gegeben, bevor die Sch¨uler ihre Freunde aufschrieben. Der Tester versuchte in ein Verh¨altnis mit den Sch¨ulern zu kommen und genau die Bedeutung der Entscheidungen auszulegen.

Unmittelbar nach der ersten Wahl wandte sich der Tester wieder an die Sch¨uler:

‘Jeder kann jetzt eine zweite Wahl treffen; denn es mag sein, daß nicht jedem der Wunsch der ersten Wahl erf¨ullt werden kann.’ Die Kinder w¨ahlten der der gleichen Art wie das erste Mal. In manchen F¨allen forderte der Tester die Kin-der nach Kin-der zweiten Wahl noch einmal auf, anKin-dere Sch¨uler zu w¨ahlen, bis die Wahlspontaneit¨at der Kinder ersch¨opft schien.“ (Moreno 1967, S. 37)

Dies ist nat¨urlich nur ein Beispiel. Moreno hat sich viel M¨uhe gegeben, je nach Art der Gruppen und Fragestellung unterschiedliche Varianten soziometrischer Tests zu entwickeln.

3.Eine der ersten gr¨oßeren soziometrischen Untersuchungen wurde von Moreno gemeinsam mit Helen H. Jennings in derNew York State Training School for Girls durchgef¨uhrt.5 Da wir einen Teil der in diesem Zusam-menhang erhobenen Daten sp¨ater als Beispiel verwenden wollen, ist es

4In dieser Hinsicht kann man ihn als einen Vorl¨aufer der sp¨ater so genannten

Aktions-forschung“ oder

Handlungsforschung“ betrachten, wie sie z.B. von Wohlrapp (1979) diskutiert worden ist.

5Daraus sind auch zahlreiche soziometrische Arbeiten von Morenos Mitarbeiterin ent-standen; vgl. z.B. Jennings (1937) und (1943).

n¨utzlich, einen zumindest oberfl¨achlichen Eindruck dieser Anstalt zu ge-winnen. Moreno (1967, S. 98) gibt folgende Hinweise:

”Die Gemeinschaft, in der diese Studie ausgef¨uhrt wurde, befindet sich in der N¨ahe von Hudson, New York. Sie hat die Gr¨oße eines kleinen Dorfes. Die Ein-wohnerzahl liegt zwischen 500 und 600 Personen. Die Gemeinschaft ist geschlos-sen. Die Bev¨olkerung ist ausschließlich weiblichen Geschlechts. Die M¨adchen sind noch im Entwicklungsalter und bleiben, bis ihre Erziehung beendet ist, einige Jahre in Hudson. Sie werden aus allen Teilen des Staates New York durch die Gerichte in diese Anstalt ¨uberwiesen. Sie stellen einen Querschnitt durch al-le Nationalit¨aten und soziaal-len Gruppen New Yorks dar. Die Organisation hat einen doppelten Charakter: sie setzt sich aus zwei Gruppen, der Gruppe des Verwaltungspersonals und der Sch¨ulerinnengruppe, zusammen. 16 kleine H¨auser dienen zur Unterbringung; außerdem sind eine Kapelle, eine Schule, ein Kranken-haus, ein Industriebetrieb, ein WarenKranken-haus, eine Dampfw¨ascherei und ein land-wirtschaftlicher Betrieb vorhanden. Die Hausmutter ¨ubernimmt die Funktionen der Eltern. Alle Mahlzeiten werden in jedem Haus einzeln unter der Leitung eines K¨uchenchefs zubereitet. Die M¨adchen arbeiten in verschiedener Weise im Haushalt mit, als Aufw¨arterinnen, K¨uchengehilfinnen, K¨ochinnen, Kellnerinnen, W¨ascherinnen und Stubenm¨adchen. Die farbigen Einwohner sind von den weißen M¨adchen getrennt in besonderen H¨ausern untergebracht. Im t¨aglichen Verkehr außerhalb der Wohnh¨auser hingegen, in der Schule, auf den Arbeitsst¨atten, in der Kapelle usw., mischen sich Weiße und Farbige zwanglos. Diese und ¨ahnliche Dinge k¨onnen als ‘offizielle soziale Organisation’ der Gemeinschaft bezeichnet werden.“

Der letzte Satz bildet nun den Ausgangspunkt f¨ur Morenos soziometrischen Ansatz, den er in diesem Beispiel folgendermaßen erl¨autert:

”Außer dieser formellen Struktur gibt es eine unsichtbare soziometrische Orga-nisation der Hausgemeinschaft, innerhalb der jeder Einzelne seine Stellung und Funktion hat. Die offizielle soziale Funktion eines M¨adchens kann z.B. das ¨ Uber-wachen des Schlafraumes sein, w¨ahrend es in seiner soziometrischen Funktion als affektbetonte erste Wahl und verh¨atschelter Liebling der Hausmutter gilt und von den ¨ubrigen Gruppenmitgliedern abgestoßen wird und innerhalb der Grup-pe isoliert ist. Diese emotionalen Verbindungen zwischen den M¨adchen bilden eine neuartige soziale Gestalt, eine soziometrische Organisation. Der Gegensatz zwischen der formalen und informalen Gemeinschaftsstruktur hat dynamische Konsequenzen. Obwohl die weißen und farbigen M¨adchen offiziell getrennt un-tergebracht sind, bestehen Anziehungen und Abstoßungen zwischen ihnen, die das soziale Gemeinschaftsleben stark beeinflussen. Diese emotionalen Str¨omun-gen, welche die weißen und farbigen M¨adchen verbinden und trennen, m¨ussen in allen Einzelheiten untersucht werden; ihre Ursachen m¨ussen ermittelt und ein-gesch¨atzt werden. ¨Ahnliche emotionale Str¨omungen bestehen auch innerhalb der verschiedenen Gruppen der weißen Bev¨olkerung, ungeachtet ihres Wohnplatzes oder ¨ahnlicher Unterschiede zwischen den Hausgruppen. Solche psycho-sozialen Str¨omungen verlaufen nicht nur unter den Z¨oglingen, sondern auch zwischen Vorgesetzten und Z¨oglingen und unter den Vorgesetzten selbst. Sie bewegen sich von den Regierungsvertretern und dem Direktor der Gemeinschaft hinunter in

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den innersten Kreis der Verwaltungsleiter und von diesem weiter zu den Haus-m¨uttern, Vorm¨annern der Werkst¨atten und anderen Angestellten bis hinunter zu den Bewohnern. Sie durchfließen die ganze soziale Hierarchie.“

Man erkennt, dass Moreno eine sehr umfassende Analyse sozialer Grup-pen vorschwebte, allerdings stets aus einer spezifischen psychologischen Perspektive: ihn interessierten die affektiven Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe oder Gemeinschaft und die Widerspr¨uche zwi-schen diesen und den

”offiziellen“ Beziehungen.

4.Wie wurden nun in diesem Fall soziometrische Tests konzipiert und angewendet? Moreno war sich im Klaren dar¨uber, dass sich ein solcher Test stets auf ein bestimmtes ”Kriterium“ bezieht; z.B. wer neben wem in einer Schulklasse oder in einem Speiseraum sitzen m¨ochte oder wer mit wem zusammen in der W¨ascherei arbeiten m¨ochte. Infolgedessen gibt es jeweils viele Varianten soziometrischer Tests. F¨ur unser gegenw¨artiges Beispiel bemerkt Moreno:

”Das von uns zuerst angewandte Kriterium betrifft das Zusammenleben der M¨adchen im selben Haus und stellt die Anziehungen und Abstoßungen fest, welche die M¨adchen in bezug auf dieses Kriterium einander entgegenbringen.

Die Personenzahl, aus der das M¨adchen seine Hausgenossen w¨ahlen konnte, war 505. Auf Grund ¨ahnlicher Versuche sch¨atzten wir, daß f¨unf Wahlm¨oglichkeiten pro M¨adchen gen¨ugend sein w¨urden, um der sozialen Spontaneit¨at Ausdruck zu geben.Die ganze Gemeinschaft wurde dann zusammengerufen und gleichzeitig dem Test unterworfen,wie dies im ersten Teil dieses Buches schon beschrieben wurde. Wir waren hernach in der Lage, jedes M¨adchen zu klassifizieren gem¨aß der Wahlen, die es getroffen und erhalten hatte.“

Man kann sich vorstellen, wie auf diese Weise soziometrische Daten ent-standen sind.

5.Um sich ein Bild der Daten zu machen, k¨onnen die Begriffsbildungen aus Kapitel 1 dienen. Die Objektmenge besteht in diesem Fall aus den Namen von 505 M¨adchen:

Ω := {ω1, . . . , ωn}

wobei n = 505 ist. Jedes M¨adchen kann bis zu f¨unf andere M¨adchen w¨ahlen, mit denen es in einer Hausgemeinschaft leben m¨ochte. Also kann man eine relationale Variable

R: Ω×Ω −→ R˜:={0,1,2,3,4,5}

definieren, deren Werte folgendermaßen zustande kommen:

2.2 SOZIOMETRISCHE DATEN 27

R(ω, ω0) :=

















0 wennω0 nicht vonω gew¨ahlt wird 1 wennω0 die 1. Wahl vonω ist 2 wennω0 die 2. Wahl vonω ist 3 wennω0 die 3. Wahl vonω ist 4 wennω0 die 4. Wahl vonω ist 5 wennω0 die 5. Wahl vonω ist

Auf diese Weise entsteht ein Graph G := (Ω, R), dessen Knoten Namen der M¨adchen und dessen Kanten gerichtet und durch Werte in ˜Rbewertet sind.

6.Leider werden die vollst¨andigen Daten f¨ur dieses Beispiel von Moreno nicht mitgeteilt. Dabei w¨are es nicht allzu schwierig gewesen. Z.B. h¨atte er eine Tabelle der folgenden Art verwenden k¨onnen.

W1 W2 W3 W4 W5

ω1 w11 w12 w13 w14 w15

... ... ... ... ... ... ωn wn1 wn2 wn3 wn4 wn5

wobei sich die Spalten auf Wahlm¨oglichkeiten beziehen, alsowij die Num-mer des vonωiin derj-ten Wahl gew¨ahlten M¨adchens angibt. Stattdessen findet man bei Moreno haupts¨achlich drei Arten von Angaben: Illustrative Angaben f¨ur die Wahlen jeweils einzelner M¨adchen, graphische Darstellun-gen von Teilen des gesamten Netzwerks und zusammenfassende statistische Tabellen, die z.B. angeben, wie viel Prozent der M¨adchen einer bestimm-ten Hausgemeinschaft M¨achen aus anderen Hausgemeinschafbestimm-ten gew¨ahlt haben.

7.Um uns dennoch auf Daten beziehen zu k¨onnen, verwenden wir ein Beispiel, das in einer Arbeit von E. Forsyth und L. Katz (1946) angege-ben wurde. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem von Moreno erhobenen Datensatz, den die Autoren aus einer von Moreno publizier-ten graphischen Darstellung rekonstruiert haben.6Dieses Beispiel ist auch deshalb interessant, weil zum erstenmal eine Adjazenzmatrix verwendet wird, um die Daten darzustellen. Tab. 2.2.1 zeigt diese Adjazenzmatrix.

Die Daten stammen aus einem soziometrischen Test bei 25 M¨adchen aus dem Wohngeb¨aude Nr. 4 der New York State Training School for Girls, die oben beschrieben wurde. Bei diesem Test konnte jedes M¨adchen belie-big viele andere M¨adchen nennen und angeben, ob es eine”positive“ oder

”negative“ Beziehung zu dem anderen M¨adchen”f¨uhlt“. In der Adjazenz-matrix sind

”positive“ Beziehungen durch eine 1,

”negative“ Beziehungen

6Sie beziehen sich auf ein Soziogramm, das bei Moreno (1934) abgedruckt ist.

Tabelle 2.2.1 Soziomatrix f¨ur 25 Sch¨ulerinnen der New York State Training School for Girls (Forsyth und Katz 1946, S. 345).

5 10 15 20 25

durch eine 0 gekennzeichnet. Z.B. ¨außerte das M¨adchen Nr. 6 eine” posi-tive“ Beziehung zum M¨adchen Nr. 4 und eine ”negative“ Beziehung zum M¨adchen Nr. 2.

8.Auch diese Daten k¨onnen durch eine relationale Variable repr¨asentiert werden. Die Objektmenge besteht aus den 25 M¨adchen:

Ω := {ω1, . . . , ω25}

und die relationale Variable hat die Form R: Ω×Ω −→ R˜:={−1,0,1}

wobei die Bedeutung der Werte durch

R(ω, ω0) :=

”negative“ Beziehung zuω0 ausdr¨uckt 1 wennω eine”positive“ Beziehung zuω0 ausdr¨uckt

Im Dokument Methoden der Sozialstrukturforschung (Seite 11-14)