• Keine Ergebnisse gefunden

Sozialisation und Entwicklung als Prozess der wechselseitigen Beziehung

Im Dokument Entwicklung im kulturellen Kontext (Seite 54-60)

5 Wirkungsfoktoren der Entwicklung im kulturellen Kontext

6.2 Sozialisation und Entwicklung als Prozess der wechselseitigen Beziehung

Auch wenn dies nicht immer explizit gesagt wird, geht doch ein großer Teil der kulturvergleichenden entwicklungspsychologischen Forschung davon aus, dass der kulturelle Kontext (auf den verschiedenen Makro- und Mikro-Ebenen) die

menschliche Entwicklung beeinflusst. Dabei werden zum einen biologische Fak-toren übersehen. Zum anderen werden vor allem Prozesse der Ko-Konstruktion und der Bidirektionalität bzw. der wechselseitigen Einflüsse übersehen.

Wirkungen von elterlichen Erziehungstheorien und -verhalten und Einflüsse von Altersgruppen (vgl. Bugental & Goodnow, 2000) werden durch das Verhalten des Kindes mit bedingt. Die Art und die Wirkung dieser Wechselseitigkeit wird u. a. durch den kulturellen Kontext mit beeinflusst. Unterschiede in elterlichen Erziehungstheorien und -verhalten in verschiedenen Kulturen sagen daher zu-nächst noch nicht viel über deren Wirkungen aus. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund der Erkenntnis der neueren Forschung zur Bidirektionalität elter-licher Erziehung (vgl. Kuczynski & Lollis, 2005), der Vielfalt von Einflüssen auf die Entwicklung des Kindes (Bugental & Johnston, 2000) sowie insbesondere auch der genetischen Bedingungen für die Entwicklung (Rowe, 1997) zu beto-nen. Zumindest sind funktionale Analysen in Bezug auf das Zusammenwirken von kulturellen Kontextbedingungen, elterlichen Theorien und Merkmalen des Kindes erforderlich (vgl. Kornadt & Trommsdorff, 1990; Trommsdorff & Kor-nadt, 2003). Wie Eltern sich selbst und ihre Kinder wahrnehmen und ihre Erzie-hungsaufgaben und Einflussmöglichkeiten beurteilen, hängt davon ab, wie sich das Kind verhält bzw. wie das Kind das Elternverhalten wahrnimmt und beur-teilt (als Unterstützung oder als Einschränkung) und welche Deutungsmodelle dabei wirksam sind (vgl. Trommsdorff, 1985, 1995). Entsprechend werden sich Eltern gegenüber dem Kind unterschiedlich verhalten und dem Kind direkt und indirekt über ihre eigenen Überzeugungen hinaus auch mehr oder weniger er-folgreich die jeweiligen kulturellen Deutungsmuster vermitteln (Grusec & Good-now, 1994; Kornadt & Trommsdorff, 1984; Trommsdorff, in Druck). Die er-folgreiche Internalisierung von elterlichen Werten hängt vor allem davon ab, ob das Kind die Botschaften versteht und akzeptiert (Grusec & Goodnow, 1994).

Damit rückt die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung, die in der Sozialisations-forschung lange Zeit nicht wahrgenommen worden ist, weil es dort primär um unidirektionale Einflussprozesse ging, in den Fokus der Aufmerksamkeit.

Wie Eltern die Entwicklung des Kindes beeinflussen, hängt u. a. von den sozio-kulturellen Bedingungen wie dem sozio-kulturellen Deutungsmodell, der Eltern-Kind-Beziehung und den Merkmalen des Kindes (u. a. seinem Entwicklungsstand) ab;

das Zusammenwirken dieser Bedingungen beeinflusst wiederum die subjektive Deutung des elterlichen Verhaltens durch die Kinder und damit die Bereitschaft der Kinder, die elterlichen Erziehungsziele zu übernehmen (vgl. Grusec & Good-now, 1994). Damit stellt sich die weiterführende Frage, ob und wie elterliche Erziehungstheorien über Generationen hinweg weiter gegeben werden und einen Beitrag zur Transmission kultureller Werte leisten können (Trommsdorff, 2005b, 2006a, 2006b, in Druck; Trommsdorff & Kornadt, 2003). Es stellt sich aber auch die Frage, wie die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern

über die Lebensspanne gestaltet wird, z. B. auch unter welchen Bedingungen wel-che Art von Unterstützung von wem ausgeht (Schwarz & Trommsdorff, 2005;

Schwarz, Trommsdorff, Kim & Park, 2006; Trommsdorff, 2006b).

Man kann nicht schlicht davon ausgehen, dass Bidirektionalität in allen Kultu-ren in gleicher Weise auftritt (Trommsdorff & Kornadt, 2003). Vielmehr sind hier wieder die kulturspezifischen Deutungsmuster, die eher independente und/

oder interdependente Eltern-Kind-Beziehungen bevorzugen, relevant. Hier stel-len sich in der Tat weitere neue Aufgaben für eine kulturvergleichende Entwick-lungspsychologie: die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Eltern-Kind-Beziehung und individueller Entwicklung über die Lebensspanne unter dem Aspekt der kulturspezifischen Entwicklungspfade. Diese Aufgabe ist allerdings sinnvollerweise unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens von biologischen und kulturellen Faktoren anzugehen. Damit kann dann die Annahme geprüft werden, dass die individuelle Entwicklung als Prozess der Ko-Konstruktion im kulturellen Kontext auf die Kultur zurückwirkt, z. B. über die Transmission von Werten (zwischen den Generationen, zwischen peers etc.) (vgl. Trommsdorff, in Druck). Einige empirische Belege für die Wechselwirkungen zwischen indi-vidueller Entwicklung und Kultur liegen bereits vor (vgl. Lehman et al., 2004).

7 Methoden kulturvergleichender Entwicklungspsychologie

Bei Verwendung der kulturvergleichenden Methode in der Psychologie geht es darum, Zusammenhänge zwischen bestimmten kulturellen Merkmalen und der menschlichen Entwicklung zu untersuchen. Jedoch sind keineswegs alle

"kulturvergleichenden" Studien so aufgebaut, dass systematische Vergleiche von Entwicklungsbedingungen und -phänomenen in zwei oder mehreren Kulturen vorgenommen werden. Einige für die Entwicklungspsychologie besonders auf-schlussreiche Studien beschränken sich auf die empirische Erfassung und Be-schreibung von Entwicklung in nur einer Kultur. Beispiel für Untersuchungen in nicht westlichen Kulturen sind die Beobachtungen von Ainsworth (1967) zu Mutter-Kind-Interaktionen (Bindung) in Uganda; von Spiro (I958, 1971) zur Kindererziehung im Kibbuz oder von Stevenson, Azuma und Hakuta (1986) zur Kindererziehung in Japan. Gerade die Beschreibungen psychologisch bedeutsa-mer Entwicklungsbedingungen und -phänomenen in nicht westlichen Kultu-ren erweitern entwicklungspsychologische Kenntnisse über die primär aus in-dustrialisierten westlichen Kulturen gewonnenen hinaus.

In intrakulturellen Vergleichsstudien werden verschiedene ethnische Gruppen aus einer bestimmten Gesellschaft (Nation) in Bezug auf die Persönlichkeits-entwicklung verglichen, wie z. B. in der Studie von Werner, Bierman und French (I971) in Bezug auf ethnische Gruppen in Kauai oder von Kornadt, Hayashi,

Tachibana, Trommsdorff und Yamauchi (1992) und Kornadt und Tachibana (I999) in Bezug auf verschiedene ethnische Gruppen in Indonesien.

Beim interkulturellen Vergleich werden vergleichbare Populationen in möglichst vergleichbaren Kontexten mit vergleichbaren Verfahren in Bezug auf bestimmte Entwicklungsmerkmale in mindestens zwei (möglichst) verschiedenen Kulturen systematisch verglichen, wie dies z. B. in der klassischen Studie von Bronfenbren-ner (1970) zum moralischen Urteilen amerikanischer und russischer Kinder er-folgte. Ein Beispiel für den Vergleich zwischen mehreren Kulturen ist die Studie von Minturn und Lambert (1964) über Mutter-Kind-Beziehungen in sechs Kul-turen bzw. die berühmte Six-Cultures-Study von B. B. Whiting und

J.

W M.

Whiting (1975) zu Zusammenhängen zwischen Haushaltsstruktur (z. B. Kom-plexität) und der sozialen Entwicklung (z. B. Hilfeverhalten) von Kindern.

Die genannten Studien sind gleichzeitig Beispiele für die Verwendung ganz ver-schiedener Verfahren zur Datengewinnung: Beobachtung (B. B. Whiting &

J.

W M. Whiting, 1975); Befragung durch Fragebogen, (halb-)projektive Ver-fahren und Interviews (Kornadt et al. , 1992); Sekundäranalysen von Berichten und Beobachtungen sehr unterschiedlicher Qualität aus den Human Relation Area Files (HRAF; Rohner, 1975).

Untersuchungsschritte. Ein Weg der kulturvergleichenden Entwicklungspsycho-logie ist die Erfassung von Entwicklungsbedingungen in den verschiedenen Kul-turen. Dabei konzentriert man sich auf solche Bedingungen, von denen auf Grund theoretischer Annahmen ein Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kindes erwartet werden kann; z. B., dass die Intensität der Interaktion zwischen Mutter und Kind einen Einfluss auf die spätere Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes hat. Äußere "objektive" Gegebenheiten, unter denen das Kind auf-wächst (Wohn umwelt, Familiengröße, Ernährung, Kontakt zwischen Kind und Mutter etc.) werden auf ihre theoretisch angenommenen Funktion für die Ent-wicklung hin untersucht. Diese Funktion kann je nach Kultur jedoch verschie-den sein: Enge Wohnverhältnisse können als normal und angenehm oder auch als störende Einschränkung erlebt und entsprechend unterschiedlich wirksam werden. Daher ist nach der subjektiven Bedeutung von solchen objektiven Fakto-ren zu fragen. Damit sind Probleme der funktionalen Äquivalenz von Indikato-ren für bestimmte Entwicklungsergebnisse in verschiedenen KultuIndikato-ren verbunden (vgl. Van de Vijver, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichen-den Psychologie"). Diese Probleme sind nur durch brauchbare theoretische An-sätze zu bearbeiten, die z. B. Aussagen über die Funktion bestimmter, und zwar nicht nur objektiver, sondern vielmehr gemäß auf Grund der bisherigen Erfah-rungen und des kulturellen Kontextes subjektiv erlebter, Kontextbedingungen (z. B. kontrollierende, aber als unterstützend erlebte elterliche Erziehung) für die Entwicklung (z. B. von schulischem Lernen) machen.

Wenn im nächsten Schritt Entwicklungsphänomene in verschiedenen Kulturen (z. B. Art und Intensität von prosozialem Verhalten oder von Aggression) und Voraussetzungen für deren Entstehung untersucht werden, sind Analysen von Entwicklungsprozessen erforderlich. Diese lassen sich ohne Kenntnis des kultu-rellen Kontextes und dessen psychologischer Bedeutung nicht ausreichend er-fassen.

Validität und Vergleichbarkeit von Methoden. Ähnlich wie in der sonstigen psy-chologischen Forschung stellt sich im entwicklungspsypsy-chologischen Kulturver-gleich das Problem der Validität von verwendeten Instrumenten zur Erfassung der theoretisch interessierenden Variablen (vgl. Poortinga sowie Van de Vijver, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"). Dabei wird die in jeder empirischen Forschung zentrale methodologische Frage gestellt, welche Indikatorfunktion beobachtbare Merkmale in einem gegebenen Kontext für die theoretischen Konstrukte haben bzw. welche Beziehungen zwischen Mess-(oder Beobachtungs-)variablen und latenten Variablen bestehen. Wenn man sich auf gut zu beobachtende und zu beschreibende Phänomene beschränken will, so ist zunächst zu fragen, was diese Merkmale theoretisch bedeuten, d. h. welche Relevanz diese Merkmale für die beteiligten Personen sowie für deren Entwick-lungsverlauf haben und ob dies in verschiedenen Kulturen gleich ist. Für solche Validitätsuntersuchungen sind zunächst Validitätskriterien zu erstellen. So ist z. B. zu klären, ob die Häufigkeit und die Art von Körperkontakt zwischen Mut-ter und Kind in verschiedenen Kulturen ein brauchbarer Indikator für eine enge Mutter-Kind-Beziehung ist, oder ob andere Merkmale, z. B. die Responsivität der Mutter gegenüber den kindlichen Bedürfnissen, ein besserer Indikator für die Beziehungsqualität ist, und wie dies kulturangemessen erfasst werden kann (Friedlmeier & Trommsdorff, 2004; Rothbaum, Weisz et al., 2000; Tromms-dorff & Friedlmeier, 1993, 1999).

Empirische Studien belegen, dass in bestimmten Kulturen (z. B. in Japan oder Korea) Entwicklungsbedingungen wie z. B. elterliche Gehorsamsforderungen vom Kind oder Jugendlichen als erwünschte Zeichen elterlicher Zuwendung und Be-sorgnis verstanden werden. In anderen Kulturen (z. B. Deutschland oder USA) werden dagegen elterliche Gehorsamsforderungen, also das "objektiv" gleiche Verhalten, von den Kindern als unerwünschter Eingriff in ihre Selbstständigkeit und als Zurückweisung erlebt (Rohner & Pettengill, 1985; Trommsdorff, 1984, 1985, 1995).

"Objektiv" identische Indikatoren dürfen in verschiedenen Kulturen nicht ohne weiteres als Messvariablen für ein bestimmtes theoretisches Konstrukt verwen-det werden. Vielmehr sind solche Indikatoren zunächst daraufhin zu prüfen, ob sie in Bezug auf die latente Variable (das nicht direkt messbare hypothetische

Konstrukt) messäquivalent sind. Wenn das nicht der Fall ist, so sind andere In-dikatoren zu wählen. Dies gilt ebenso für die Wahl von Messitems in einem Frage-bogen oder im Interview oder für die Wahl von Beobachtungsindikatoren für die Messung beobachteten Verhaltens.

Auch die Bedeutung bestimmter Entwicklungsphänomene, z. B. das Selbstständig-keitsverhalten von Kindern gleichen Entwicklungsalters, kann in verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedlich sein, d. h. für Angehörige der Kulturen etwas Unterschiedliches bedeuten. Untersuchungen zu "Entwicklungsfahrplänen" (de-velopmental timerabies) geben hierzu Aufschluss. Selbstständigkeit in unserem Kulturkreis bedeutet in der Regel, dass das Kind ohne fremde Hilfe handeln kann und insofern erfolgreich sozialisiert ist; in einer sozialorientierten Gesell-schaft kann das gleiche selbstständige Verhalten - z. B. die eigene Wahl eines Berufes oder eines Ehepartners - eine Abwertung der Gruppe und Familie oder

"unreifes" Verhalten bedeuten und wird als Zeichen einer missglückten Soziali-sation verstanden. Ein anderes Beispiel ist die in vielen asiatischen sozialorien-rierten Kulturen hoch bewertete Kontrolle (besonders von negativen) Emotionen als Indikator für "Reife". In individualistischen westlichen Kulturen hingegen gilt der "natürliche" Emotionsausdruck als "authentisch". Entsprechend ist zu fragen, ob in beiden Kulturkontexten unterschiedliche Entwicklungsverläufe von Emotionen erfolgen, z. B. wenn fünfjährige japanische Kinder mehr Unsicher-heit beim Anblick von unerwarteten Emotionen eines Erwachsenen als gleich-altrige deutsche Kinder zeigen (Trommsdorff, 1993a, b); oder wenn achtjährige japanische im Vergleich zu amerikanischen Kindern weniger in der Lage sind, Ärger richtig zu identifizieren (Matsumoto, 1989).

Weiter sind die Situationen (oder Reize), unter denen die Messdaten gewonnen werden, gemäß ihrer Vergleichbarkeit für den gegebenen Entwicklungsstand und die betreffende Kultur zu prüfen. Ähnlich ist auch bei der Wahl von Stich-proben in der jeweiligen Kultur zu klären, wofür die Stichprobe repräsentativ ist

(für eine bestimmte soziale Schicht; für ein bestimmtes Entwicklungsphäno-men o. a.) (Lonner & Berry, 1987; Trommsdorff, 1986, 1989b; Van de Vijver,

1997). Solche Überlegungen sind auch für die Wahl der Kulturen selbst anzu-stellen, um zu klären, welche Indikatoren die gewählten Kulturen hinsichtlich der theoretisch interessierenden Variablen repräsentieren können.

Um die funktionale Äquivalenz der Methoden zu sichern, ist vor allem eine sehr gute Kenntnis der jeweiligen Kulturen erforderlich. Diese kann durch Einbezie-hung einheimischer Wissenschaftler und ausreichender Vorstudien aufgebaut werden. Schließlich ist jedoch - und hier bestehen gleiche methodische Forde-rungen wie in anderen Disziplinen - die Frage der funktionalen Äquivalenz nicht losgelöst von Fragen der Validität der Methoden zu behandeln.

8 Zusammenfassung und Ausblick

Im Dokument Entwicklung im kulturellen Kontext (Seite 54-60)