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Entwicklungsnische: Ethnotheorien, Entwicklungsfahrpläne und -ziele

Im Dokument Entwicklung im kulturellen Kontext (Seite 38-42)

5 Wirkungsfoktoren der Entwicklung im kulturellen Kontext

5.1 Entwicklungsnische: Ethnotheorien, Entwicklungsfahrpläne und -ziele

Die Entwicklung der Persönlichkeit erfolgt im Kontext direkter Erfahrungen und indirekter Wirkungen von kulturellen Modellen und Deutungsschemata. Entspre-chend variieren kulturspezifische Menschenbilder (vgl. Oerter [Menschenbilder], im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"), el-terliche Erziehungstheorien und Vorstellungen vom Kind bzw. von der "Natur"

des Kindes und seiner Entwicklung (vgl. Oasen, im Band "Theorien und Metho-den der kulturvergleichenMetho-den Psychologie"). Solche Theorien beruhen u. a. auf subjektiven Überzeugungen über Person-Umwelt-Beziehungen.

Der Ansatz der "developmental niche" (Entwicklungsnische) (c. M. Super &

Harkness, 1986, 1997) ist ein einflussreiches, konkurrierendes Modell zu den bisher behandelten Ansätzen der kulturellen Wertedimensionen und des sozio-ökonomischen Modells. Der Ansatz der Entwicklungsnische beinhaltet eine kul-tur- und entwicklungspsychologische Sichtweise. Hier wird ausdrücklich abge-lehnt, "Kultur" als Einflussvariable auf Entwicklung zu verstehen. Vielmehr wird die Verwobenheit von Kultur und Entwicklung, vermittelt über proximale Ein-flüsse z. B. elterlicher Erziehungsziele und -praktiken, betont. C. M. Super und Harkness (1997) sowie auch Tudge, Shanahan und Valsiner (1997) integrieren auf eigene Weise Vygotsky's kulturhistorische Theorie und teilweise auch Bron-fenbrenners ökologisches Modell unter Berücksichtigung z. B. elterlicher Ziele und Verhalten und außerfamilialer Bedingungen (Altersgruppe; Sozialstruktur).

Damit werden enge Verknüpfungen ökonomischer, ökologischer und sozial-struktureller Komponenten mit elterlichen Erziehungstheorien, -zielen und -ver-halten, aber keine einfachen Kausalbeziehungen angenommen.

Erziehungstheorien und -verhalten werden teilweise als eine Anpassung an den gegebenen kulturellen Kontext (v gl. das "Goodness-of-fit"-Modell von Lerner

& Lerner, 1983) gesehen. Andererseits wird angenommen, dass in elterlichen

Erziehungstheorien und -überzeugungen kulturelle Bedingungen (Denkweisen, Werthaltungen etc.) wirksam werden, welche die Entwicklung des Kindes be-einflussen. Erziehungstheorien können daher als eine kulturangemessene

Struk-turierung des Entwicklungskontextes für die nächste Generation verstanden wer-den (vgl. Trommsdorff, 2005a, 2006b). Erziehungstheorien, -ziele und -verhalten sind einerseits kulturspezifisch durch ökologische Bedingungen beeinflusst und wirken sich umgekehrt auf den jeweiligen kulturellen Kontext, in dem Kinder aufwachsen, und auf die Entwicklung der Kinder aus. In traditionellen agra-rischen Gesellschaften, z. B. wo Kinder eher einen ökonomischen Wert haben, sind Erziehungsziele eher auf Gehorsam und Anpassung der Kinder ausgerich-tet (Hoffman, 1987; Kagitcibasi, 1996b).

Für C. M. Super und Harkness (1986, 1997) sind elterliche Erziehungstheorien und Erziehungsverhalten neben der physischen und sozialen Umwelt die dritte Komponente der "Entwicklungsnische" (developmental niche) und damit eine wichtige EinRussgröße für die Entwicklung des Kindes. Für C. M. Super und Harkness (1997) sind es vor allem die elterlichen subjektiven Erziehungstheo-rien ("subjective child-rearing theories", "caretaker psychology", "parental eth-notheories", "parent's cultural belief systems", siehe hierzu Oasen, im Band "The-orien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"), die die kulturellen Werte repräsentieren und als Vermittlungsprozesse auf die Entwicklung des Kin-des einwirken. Danach strukturieren Eltern gemäß ihren subjektiven Erziehungs-theorien die Umwelt ihres Kindes und damit teilweise die Bedingungen für des-sen Entwicklung. Entwicklung wird als "guided participation in cultural activity"

verstanden. Zahlreiche empirische Untersuchungen zu subjektiven Theorien (Ethnotheorien) über das Kind und Entwicklungsformen belegen Kulturunter-schiede darin (z. B. Harkness & C. M. Super, 1996; Lillard, 1998; Schwarz, Schäfermeier & Trommsdorff, 2005; Sigel, McGillicuddy- DeLisi & Goodnow, 1992; Trommsdorff & Friedlmeier, 2004).

So wird z. B. in Japan das Kind als von Natur aus "gut" gesehen, als ein Geschenk des Himmels, dem man zumindest in den ersten Lebensjahren alle Wünsche er-füllen muss, bis es gemäß den Lernanforderungen der Institutionen "sozialisiert"

werden darf (vgl. Kojima, 1986). Erziehungsziele, -theorien und -verhalten unter-scheiden sich je nach den in der jeweiligen Kultur vorherrschenden ökologischen Bedingungen (LeVine, 1977) und den kulturellen Werten (Albert, Trommsdorff, Mayer & Schwarz, 2005; Befu, 1986; Friedlmeier, Trommsdorff, Vasconcellos &

Schäfermeier, 2005; Goodnow, 1984; Goodnow & Collins, 1990; Harkness &

C. M. Super, 1996; Kornadt & Trommsdorff, 1984; Mayer, Albert, Trommsdorff

& Schwarz, 2005; McGillicuddy-DeLisi, 1982; Mishra, Mayer, Trommsdorff,

Al-bert & Schwarz, 2005; Sabatier, 1993; Sigel, 1985; Schwarz et al. , 2005; Tromms-dorff & Friedlmeier, 2004; Trommsdorff & Kornadt, 2003).

Diese Ethnotheorien sind keineswegs nur "cold cognitions". Vielmehr wirken sie über ihre emotionale Bedeutung und motivationalen Merkmale direkt und indirekt auf die Entwicklung des Kindes ein (Goodnow & Collins, 1990). In

verschiedenen kulturvergleichenden Untersuchungen belegt Dasen (1988), dass elterliche "naive Entwicklungstheorien" die kognitive und soziale Entwicklung der Kinder beeinflussen (vgl. Dasen, 2003; im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie").

Entsprechend kulturspezifischen Ethnotheorien der Entwicklung variieren Er-ziehungsziele und -verhalten der Eltern (Goodnow & Collins, 1990; Kornadt

& Trommsdorff, 1984, 1990), elterliche Kontrollüberzeugungen (Rothbaum, Weisz & Snyder, 1982; Trommsdorff & Friedlmeier, 1993,2004), Attribuie-rungen auf externale oder internale Bedingungen (Kornadt & Trommsdorff, 1990; Miller, 1984), und "Entwicklungsfahrpläne" (developmental timetables), also zeitliche Vorstellungen darüber, wann ein Kind bestimmte Verhaltenswei-sen zeigen (bzw. nicht mehr zeigen) sollte. Beispielsweise erwarten Mütter ver-schiedener Kulturen, dass ihr Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt selbststän-dig ist. Dieser Zeitpunkt unterscheidet sich jedoch kulturspezifisch (in den USA relativ früh, in Japan relativ spät). Empirische Befunde belegen, dass das jeweils von Müttern erwartete Entwicklungsalter für Selbstständigkeit mit der späteren Leistungsbereitschaft von Jungen zusammenhängt. Dem üblichen kulturellen Standard angemessene Alterserwartungen der Mütter wirken sich günstig auf das Leistungsverhalten von Söhnen aus (siehe Kornadt, in diesem Band). Die dominanten kulturellen Werte beeinflussen also die mütterlichen Erwartungen, ihre Ziele und ihr Verhalten sowie aber auch das Ergebnis ihrer Erziehung. Wenn sich Mütter in Übereinstimmung mit den Werte-Standards verhalten, also nicht

"zu früh" oder "zu spät" von ihrem Sohn Selbstständigkeit fordern, ist wahr-scheinlich, dass sich die Leistungsbereitschaft der Söhne optimal entwickelt.

Mütter wirken je nach ihrer subjektiven kulturell geprägten Erziehungstheorie zwar unterschiedlich auf ihre Kinder ein, die Kinder können jedoch (trotz unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen) durchaus ähnliche kognitive Leis-tungen entwickeln. Conroy, R. D. Hess, Azuma und Kashiwagi (1980) haben dies für die kognitive Entwicklung von Kindern in Japan im Vergleich zu den USA nachgewiesen. Sinha (1985) hat diese Studie in Indien repliziert. Danach verwenden japanische und indische Mütter häufiger als amerikanische Mütter emotionale Appelle gegenüber ihrem Kind, während amerikanische Mütter häu-figer Autoritätsappelle bevorzugen. Trotz dieser kulturspezifisch verschiedenen Sozialisationsbedingungen erwies sich die kognitive Entwicklung der Kinder als sehr ähnlich.

Kulturspezifische Werte in Bezug auf Kinder (value of children) sowie Vorstel-lungen über wünschenswerte Eltern-Kind-Beziehungen gehen in subjektive el-terliche Theorien ein und beeinflussen so den Kontext, in dem Kinder aufWach-sen, sowie die Beziehung, die Eltern zu ihren Kindern aufbauen, was sie von ihnen erwarten und wie sie sich ihnen gegenüber verhalten (Albert et al. , 2005; Kagit-cibasi, 199Gb, 2005; Makoshi & Trommsdorff, 2001; Mayer et al. , 2005; Mishra

et a1. , 2005; Trommsdorff, 2001, 2005b, 2006b; Trommsdorff, Mayer & Al-bert, 2004; Trommsdorff, Zheng & Tardif, 2002).

Das eigentlich besondere an diesem Ansatz der Entwicklungsnische ist, dass die kulturellen Werte insofern in den Blickpunkt rücken, als sie allem Verhalten (der Eltern und der Kinder) eine ku!turspezijische Bedeutung verleihen (Bruner, 1990).

Strenge Erziehung kann danach sehr Unterschiedliches bedeuten, je nachdem in welchem Entwicklungsalter und in welchem Kontext Strenge erfolgt. So wer-den in vielen traditionellen Kulturen Kinder in wer-den ersten Lebensjahren kaum kontrolliert; vielmehr werden sie verwöhnt, bzw. kaum Bedürfniseinschränkun-gen ausgesetzt, weil dies den kulturellen Überzeugungen über die Natur des Kindes entspricht. Dann setzen plötzlich strenge Erziehungspraktiken ein (die manchmal durch entsprechende Rituale sowie auch durch körperliche Strafen vorbereitet werden) (vg1. Chao & Tseng, 2002; Granzberg, 1973). Allerdings er-folgt nach Lewis (1989) in Japan der Übergang zum disziplinierten Lernen inso-fern weniger als selbstwertbelastender plötzlicher Einschnitt, weil der Lehrer die Disziplinierung der Schüler den Altersgleichen überantwortet und selbst keine autoritäre Kontrolle ausübt. Ein anderes Beispiel ist die oben genannte Selbst-ständigkeitserziehung: sie kann sich in einigen Kulturen positiv in anderen eher negativ auf die Leistungsentwicklung der Kinder auswirken, je nachdem ob das jeweilige elterliche Erziehungsverhalten vom kulturellen Standard in Bezug auf Selbstständigkeit von Kindern abweicht (vgl. Kornadt, in diesem Band; Kornadt, Eckensberger & Emminghaus, 1980; Winterbattam, 1953).

So ist es also notwendig, die kulturspezifisch tradierten Werthaltungen, Entwick-lungsziele und -praktiken, einschließlich der Entwicklungsfahrpläne (zu wel-chem Zeitpunkt Kinder ein bestimmtes Verhalten zeigen sollten) zu berücksich-tigen, um die Bedeutung der von dem Kind erfahrenen kulturangemessenen oder abweichenden Sozialisationsbedingungen und deren Folgen für die Entwick-lung der Kinder einschätzen zu können (vg1. Kornadt & Trommsdorff, 1984;

Trommsdorff & Friedlmeier, 2004; Trommsdarff & Kornadt, 2003).

In ihrer Theorie der Entwicklungsnische betonen C. M. Super und Harkness (1986, 1997) die Bedeutung des Kontextes für die menschliche Entwicklung. Sie verstehen jedoch Entwicklung auch als ein durch biologische Bedingungen (Be-dürfnisse etc.) angeregten Prozess, der im Kontext einer "soziokulturellen Nische"

verläuft. Dieser Kontext zeigt an, unter welchen psychischen und sozialen Ge-gebenheiten das Kind aufWächst, also z. B. welche kulturell regulierten Normen der Kindererziehung, welche Werthaltungen, Überzeugungen und naive Theorien der Erziehenden bestehen und auf die Entwicklung des Kindes einwirken.

Allerdings bleiben in dem Modell der Entwicklungsnische einige wesentlichen Aspekte einer kontextuell orientierten Entwicklungstheorie unberücksichtigt.

Dies sind vor allem die Merkmale der Kontexte jenseits der proximalen elter-lichen Erziehung, die ja Bronfenbrenner (1979) in seinem Entwicklungsmodell präzisiert hat. Weiter berücksichtigt das Modell der Entwicklungsnische nur un-zureichend die Wirkungsrichtung und -prozesse der Aspekte der Entwicklungs-nische. Vor allem bleiben die eigentlichen Prozesse der Wirkung kulturspezifi-scher Deutungssysteme unklar. Diese Defizite greifen wir im Folgenden auf.

5.2 Person-Umwelt-Beziehungen: Independenz und

Im Dokument Entwicklung im kulturellen Kontext (Seite 38-42)