• Keine Ergebnisse gefunden

Entwicklung im kulturellen Kontext

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Entwicklung im kulturellen Kontext"

Copied!
87
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Entwicklung im kulturellen Kontext Gisela Trommsdorff

1 Einführung

Eine kulturvergleichende Entwicldungspsychologie ist bisher nicht etabliert. Ein Grund dafür ist, dass die kulturvergleichende Psychologie nicht eigentlich ent- wicldungspsychologisch orientiert ist (Valsiner & Lawrence, 1997). Ein anderer Grund mag darin liegen, dass Zusammenhänge zwischen Kultur und Entwick- lung schwer empirisch zu untersuchen sind. Eine gängige aber nicht unumstrit- tene Sichtweise auf Kultur und Entwicldung ist, "Kultur" als "unabhängige Va- riable" und "Entwicldung" als "abhängige Variable" zu verstehen, wie das z. B.

in dem ökologischen Ansatz von B. B. Whiting und

J.

W M. Whiting (1975) der Fall ist. Eine ganz andere Sichtweise wird von Bruner (1996) nahegelegt, der Kultur und Entwicldung als unauflöslich miteinander verbundene Prozesse be- trachtet (vgl. auch K. E. Grossmann & K. Grossmann, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"; Rogoff, 2003). In diesem Beitrag soll versucht werden, diese verschiedenen Sichtweisen unter Berück- sichtigung einflussreicher theoretischer Ansätze der menschlichen Entwicldung zu behandeln. Dabei werden einige zentrale Themen, Befunde und Methoden der kulturvergleichenden Entwicldungspsychologie aus historischer Sicht und aufGtund der aktuellen Forschungslage diskutiert; abschließend wird versucht, die unvereinbar erscheinenden theoretische Ansätze der kulturvergleichenden und der kulturpsychologischen Entwicldungspsychologie zu integrieren.

Zahlreiche kulturvergleichende Studien berichten über Unterschiede im Den- ken und Handeln von Menschen aus verschiedenen Kulturen, ohne jedoch der Frage nachzugehen, wie diese individuellen Unterschiede in der Ontogenese entstanden sind. Bereits die Tatsache, dass Menschen aus verschiedenen Kultu- ren trotz anscheinend gleicher Situationen unterschiedliches Verhalten aufwei-

Gisela Trommsdorff ... (eds.). Göttingen: Hogrefe, 2007, S. IX-XVII

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-83081

URL: http://kops.ub.uni-konstanz.de/volltexte/2009/8308/

(2)

sen, wird häufig als Beleg für den Einfluss von Kultur gesehen; und wenn sich Verhaltensweisen von Menschen aus verschiedenen Kulturen nicht unterschei- den, so gilt das als Beleg für biologisch fundierte Universalien. Eine entwick- lungspsychologische Sicht auf individuelle Unterschiede im Verhalten könnte jedoch spezifizieren, wie solche Unterschiede und Ähnlichkeiten im Verhalten entstehen, und in wie kulturelle Kontexte dabei wirksam sind. Eine Theorie über Beziehungen zwischen individuellem Verhalten und bestimmten Kultur- merkmalen müsste entsprechend im Kulturvergleich unter Einbeziehung ent- wicklungspsychologischer und kulturpsychologischer Annahmen präzisiert und empirisch geprüft werden.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht wäre es kurzschlüssig, direkte Zusam- menhänge zwischen Kultur und individuellem Verhalten zu vermuten, schon weil Entwicklung als ein die Lebensspanne übergreifender Prozess in verschiedenen Kontexten und auch in verschiedenen Kulturen erfolgen kann. Außerdem kann der kulturelle Kontext selbst seinerseits wiederum ein Ergebnis menschlichen Handelns und menschlicher Entwicklung sein, der nicht als statisch vorge- gebener und schlicht auf einige relevante EinAussfaktoren reduzierter Varia- blenkomplex behandelt werden kann. Kultur als Variablenkomplex in verglei- chenden Studien zu berücksichtigen ist erst sinnvoll, wenn bei der Vorbereitung, Durchführung und Ausführung der entsprechenden Studien auch die jeweils kulturelle Bedeutung der Vorgehensweise und der empirischen Befunde berück- sichtigt wird. Damit sind auch Entwicklungsbedingungen und -phänomene erst in ihrer jeweils spezifischen kulturellen Bedeutung für die kulturvergleichende Forschung relevant. Dies wird häufig vernachlässigt. Umso mehr soll hier im Sinne von Bruner (1996) die Wichtigkeit von "cultural meaning" (kulturelle Be- deutung), d. h. dem kulturellen Bedeurungszusammenhang empirischer Daten, betont werden.

Die Entwicklungspsychologie befasst sich mit Phänomenen und Prozessen der menschlichen Entwicklung, um die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Ent- wicklung menschlicher Funktionssysteme, d. h. der Entwicklung des Denkens, Fühlens und Verhaltens und deren Zusammenhänge aufzuklären. Damit ver- bunden ist die Untersuchung der differenziellen Entwicklung innerhalb von Kulturen, um zu prüfen, unter welchen Bedingungen interindividuelle Unter- schiede im Handeln entstehen und ob diese über die Lebensspanne stabil blei- ben oder sich verändern. Eine kulturvergleichende Entwicklungspsychologie hingegen weitet ihren Untersuchungsbereich aus auch auf das Studium der dif- ferenziellen Entwicklung in verschiedenen Kulturen. Damit wird dann interes- sant, wie die Entwicklung innerhalb, aber auch zwischen Kulturen verläuft. Dabei kann sich durchaus zeigen, dass die intrakulturelle Varianz von Verhalten in man- chen Bereichen geringer und in anderen Bereichen größer ist als die interkultu- relle Varianz.

(3)

Ein zentrales Thema der Entwicklungspsychologie ist die Frage nach der Kon- tinuität und dem Wandel in der Entwicklung. Damit hängt die Frage zusam- men, ob die Entwicklung im Prinzip so zu sehen ist, dass kognitive, soziale, motivationale und emotionale Grundstrukturen im Handeln und in Lern- stilen bereits in früher Kindheit festgelegt werden, und ob auf deren Grund- lage spätere Erfahrungen verarbeitet und sinnvoll integriert werden, so dass sich daraus eine Kontinuität im Sinne von gesetzmäßigem Wandel ergibt. Oder be- steht Kontinuität in der Einflusswirksamkeit von Entwicklungsbedingungen?

Oder bedeutet Entwicklung, dass immer wieder kritische Brüche auftreten, die einerseits in einem genetischen Entwicklungsprogramm angelegt sind, und/

oder andererseits unter spezifischen Umweltbedingungen eintreten können, so dass es zu Diskontinuitäten bzw. tiefgreifenden Um- und Neustrukturierun- gen kommt?

Wenn man zudem davon ausgeht, dass Entwicklung in Grenzen multidirektio- nal und plastisch ist und immer mit Prozessen der Passung an Umweltbedin- gungen verbunden ist, erscheint es unerlässlich, menschliche Entwicklung im jeweils gegebenen kulturellen Kontext zu untersuchen. Die grundlegende Frage der Entwicklungspsychologie nach den Bedingungen der Entwicklung müsste daher in einem kulturvergleichenden, die Lebensspanne umfassenden Ansatz untersucht werden.

Da die meisten entwicklungspsychologischen Studien bisher in westlichen Kulturen und nicht in der "Mehrheitswelt" nicht-westlicher Kulturen durch- geführt worden sind, stellen sich für die Entwicklungspsychologie einige Fra- gen, die aus kulturinformierter Sicht zu beantworten wären. Die zentrale Frage der Entwicklungspsychologie ist, ob die in einem Kulturkontext getesteten Entwicklungstheorien und die empirischen entwicklungspsychologischen Be- funde für Menschen, die in ganz anderen kulturellen Kontexten aufwachsen, generalisierbar sind, z. B. ob alle Eltern versuchen, ihre Kinder gemäß den kulturell gegebenen Erwartungen zu erziehen, oder ob Entwicklungsphäno- mene wie Pubertät universell beobachtbar sind. Um diese Frage zu beantwor- ten, ist ein kulturinformiertes methodisches Vorgehen erforderlich, das auf systematischen Kulturvergleichen unter Einbeziehung von Kulturspezifika be- ruht (vgl. Poortinga sowie Van de Vijver, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"). Durch Kulturvergleiche von Entwick- lungsphänomenen und -prozessen können ethnozentrische Voreingenommen- heiten aufgedeckt und entsprechende Theorien und Methoden verbessert wer- den.

Für die Entwicklungspsychologie sind Kulturvergleiche auch darum so wich- tig, weil sich theoretisch relevante Entwicklungsbedingungen (z. B. Familien- größe, Erziehungsverhalten, schulische Einflüsse) aus methodischen und ethi-

(4)

sehen Gründen nicht experimentell manipulieren lassen. Durch quasi-experi- mentelle Untersuchungen im Kulturvergleich kann eine systematische Variation relevanter Entwicklungsbedingungen und -phänomene und damit die Erhöhung von Varianz erfolgen. Damit ist gemeint eine Erweiterung relevanter qualitativ verschiedener Entwicklungsbedingungen (z. B. Familiensysteme; vgl. Nauck, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie") oder verschiedener Entwicklungsphänomene (z. B. Aggressivität; s. Kornadt, in die- sem Band) oder eine Erweiterung quantitativ messbarer Bedingungen (z. B.

unterschiedliche Vielzahl von Anregungsbedingungen; Anzahl von Familienmit- gliedern). Durch Kulturvergleiche lassen sich im Sinne eines quasi-experimentel- len Vorgehens manchmal die in einer Kultur konfundierten Variablen isolieren (z. B. gleichzeitiges Auftreten von formaler Schulbildung und westlichen Lernin- halten, vgl. Trommsdorff & Oasen, 2001), um deren jeweilige und gemeinsame Funktion, z. B. für die kognitive Entwicklung, zu prüfen. Damit kann schließlich die über einen Kulturkreis hinausgehende Gültigkeit entwicklungspsychologi- scher Theorien getestet und neben universellen können auch kulturspezifische und bisher übersehene Zusammenhänge aufgeklärt werden, die je nach Kultur- kontext eine unterschiedliche Bedeutung haben. Besonders aufschlussreich ist es, wenn die Methode des Kulturvergleichs angewendet wird auf Fragen der Wech- selwirkungen zwischen individueller Entwicklung und soziokulturellem Wandel.

Denn beide, die individuelle Entwicklung und die Kultur, sind keine statischen Phänomene. Dieses Forschungsziel erfordert allerdings, den Kulturvergleich mit Längsschnittstudien zu verbinden und dabei verschiedene Analyseebenen (auf der Individual- und auf der Mikro-, Meso- und Makroebene) (vgl. Bronfenbren- ner, 1989; Oasen, 2003; Nauck, im Band "Theorien und Methoden der kultur- vergleichenden Psychologie") zu berücksichtigen.

Daher konzentrieren sich die zentralen Fragen, welche die Entwicklungspsy- chologie an die kulturvergleichende Psychologie stellt, darauf, unter welchen Bedingungen Menschen verschiedener Kulturen aufwachsen, welche Entwick- lungsphänomene in anderen Kulturen auftreten und welche Entwicklungspro- zesse dabei wirksam sind. Diese aus ontogenetischer Sicht zu klärenden Fragen dienen dem Ziel, entwicklungspsychologische Theorien auf ihre Universalität und Generalisierbarkeit zu testen und unter Einbeziehung von Kultur entspre- chend zu modifizieren.

Nachfolgend wird Entwicklung im kulturellen Kontext - ohne die in anderen Kapiteln dargelegten Einzelheiten zu wiederholen - unter folgenden Aspekten behandelt:

Universalien und Kulturspezifika in der Entwicklung.

- Kulturdimensionen als Ausgangspunkt kulturvergleichender Forschung.

(5)

- Kultur als Kontext für Entwicklung.

Wirkungsfaktoren der Entwicklung im kulturellen Kontext.

Defizite der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie.

- Methoden kulturvergleichender Entwicklungspsychologie.

- Zusammenfassung und Ausblick.

2 Universalien und KulturspeziJika in der Entwicklung 2.1 Ausgangsthesen zu Universalien in der Entwicklung

Sind Entwicklungsphänomene und -prozesse in allen Kulturen gleich oder sind Kulturbesonderheiten zu berücksichtigen, die auf Grund bestimm ter kultureller Bedingungen erfolgen? Dies ist eine der Kernfragen einer kulturvergleichend ausgerichteten Entwicklungspsychologie.

Die seit der frühen Geschichte der Psychologie gestellte Frage, ob menschliches Handeln biologisch oder durch Umweltbedingungen bestimmt ist, hat als An- lage-Umwelt-Debatte (vgl. Abschnitt 2.4) auch in der Entwicklungspsychologie zunächst zu einfachen Polarisierungen geführt. Die Anhänger der Anlage-These sehen durch Kulturvergleiche die universelle Gültigkeit intern gesteuerter Ge- setzmäßigkeiten für die Entwicklung des Menschen (und der Menschheit) be- stätigt (Eibl-Eibesfeld, 1975). Die Anhänger der Umwelt-These sehen auf Grund von kulturvergleichenden Studien die Beeinflussbarkeit der Entwicklung durch externe Bedingungen belegt (Mead, 1928). Hier werden Gesetzmäßigkeiten der Wirkung von Umweltbedingungen auf die Entwicklung angenommen, etwa im Sinne von lerntheoretischen Annahmen. Forscher, die sowohl die Anlage- als auch die Umweltbedingungen von Entwicklung und dabei die hohe Plastizität der Entwicklung über die Lebensspanne ernst nehmen (z. B. Baltes & Baltes, 1990), bemühen sich um die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten im Entwick- lungsprozess, d. h. um die empirische Prüfung universeller Grundlagen der menschlichen Entwicklung.

Schließlich sind die Ansätze zu nennen, die keine einfachen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung im Sinne von Einflüssen "unabhängiger Variable" (Entwick- lungsbedingungen) auf "abhängige Variable" (Entwicklungsphänomen) oder von linearen Zusammenhängen sehen und eine nomothetische Vorgehensweise ab- lehnen, da sie davon ausgehen, dass alle Entwicklung ein Prozess der Konstruk- tion der eigenen Entwicklung ist und nur durch idiografische Beschreibungen und subjektives Verstehen jeweils unterschiedlicher individueller Verläufe zu er- fassen ist. Auf diese Ansätze der kulturvergleichenden und kulturpsychologischen

(6)

Forschung wird später genauer eingegangen (vgl. auch Boesch & Straub, K. E.

Grossmann & K. Grossmann sowie Poortinga, im Band "Theorien und Metho- den der kulturvergleichenden Psychologie").

2.2 Theorien zum Entwicklungsablauf

Universelle Wirkungsgesetze und Entwicklungssequenzen werden u. a. in der psychoanalytischen Theorie von Freud, der Theorie von Erikson (z. B. 1968), der epistemologischen Theorie der geistigen Entwicklung von Piaget (1976) und der Stufentheorie des moralischen Denkens von Kohlberg (1983) angenommen.

Universelle Wirkungsgesetze und Entwicklungsfolgen werden desweiteren in der ethologisch fundierten Bindungstheorie angenommen (Bowlby, 1969) (vgl.

K. E. Grossmann & K. Grossmann, im Band "Theorien und Methoden der kul- turvergleichenden Psychologie"). Hier handelt es sich jeweils um Annahmen über interne, gewissermaßen in der Anlage des Menschen "programmierte"

Prozesse, welche die Entwicklung in einer bestimmten Richtung und Ausprä- gung und die dafür notwendigen Bedingungen festlegen.

Der psychoanalytische Ansatz geht von der Annahme der Universalität von Trie- ben als unbewussten Determinanten menschlichen Verhaltens und von der An- nahme universeller Konstellationen für deren Befriedigung sowie von einer un- veränderlichen Phasenabfolge in der Ontogenese aus. Dabei kommt jedoch der Wirkung frühkindlicher Erfahrungen auf die Entwicklung der Persönlich- keit eine große Bedeutung zu. Auch geht Freud von kulturellen Einflüssen auf menschliches Verhalten aus (vgl. "Totem und Tabu" von Freud, 1913) (vgl. dazu Kornadt, in diesem Band).

Der psychoanalytische Ansatz hat in besonderem Maße die amerikanische Kul- turanthropologie angeregt. Dies gilt auch für die "Culture and Personality"- Schule, die sich eigentlich als lern theoretisch fundiert verstand, aber auf psycho- analytische Annahmen zurückgriff. Unter dem Einfluss von Freud hat Mali- nowski (1923) seine Beobachtungen bei den Trobriandern ausgewertet und die schwach ausgeprägte Aggressivität von Jungen gegenüber dem Vater in ma- trilinealen Familien als Indikator für einen geringen Ödipuskonflikt gedeutet.

In diesen Kulruren übernimmt der Onkel (der Bruder der Frau) die wesentlichen formalen Aufgaben in der Familie und wird daher eher Objekt der Aggression der Jungen als deren leiblicher Vater. Für Segall (1988) war eine damit zusam- menhängende Frage, ob in Kulruren, wo eine enge emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind auch durch Schlaf arrangements gefördert wird, Jungen beson- dere Probleme der Loslösung von der Mutter haben, wenn nicht besondere Ri- tuale für männliche Jugendliche praktiziert werden. Frühe kulturvergleichende Untersuchungen von J. W M. Whiting und Child (1953) beruhten ebenfalls

(7)

auf psychoanalytischen Annahmen zur Wirkung frühkindlicher Triebbefriedi- gung bzw. Frustration. Sie wiesen auf Grundlage der Daten der Human Real- tions Area Files (HRAF) nach, dass frühkindliche orale Erfahrungen beim Ab- stillen und in der Sauberkeitserziehung die weitere Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen.

Die ebenfalls auf psychoanalytischen Annahmen beruhende Entwicklungsthe- orie von Erikson (z. B. 1950, 1%8) nimmt eine stabile Abfolge von Entwick- lungsstufen an, wobei das Jugendalter durch Krisen gekennzeichnet ist (vgl.

Schwarz, in diesem Band). Demgegenüber hat Margaret Mead (1928) durch Studien in einer nicht westlichen Kultur nachzuweisen versucht, dass Krisen im Jugendalter kulturabhängig und bei weiblichen Jugendlichen auf Samoa nicht zu beobachten sind (zur Kritik an Mead vgl. Freeman, 1983; vgl. Kornadt, in diesem Band). Probleme der Operationalisierung der Konzepte von Freud und Erikson schränken im Übrigen eine empirische (auch kulturvergleichende) Prü- fung ihrer großen Theorien ein.

Stufentheorien zur kognitiven und moralischen Entwicklung gehen von einer uni- versellen Stufenabfolge in der Entwicklung aus. Gemäß der Theorie der gene- tischen Epistemologie von Piaget wird die kognitive Entwicklung als invariante Abfolge von Stufen verstanden, die irreversibel ist. Kulturvergleichende Studien haben die Theorie von Piaget zur kognitiven und von Kohlberg zur moralischen Entwicklung in vielen Ländern unter verschiedenen Fragestellungen aufgegrif- fen und empirische Befunde haben zu Modifikationen geführt (vgl. Keller &

Krettenauer, in diesem Band; Mishra & Oasen, 2005). Dabei wurde jedoch die Universalität der Entwicklung des Denkens in den ersten Lebensjahren des Kin- des, einschließlich der Phänomene des Egozentrismus und der ersten Stufen der moralischen Entwicklung, weitgehend bestätigt (vgl. Übersicht von Oasen &

Heron, 1981). Allerdings sind je nach kulturellen Bedingungen die dann fol- genden Stufen zu differenzieren (vgl. die Übersicht von Snarey, 1985). Das mag u. a. damit zusammenhängen, dass die Inhalte von Anforderungen an das Pro- blemlösen und an moralisches Verhalten kulturell verschieden sind. Darauf wei- sen schon die frühen Arbeiten von Bronfenbrenner (1970) zu moralischen Ur- teilen russischer und amerikanischer Kinder (z. B. die Bereitschaft zu lügen) hin.

Je nachdem, wer kulturspezifisch als relevante Bezugsgruppe wirksam ist (Peers oder Erwachsene), beeinflusst das moralische Urteil. Die moralische Entwick- lung nordamerikanischer und hinduistischer Personen verschiedenen Entwick- lungsalters weist erhebliche Unterschiede in Bezug auf die Beantwortung der moralischen Dilemmata von Kohlberg auf. Dies hängt offensichtlich mit unter- schiedlichen kulturellen Anforderungen zusammen (vgl. Miller, 1984; Shwe- der, 1991). In der Hindu-Kultur wird z. B. gelernt, die soziale Gruppe und die Pflichten ihr gegenüber zunehmend in das moralische Denken einzubeziehen (vgl. Chakkarath, 2005, im Band "Theorien und Methoden der kulturverglei-

(8)

chenden Psychologie"). Daher wird gerade nicht, wie in der nordamerikanischen Kultur, bei "reiferer" Entwicklung individuelle Unabhängigkeit (Autonomie) im moralischen Urteilen gezeigt (vgl. Snarey, 1985) (vgl. Keller & Krettenauer, in diesem Band).

2.3 Ethologische Ansätze

Typischerweise werden bei der Beschreibung universeller Entwicklungsphäno- mene im Sozialverhalten häufig ethologische und entwicklungspsychologische Ansätze verknüpft (vgl. K. E. Grossmann & K. Grossmann, im Band "Theo- rien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"). Dies gilt z. B. für McGrew (1972) in seiner Untersuchung zur motorischen und sozialen Ent- wicklung von Vorschulkindern. Er beobachtete nonverbale Reaktionen (Mimik, Gestik, Körperhaltung) von 3-und 4-Jährigen und setzte diese Beobachtungen in Beziehung zum Verhalten nicht menschlicher Primaten. In seinen verglei- chenden ethologischen Forschungen weist Smith (1975) im Verhalten von Vor- schulkindern universell gleiche Verhaltens merkmale nach, und zwar in der non- verbalen Kommunikation (Lächeln, Körperhaltung etc.) und in der sozialen Entwicklung (Bindung und Aggression, Neugierverhalten und Spiel). Auch im Verhalten Erwachsener zeigen sich bestimmte Universalien, z. B. in der sozia- len Organisation der Familie (Inzesttabu) oder in der ständigen Versorgung von Kleinkindern (Füttern, Halten, Tragen).

Je jünger die Kinder sind, desto eher lassen sich interkulturelle Gemeinsam- keiten im Verhalten nachweisen. Dies belegt auch die kulturvergleichende Studie von Freedman (1974) zum Verhalten von Kleinkindern in verschie- denen kulturellen Kontexten. 24 chinesisch-amerikanische und 24 europä- isch-amerikanische Neugeborene (jeweils zweite bis vierte Generation) wurden in Bezug auf 28 allgemeine Verhaltensmerkmale zur Messung von Tempera- ment, Reifung des Zentralnervensystems, motorischer, sensorischer und sozia- ler Entwicklung untersucht. Die beiden ethnischen Gruppen unterschieden sich zwar signifikant in Bezug auf die Temperamentsdimension, so waren die chinesisch-amerikanischen Kinder weniger störbar als die europäisch-amerika- nischen; in Bezug auf alle anderen Merkmale bestanden jedoch keine Unter- schiede.

Offenbar bestehen universell biologisch verankerte Entwicklungsprozesse, die in den ersten Lebenswochen relativ gleich sind, dann aber sehr bald interindi- viduell und interkulturell variieren. Zumindest wird die Universalität der ersten sensu-motorischen Phase nach vorliegenden kulturvergleichenden Studien nicht bezweifelt (Oasen & Heron, 1981).

(9)

Die Bindungsforschung (Bowlby, 1973) geht von einem universell für die Ent- wicklung norwendigen Bedürfnis nach Bindung aus. Es wird angenommen, dass mit dem Bindungsmotiv das Sicherheits- und das Neugiermotiv zusam- menhängen und universell wirksam sind. Diese Annahmen lassen sich im Rah- men des phylogenetischen Ansatzes im Sinne von Bischof (1989) oder nach Bowlby (1973) psychoanalytisch einordnen. Das mit dem Bindungsverhalten verbundene Sicherheitsbedürfnis (Aufsuchen mütterlicher Geborgenheit) ein- erseits und das Erkundungsbedürfnis (Aufsuchen neuer Objekte zur Explora- tion und Erfahrungsgewinn) andererseits (vgl. K. E. Grossmann, K. Grossmann

& Keppler, 2005) haben Konsequenzen für die weitere kognitive und soziale Enrwicklung.

Kulturvergleichende Studien zeigen, dass innerhalb und zwischen Kulturen un- terschiedliche Verteilungen von sicher, unsicher und ambivalent gebundenen Kindern bestehen (z. B. in amerikanischen, deutschen, japanischen, israelischen Stichproben). Allerdings ist der relative Anteil sicher gebundener Kinder uni- versell am größten (vgl. Bretherton, 1985; K. E. Grossmann & K. Grossmann,

1990; Sagi & Van IJzendoorn, 1991; Meta-Analysen von Van IJzendoorn & Sagi, 1999).

Enrwicklungstheoretisch interessant sind diese Beschreibungen von Phänome- nen eigentlich erst, wenn funktionale Annahmen über universelle Enrwicklungs- prozesse gemacht und geprüft werden. Nach der Bindungstheorie enrwickelt das Kind je nach Feinfühligkeit der Mutter bzw. der primären Bezugsperson (Sen- sitivität in Bezug auf die Bedürfnisse des Kindes) ein bestimmtes Deutungs- schema (working model) über sich selbst und seine Umwelt, das Grundlage für seine weitere Enrwicklung über die Lebensspanne ist (Ainsworth, 1989; Main, Kaplan & Cassidy, 1985). Feinfühlige Bindungspersonen, die dem Kind Un- terstützung, Sicherheit und Anregung (in einer entsprechenden frühen Um- welt) vermitteln, fördern die körperliche, soziale, kognitive und emotionale Enrwicklung des Kindes (vgl. Kornadt, in diesem Band). Die wenigen kultur- vergleichenden Studien belegen diese Zusammenhänge (Van IJzendoorn & Sagi,

1999).

Im Übrigen schließt der Nachweis der Universalität von Entstehungsbedingun- gen und der Wirkung des Bindungsverhaltens nicht aus, dass kulturspezifisch unterschiedliche Phänomene von sozialer Bindung und engen Beziehungen auf- treten können (Rothbaum, Weisz, Pott, Miyake & Morelli, 2000; Trommsdorff, 1991), und dass z. B. die Sensitivität der Bindungsperson, eine wichtige Ent- wicklungsbedingung von Bindungssicherheit, durch kulturspezifisch unterschied- liche Verhaltensweisen charakterisiert sein kann (Rothbaum & Morelli, 2005;

Rothbaum, Weisz, er al., 2000). So äußert sich z. B. sensitives Verhalten der Mut-

(10)

ter (Feinfühligkeit) in Japan nicht reaktiv wie in westlichen Kulturen sondern proaktiv. Japanische Mütter antizipieren die Bedürfnisse ihres Kindes und gehen daher frühzeitig darauf ein, während deutsche Mütter erst auf beobachtbares Verhalten des Kindes reagieren. Zudem hat die kulturspezifische Form der Sen- sitivität japanischer und deutscher Mütter eine jeweils andere Wirkung auf das Verhalten ihrer Kinder, wenn diese negative Emotionen erleben. Japanische Müt- ter können die negativen Emotionen ihres Kindes schneller und erfolgreicher reduzieren; andererseits sind japanische Vorschulkinder weniger "selbstständig"

in der Emotionsregulation als deutsche Kinder (Friedlmeier & Trommsdorff, 1998,2001, 2002, 2005; Trommsdorff & Friedlmeier, 1999).

Sowohl die Methoden der Messung von mütterlicher Sensitivität als auch der Messung des Bindungsverhaltens des Kindes müssen daher auf ihre jeweilige kulturspezifische Angemessenheit diskutiert werden. So wird gegenwärtig dis- kutiert (u. a. Van IJzendoorn & Sagi, 1999), ob Kulturunterschiede im Bin- dungsverhalten von Kleinkindern durch die kulturunangemessene Verwendung der klassischen Methode (Strange Situation Test) entstehen (vgl. Re-Analysen von K. Grossmann & K. E. Grossmann, 1996 an japanischen Kindern; und Metaanalysen von Van IJ zendoorn & Sagi, 1999).

2.4 Kultur und Natur in der Entwicklung:

Die Anlage-Umwelt-Kontroverse aus kulturvergleichender Sicht

2.4.1 Frühe Studien: Annahme unidirektionaler Einflüsse

Die Anlage-Umwelt-Kontroverse hat schon früh die Anthropologie und später die kulturvergleichende Entwicklungspsychologie beeinflusst. Franz Boas (1949), der eigentliche Begründer der Kulturanthropologie, hatte zunächst kurze Zeit bei Wilhelm Wundt, dem "Vater" der Psychologie, der später mit seiner mehrbändi- gen "Völkerpsychologie" auch den Grundstein einer Kulturpsychologie gelegt hat, in dessen berühmtem Laboratorium in Leipzig gearbeitet. Wundt war unzufrie- den mit der Beschränkung der Psychologie auf die experimentelle Methode und wandte sich in seiner (in der Psychologie kaum beachteten) Völkerpsychologie der Beschreibung menschlichen Verhaltens unter Einfluss kultureller Bedingun- gen zu. Mit Boas und seiner Schülerin Margaret Mead gewann die These der Umweltabhängigkeit der menschlichen Entwicklung in der Anthropologie und in der Psychologie an Einfluss (vgl. Kornadt, in diesem Band, sowie Straub, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"). Ein wichtiger Beitrag der frühen anthropologischen Arbeiten zu Kulmr und Persön- lichkeit für die Entwicklungspsychologie war, die Wirkung einzelner Umwelt- bedingungen auf die Persönlichkeitsentwicklung im kulturellen Kontext empi- risch zu prüfen, wobei lange Zeit eine einseitige Sichtweise vorherrschte.

(11)

2.4.2 Wechselwirkungen von Kultur und Persönlichkeit

Ideologische Voreingenommenheiten haben bei der Anlage-Umwelt-Debatte immer wieder zu vergröberten Verallgemeinerungen geführt. Heute wird die Anlage-Umwelt-Kontroverse unter der Fragestellung der Beziehungen zwischen genetischen und soziokulturellen Bedingungen der Entwicklung auch unter evo- lutionspsychologischen (0. M. Buss, 1999; Keller, 1997) und soziobiologischen, ethologischen Aspekten diskutiert (z. B. Dawkins, 1976; Poortinga, 1977; Sah- lins, 1977). Damit wird über eine einfache Dichotomisierung von Kultur und Individuum und auch über die Annahme von engen Wechselwirkungen zwi- schen Individuum und Kultur insofern hinausgegangen, als ein fortlaufendes Zusammenwirken phylogenetischer Programme und kultureller Faktoren an- genommen wird. Der klassische ethologische Ansatz betont Universalien der menschlichen Entwicklung und kulturunabhängiges adaptives Verhalten in na- türlichen Kontexten. Moderne Ethologen, die in der Verknüpfung von Entwick- lungspsychologie und Ethologie eine fruchtbare theoretische Weiterführung sehen, bestreiten nicht mehr, dass soziales Verhalten durch Lernen in der jewei- ligen Kultur vermittelt ist. Sie betonen aber, dass dies durch die genetischen Potenziale mit beeinflusst wird (vgl. E. H. Hess, 1970; K. E. Grossmann &

K. Grossmann, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"). Einerseits wird in der Ethologie heute festgestellt, dass Umwelt- faktoren soziales Verhalten, das früher als angeboren verstanden wurde, mit be- einflussen. Andererseits gehen die Lern- und die Entwicklungspsychologie heute davon aus, dass bestimmte Lernergebnisse auf Grund angeborener Schemata einfacher aufgebaut werden können als andere.

Damit wird die menschliche Entwicklung heute als ein Ergebnis von Wechsel- wirkungen zwischen genetischen und soziokulturellen Bedingungen verstanden;

dabei wird angenommen, dass im Sinne der "Passung" das Individuum entwick- lungsrelevante Umweltbedingungen mit wachsendem Alter aktiv auswählt und so seine Umwelt und seine eigene Entwicklung mitgestaltet (Scarr & Weinberg, 1983). Eine grundlegende Frage in der Entwicklungspsychologie beschäftigt sich also damit, inwieweit die individuelle Entwicklung durch ein Zusammenwirken interner Reifungsprozesse und externer Umwelteinflüsse bestimmt wird. Diese Einflüsse sind offenbar interaktiv so verschränkt, dass es schwierig ist, ihren je- weiligen Anteil zu bestimmen. Durch Kulturvergleiche lassen sich jedoch zumin- dest Probleme dieser Verschränkungen erkennen: Ideal wäre natürlich eine kul- turvergleichende Zwillingsforschung.

Eine Möglichkeit, primär genetisch bedingte Unterschiede in der Entwicklung zu untersuchen, könnte auch darin bestehen, möglichst früh individuelle Unter- schiede im Temperament zu erfassen, auch wenn diese nicht mehr ausschließ- lich als Ergebnis genetischer Bedingungen, sondern auch als Reaktion auf Um-

(12)

welrbedingungen angesehen werden müssen (A. H. Buss & Plomin, 1984).

Unter dem Aspekt der Rolle von genetischen und kulturellen Einflüssen sind Studien zur motorischen Aktivität bei Neugeborenen verschiedener Kulturen aufschlussreich (Bornstein 1989,1991). Hier wurde bei japanischen und nord- amerikanischen Stichproben die motorische Aktivität von 3 bis 4 Monate alten Säuglingen sowie die Interaktion zwischen Mutter und Säugling in natürlicher Umgebung zu Hause systematisch beobachtet. Kulturelle Unterschiede in Bezug auf gut operationalisierbares Verhalten wie motorische Aktivität legen zunächst nahe, angeborene Unterschiede zu vermuten. Andererseits ist jedoch auch anzu- nehmen, dass kulturspezifische Verhaltensweisen der Mutter früh auf das Kind einwirken und bei ihm entsprechendes Verhalten fördern. Dabei neigen japa- nische im Vergleich zu amerikanischen Mutter-Kind-Dyaden auf den ersten Blick eher zu weniger aktiver motorischer Aktivität. Wenn man aber das Ver- halten des Säuglings in Interaktion mit der Mutter untersucht, und dabei die all- gemeinen und für die Mutter relevanten kulturellen Werthaltungen berücksich- tigt, zeigt sich zwar einerseits, dass amerikanische Mütter ihre Kinder eher zu motorischer Aktivität anregen, während japanische Mütter bei ihren Kindern eher Passivität induzieren; andererseits veranlassen jedoch besonders aktive ja- panische Kinder ihre Mütter zu reduzierterer, und eher passive amerikanische Kinder ihre Mütter zu stärkerer Aktivität.

Die Frage, ob kulturelle Bedingungen durch menschliches Handeln beeinflusst werden und Kulturen genetische Dispositionen ihrer Population spiegeln (Wil- son, 1975) bzw. die Frage, ob diesen unterschiedlichen Interaktionen eher kul- turelle oder eher genetische Faktoren zu Grunde liegen, lässt sich mit diesen Studien nicht beantworten. Diese Studien erlauben auch keine generalisierba- ren Aussagen über das Zusammenwirken von Temperament und Kontexteinflüs- sen, wenn nicht auch längerfristige Entwicklungsfolgen untersucht werden. Ab- gesehen davon, dass man bei den bisher untersuchten kleinen Stichproben nicht auf eine Kultur in ihrer Gesamtheit schließen kann, sind diese Untersuchungen auch auf Grund ihrer methodischen Anlage nicht geeignet, die Frage nach den genetischen und kulturellen Grundlagen der Ontogenese zu beantworten. Die von Bornstein (1989) berichteten Längsschnittstudien klären nicht, welche inter- nen und externen Bedingungen auf das Kind eingewirkt und zur Stabilität bzw.

Änderung von Verhalten beigetragen haben.

In weiteren kulturvergleichenden Studien wäre u. a. zu prüfen, ob interne Ent- wicklungsprozesse so angelegt sind, dass das Neugeborene anfangs hohe (oder geringe) motorische Aktivität zeigt, die im Zeitverlauf unabhängig von exter- nen Einflüssen reduziert (oder verstärkt) wird, und ob solche internen Prozesse in verschiedenen Kulturen unterschiedlich erfolgen sowie vielleicht auch unter- schiedlich angeregt werden und sich im Sinne des "Goodness-of-fit" Ansatzes jeweils als angemessen erweisen.

(13)

2.4.3 Universalien und KulturspeziJika: Bedeutung von genetischen und kulturellen Faktoren for verschiedene Entwicklungsbereiche

Die in Kulturvergleichen empirisch nachgewiesenen Verhaltensunterschiede wer- den von Poortinga, Kop und Van de Vijver (1990) nach den Bereichen Wahrneh- mung, Denken, Persönlichkeit und soziales Verhalten geordnet, wobei die ge- ringste kulturelle Varianz für die Wahrnehmung und die größte für das soziale Verhalten festgestellt wird. Tatsächlich lässt sich ein Muster von eher universel- len und eher kulturspezifischen Entwicklungsphänomenen erkennen, wenn man einerseits kognitive und andererseits soziale Entwicklungsbereiche betrachtet.

In Bezug auf die Wahrnehmung physikalischer Gegenstände, z. B. Farben, sind kaum kulturelle Unterschiede nachweisbar. Vermutlich beruhen bestimmte kognitive Mechanismen auf biologischen Wurzeln, wie z. B. die affekt- und mo- tivgesteuerte Informationsselektion oder die Klassenbildung. Wenn Wahrneh- mungs- und Denkmuster universell gleich sind, kann man dies erklären als Ergebnis der Anpassung an die physikalische Beschaffenheit dieser Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten (wie Schwerkraft, Wellenlänge des Lichts etc.). Eine Form dieser Erfahrung ist die Wahrnehmung und Beurteilung physikalischer Objekte unter dem Aspekt, ob und wie durch sie primäre Bedürfnisse wie Hun- ger und Durst erfüllt werden können. Dazu sind Kategorisierungen erforder- lich, die universell relevant sein dürften, so lange es nicht um soziale Objekte geht, also etwa um die Wahrnehmung (und den Wert) von IGndern (Kagitcibasi, 1996b), von Gruppenmitgliedern (Sherif, 1956), von Behinderten (Tromms- dorff, 1987). Kulturelle Unterschiede im Denken, in der Wahrnehmung und im Problemlösen zeigen sich vor allem in konfuzianischen im Vergleich zu west- lich-abendländischen Kulturen (vgl. Nisbett, 2003; Nisbett & Norenzayan, 2002) (vgl. dazu Hesse sowie Stanat & Lüdtke, im Band ,,Anwendungs felder der kulturvergleichenden Psychologie", und Strohschneider sowie Yan, Lüer &

Lass, in diesem Band).

Auch im Emotionserleben bestehen einerseits universelle und andererseits kul- turspezifische Formen. Wenn bestimmte Reaktionen auf Objekte mit hoher Be- dürfnisidevanz auf Grund phylogenetischer Prozesse quasi programmiert sind, sind kaum Kulturunterschiede zu erwarten. Emotionen wie Freude und Angst repräsentieren universelle Grunderfahrungen des Menschen. Tatsächlich sind Ausdruck und Erkennen von Grundernotionen interkulturell gleich und offen- bar biologisch determiniert (Ekman, 1973; Mesquita, Frijda & Scherer, 1997) (s. a. Friedlmeier, 2005; Friedlmeier & Matsumoto, in diesem Band). Allerdings variiert die Bewertung (appraisal) von emotionsauslösenden Situationen sowie auch vom Ausdruck von Emotionen kulturspezifisch (Scherer, Banse & Wall- bott, 2001). Damit lassen sich universelle Emotionskategorien durch kulturspe- zifisch emotionsauslösende Situationen verbinden.

(14)

Auch in Bezug auf die Regelung sozialen Verhaltens bestehen kulturübergrei- fende Invarianzen. Dies zeigt sich an dem wohl universell geltenden Inzesttabu (Minturn & Lapporte, 1985), das aus evolutionspsychologischer Sicht "ratio- nal" ist, um beeinträchtigende Konsequenzen für die gesamte Gattung zu ver- meiden (Bischof, 1989). Solche biologisch fundierten Einschränkungen sind für andere soziale Verhaltensbereiche schwer nachweisbar. Für eine Vielzahl von Sozialverhalten sind aus evolutionspsychologischer Sicht biologische Wurzeln anzunehmen, die überhaupt erst die Entwicklungsvoraussetzungen für diffe- renziertes, im jeweiligen kulturellen Kontext aufgebautes Sozialverhalten ver- mitteln (vgl. Chasiotis, im Band "Theorien und Methoden der kulturverglei- chenden Psychologie"). Ein Beispiel dafür ist das Bindungsverhalten (vgl. K. E.

Grossmann & K. Grossmann, im Band "Theorien und Methoden der kultur- vergleichenden Psychologie", sowie Kornadt, in diesem Band) und vermutlich das Mitgefühl als eine förderliche Bedingung prosozialen Verhaltens (bzw. hem- mende Bedingung für Aggressivität) (vgl. Bischof-Köhler, 1994; Trommsdorff, 1993a, b, 2005b).

Die Entwicklung des Sozialverhaltens ist in besonderem Maße durch kulturelle Besonderheiten beeinflusst. Soziale Verhaltensweisen (wie Durchsetzung, Ag- gressivität etc.) werden kulturspezifisch in der individuellen Entwicklung auf- gebaut und je nach kulturspezifisch relevanten situativen Bedingungen aktiviert (vgl. Überblick von Lehmann, Chiu & SchaUer, 2004; SchaUer & Crandall, 2004; zu den Entwicklungsbedingungen vgl. Leyendecker & Schölmerich, in diesem Band).

Im Zusammenhang mit dem SozialverhaIten ist das kulturspezifisch variierende Selbstbild (self construal) bzw. die Selbst-Umwelt-Beziehung relevant, wie die einflussreichen Arbeiten von Markus und Kitayama (1991, 1994, 2002) gezeigt haben. Grob gesagt unterscheiden die Autoren zwischen dem "independenten"

Selbst, das die Verfolgung und ggf Durchsetzung eigener Ziele anstrebt, und dem "interdependenten" Selbst, das sich in Verbundenheit mit Anderen (Eigen- gruppenmitgliedern) definiert und entsprechende Ziele zum Wohle der Gruppe setzt (vgl. Übersichten von Greenfield, 2002; Lehmann, Chiu & Schaller, 2004;

Rothbaum, Weisz et al. , 2000).

Da die Selbst-Umwelt-Beziehung vielen anderen psychologischen Prozessen (Emotionen, Kognitionen, Motiven) zu Grunde liegt, verwundert nicht, dass zahlreiche kulturvergleichende Untersuchungen zum menschlichen Denken, Fühlen und Verhalten sowie vor allem auch zur Entwicklung im Kulturvergleich dieses fruchtbare Konzept verwenden. Dies verdeutlichen auch mehrere Beiträge in den drei Enzyklopädiebänden zur kulturvergleichenden Psychologie (im Band

"Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie" vgl. u. a. Boesch

& Straub; K. E. Grossmann & K. Grossmann; Keller; Lonner; Oerter; Poortinga;

(15)

in diesem Band vgl. u. a. Friedlmeier & Matsumoto; Helfrich; Kornadt; Leyen- decker & Schölmerich; Schwarz; Yan, Lüer & Lass; im Band "Anwendungsfel- der der kulturvergleichenden Psychologie" vgl. u. a. Van Quekelberghe). Aller- dings ist nicht zu übersehen, dass Vereinfachungen und Generalisierungen zu Fehlschlüssen führen können (zur Kritik vgl. Oyserman, Coon & Kemmelmeier, 2002). So können sowohl innerhalb einer Kultur als auch in einer Person in- dependente wie interdependente Merkmale, wenngleich auch mit unterschied- licher Stärke und jeweils situationsspezifisch aktiviert, wirksam sein (vgl. K. E.

Grossmann & K. Grossmann, im Band "Theorien und Methoden der kultur- vergleichenden Psychologie").

2.4.4 Kulturelle oder genetische Weitergabe

Die genetischen und kulturellen Bedingungen menschlicher Enrwicklung wer- den von einigen Autoren unter dem Aspekt der kulturellen Weitergabe (cultural transmission) diskutiert. Dabei geht es weniger um die Ontogenese des einzel- nen als vielmehr um die Enrwicklung von Kulturen. In diesem Zusammenhang sind die evolutionstheoretischen Ansätze relevant. Der Ansatz von Tooby und Cosmides (I 989) versteht, vereinfacht gesagt, Kultur als eine die biologischen Bedingungen beeinflussende eigene Kraft. Die Autoren nehmen an, dass kul- turelle Praktiken ein Ergebnis mentaler, mit Umweltgegebenheiten kontingen- ter Prozesse sind. Sie bezeichnen dies als "evozierte Kultur" (evoked culture). Als

"transmitted culture" (weitergegebene Kultur) bezeichnen sie solche kulturellen Unterschiede, die durch Imitation, Modelllernen und Diffusion von Ideen ent- stehen.

In ihrer "Dual-Inheritance"-Theorie gehen Richerson und Boyd (2001) davon aus, das menschliches Verhalten durch die Wechselwirkung zweier Prozesse der Weitergabe entsteht: durch genetische und kulturelle. Mit diesem Ansatz lassen sich einerseits die Wirkungen von Genen auf Kultur und andererseits die Ein- flüsse von Kultur auf Gene analysieren. Danach erlaubt Kultur - anders als bei einfacher biologischer Evolution - ein unvergleichlich rascheres Evolvieren menschlichen Verhaltens. Allerdings muss nicht jede (in kurzem Zeitraum mög- liche) kulturelle Weitergabe adaptiv sein. Die durch kulturelle Transmission be- dingte Verhaltensänderung muss der Veränderungsgeschwindigkeit der Umwelt entsprechen. Boyd und Richerson (1985) nehmen in ihrer "Dual Inheritance Theory" an, dass in die individuelle Enrwicklung im Prozess des Lernens immer Kulturbesonderheiten eingehen. Zum einen wird angenommen, dass Enrwick- lung durch Prozesse des assoziativen Lernens gemäß der Prinzipien des klassi- schen Konditionierens und der kontingenten Verstärkung erfolgt. Änderungen in individuellen Erfahrungen können zu Verhaltensänderungen führen. Zum an- deren werden Prozesse des soziokulturellen Lernens angenommen, die zunächst

(16)

durch die Eltern und später durch andere Interaktionspartner wie die Alters- gruppe oder Lehrer vermittelt werden. Über den kulturellen Einfluss auf die Ontogenese des Einzelnen hinaus kann somit eine kulturelle Transmission mit einer gewissen Stabilisierung kultureller Besonderheiten erfolgen. Individuelle Entwicklung lässt sich somit als ein Beitrag zur kulturellen Tradierung sehen.

Andererseits kann die individuelle Entwicklung und die damit verbundene ak- tive Auseinandersetzung mit dem Kontext auch zur Veränderung der Kultur beitragen (Trommsdorff, in Dtuck).

Die anspruchsvolle Theorie der "gene-culture-co-evolution" von Lumsden und Wilson (1981) geht davon aus, dass beide, Kultur und Biologie wechselseitig voneinander abhängig sind. Gene können Kultur indirekt beeinflussen, und umgekehrt kann Kultur auch Gene beeinflussen. Mit dem Konzept der "cultu- regens" beschreiben die Autoren die Weitergabe von Kulturmerkmalen zwischen Individuen. Die Übernahme bestimmter Kulturmerkmale kann sich positiv auf die "inklusive Fitness" der betreffenden Personen auswirken, wie z. B. die Ak- zeptanz des Inzest-Tabus. Die Autoren gehen davon aus, Kultur aus einer so- ziobiologischen Perspektive zu untersuchen. Allerdings ist hier nicht gesagt, dass Kulturen quasi automatisch einen Fortschritt zu komplexeren Formen ökono- mischer, technologischer und sozialer Entwicklung aufweisen. In einigen Kul- turen wurden naheliegende mögliche technologische und andere Weiterentwick- lungen (und zwar aus bestimmten "rationalen" Gründen) abgebrochen.

Diese drei theoretischen Ansätze versuchen, die EvoLution von KuLtur zu erklä- ren und gehen davon aus, dass Individuen (bzw. deren Gene) von kulturellen Praktiken profitieren. Dabei ist allerdings die individuelle Entwicklung z. B.

nach der "Dual Inheritance Theory" von Boyd und Richerson (1985) nur bis zu einem gewissen Maß vorhersagbar. Ungeklärt ist, welche Persönlichkeits- merkmale und Handlungstendenzen durch die kulturelle Weitergabe beein- flusst werden, welche relativ unbeeinflussbar sind und ob und wie das Indivi- duum solche Einflüsse selbst (mehr oder weniger intentional) generiert. Eine deterministische Sicht, wie sie in Bezug auf die genetische Weitergabe (genetic transmission) nahe gelegt wird, greift (besonders bei der Annahme von kultu- reller Weitergabe) zu kurz; das wird insbesondere in pluralistischen Kulturen (z. B. USA, Deutschland) mit ihren vielfältigen, z. T. auch widersprüchlichen Wirkungsbedingungen (z. B. bei pluralistischen Werten, divergierenden Erzie- hungszielen, konkurrierenden Sozialisationsbedingungen etc.) und damit ver- bundenen Wahlmöglichkeiten deutlich. Allerdings ist die Auffassung von in- dividueller Entwicklung als selbstgestaltetem Prozess insofern zu modifizieren, als solche Selbststeuerungen nicht beliebig sind, sondern in bestimmten biolo- gisch und kulturell verankerten Grenzen erfolgen (Trommsdorff, 1993a, 2006a).

Solche Grenzen (consrraints) können durchaus auch als Ressourcen verstanden werden (Vorgabe von klaren Regeln für Vermeidung von Risikoverhalten; bio-

(17)

logisches Alter als Gewinn von Status, Weisheit). Welche Grenzen kulturunab- hängig (und wie) wirksam und welche Grenzen modifizierbar sind, müsste in zukünftiger Forschung geklärt werden. Dabei müssten auch in eigens geplanten Längsschnittstudien Zusammenhänge zwischen individueller Entwicklung (Sta- bilität und Kontinuität) und soziokulturellem Wandel untersucht werden.

Mit dem Ansatz der evolvierten konditionalen Entwicklungsstrategien erscheint heute die bisherige Anlage-Umwelt-Dichotomie überholt. Nach oben Gesag- tem gehen wir von dynamischen Wechselwirkungen zwischen Kultur und bio- logischen Bedingungen aus, wobei einerseits eine Passung an die kulturellen und andererseits eine Passung an die genetischen Gegebenheiten stattfindet. Wir gehen hier von der Notwendigkeit der kulturellen Manifestationen biologischer Anpassungen aus; dabei werden genetische "Möglichkeiten" kulturspezifisch re- alisiert (vgl. K. E. Grossmann & K. Grossmann, im Band "Theorien und Metho- den der kulturvergleichenden Psychologie"). Wir nehmen an, dass die mensch- liche Entwicklung durch das Zusammenwirken von genetischen und kulturell vermittelten "Möglichkeiten" entsteht, und dass eine einfache Dichotomisie- rung zwischen einerseits internen biologischen Komponenten und andererseits externen kulturellen Komponenten vor allem aus phylogenetischer Sicht nicht haltbar ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass die menschliche Entwicklung durch bestimmte biologisch verankerte universelle Prozesse wie Reifungsprozesse in der Kindheit, die Pubertät oder physiologische Änderungen im Alter beein- flusst wird, und dass dabei einerseits die individuellen Anlagen und herausge- bildeten kognitiven, motivationalen, sozialen und emotionalen Dispositionen und Kompetenzen sowie andererseits die Interaktion mit den kulturellen Fak- toren, durch die solche Dispositionen aufgebaut werden, wirksam sind. In der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie ist daher genauer zu fragen, wie universelle Entwicklungsvorgänge und -phänomene zu kulturspezifischen werden.

2.5 Suche nach Kulturspezifika und Universalien in der Entwicklung: Methodologische Implikationen

Zur Geschichte der kulturvergleichenden Psychologie, den wichtigsten Themen und Methoden gibt Lonner (im Band "Theorien und Methoden der kultur- vergleichenden Psychologie") einen Überblick. Die Suche nach universellen Ge- setzmäßigkeiten der Entwicklung und die Methode des Kulturvergleichs wer- den vielfach kritisiert. Manche der Kritiker (vgl. Shweder, 1991) meinen, dass jede Theorie und Methode ein Kulturprodukt und somit etwas Einzigartiges sei und keinen Anspruch auf Universalität erheben dürfe. Jede Kultur mit ihrem komplexen Variablensystem sei ein spezifischer Kontext für einzigartige Ent- wicklungsphänomene, die allenfalls zu beschreiben sind, aber nicht auf allge-

(18)

meine Prozesse zurückgeführt werden können. Hier wird Kultur als Quelle so- zial definierter Bedeutungssysteme (und Konstruktionen) gesehen und es wird gefordert, dass alle psychologischen Konzepte kulturspezifisch zu definieren seien.

Dies wird damit begründet, dass sich menschliches Dasein nur phylogenetisch manifestieren kann. Einige Vertreter dieser Auffassung ("indigenous psychology") (vgl. Ratner, 1997; Shweder, 1991) plädieren für eine Psychologie, die primär die jeweiligen kulturellen Besonderheiten in der Entwicklung und im Handeln darstellt, auch wenn damit keine Vergleichbarkeit von Phänomenen über ver- schiedene Kulturen mehr möglich sein sollte.

Eine solche Auffassung erscheint jedoch als kurzsichtig und überzogen, wenn sie phylogenetisch angelegtes universell beobachtbares Verhalten (z. B. Ekel, vgl.

Friedlmeier & Matsumoto, in diesem Band; Aggression, vgl. Kornadt, in diesem Band) und darauf bezogene Normen oder die Tatsache übersieht, dass Menschen universell ähnliche Erfahrungen machen, z. B. mit einer physikalischen Umwelt, die die Wahrnehmung von Phänomenen (z. B. als heiß, kalt, schwer, leicht o. a.) strukturiert, ohne unbedingt gleiche inhaltliche Bedeutungen zu vermitteln;

oder dass universell Erfahrungen mit dem Erleben von Bedürfnissen (wie Hun- ger, Sexualität) gemacht werden, die je nach kulturellem Kontext unterschied- lich eingeordnet, befriedigt und entwicklungswirksam werden.

Verbunden mit diesen Auffassungen sind zwei unterschiedliche methodologi- sche Positionen. Während die kulturvergleichende Psychologie im Sinne eines quasi-experimentellen Vorgehens unter Vergleich verschiedener Kulturen allge- meine theoretische Aussagen prüft ("etic"-Ansatz), beschreibt die kulturpsy- chologische Forschung aus der Sicht der gegebenen Kultur Entwicklungsbe- sonderheiten ("emic"-Ansatz). Überspitzt gesagt, wird beim kulturvergleichend und nomothetisch fundierten Ansatz von Kausalbeziehungen zwischen Kultur und Individuum ausgegangen, während beim kulturpsychologischen Ansatz an- genommen wird, dass das Individuum an der Konstruktion von Kultur betei- ligt ist und gleichzeitig von der Kultur in seinem Denken beeinflusst wird.

Eine "kulturinformierte" Entwicklungspsychologie steht damit vor erheblichen methodischen Problemen: Sollen die Fragen im Sinne der kulturvergleichenden Psychologie so bearbeitet werden, dass Kultur als "unabhängige" Variable gese- hen wird? Wenn ja, wie ist das mit der Position einer Kulturpsychologie zu ver- einbaren, die eine Untrennbarkeit von Kultur und individuellem Handeln an- nimmt und daher Kausalanalysen, wie sie im Kulturvergleich nahe gelegt werden, grundsätzlich ablehnt? Lange Zeit wurden diese beiden Ansätze als kontrovers und sich gegenseitig ausschließend diskutiert. Beide Sichtweisen greifen jedoch zu kurz, da sie gegenseitige Wechselwirkungsprozesse zwischen Kultur und Per- son unzureichend thematisieren. Sie übersehen auch, dass universelle Prozesse wie Konditionierung, Äquilibration, Modelllernen etc. universell sind, dass aber

(19)

ihre Ergebnisse kulturspezifisch sein können. Zudem ist eine dem Kulturver- gleich verpflichtete "indigenous psychology" für die Beschreibung von kultur- spezifischen Phänomenen wertvoll; dies wiederum unterstreicht den Anspruch, Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung aufZuklären. Kulturvergleiche sind jedoch umgekehrt erforderlich nicht nur für die Überprüfung von Theorien sondern auch für die Aufdeckung von Kulturspezifika. Erst wenn Vergleiche erfolgt sind, können wir Kulturspezifika erkennen. Damit geht es hier auch um Fra- gen des Niveaus der Theoriebildung: Eine Theorie der Kulturspezifität ist erst auf dem Niveau von Kulturvergleichen zu konstruieren (Montada, mündliche Kommunikation). Kulturspezifische Beschreibungen sind für die Konstruktion geeigneter kulturangemessener Methoden und für die Dateninterpretation er- forderlich (vgl. Poortinga, im Band "Theorien und Methoden der kulturverglei- chenden Psychologie"; Trommsdorff, 2002b, 2003; Trommsdorff & Dasen, 2001; Trommsdorff & Friedlmeier, 2004). Zusammenfassend gehen wir hier daher davon aus, dass die "emic" und die "etic" Perspektiven auf Kultur je nach Fragestellung sinnvoll sind und sich gegenseitig ergänzen.

Im Folgenden wird versucht, die Vorteile beider Ansätze, der kulturvergleichenden und kulturspezijischen Vorgehensweise, zu verknüpfen. Ziel ist, zu prüfen, ob in anderen Kulturen andere Entwicklungsphänomene und -vorgänge auftreten als die im westlichen Kulturkreis nachgewiesenen, und ob bestimmte westliche The- orien zu modifizieren oder in ihrem Gültigkeitsansptuch einzuschränken sind.

Im Folgenden behandeln wir zunächst Untersuchungen, die von psychologisch relevanten Kulturdimensionen für Kulturvergleiche ausgehen.

3 Kulturdimensionen als Ausgangspunkt kulturvergleichender Forschung

3.1 Kontroversen in der kulturvergleichenden Psychologie zum Kulturbegriff

Über hundert Definitionen von Kultur wurden in der kulturanthropologischen Forschung vorgeschlagen (vgl. Kroeber & Kluckhohn, 1952). Gegenwärtig erfol- gen erneute Versuche einer Definition von Kultur im Rahmen der Interna- tional Association for Cross-Cultural Psychology (IACCP, Januar 2005). Den Kulturbegriff zu definieren, ist jedoch so lange müßig wie dies ohne Bezug auf psychologische Theorien, Konzepte und Fragestellung erfolgt. Zahlreiche neu- ere Versuche kreisen um das Bemühen, den Zusammenhang von Kultur und menschlichem Handeln zu umschreiben, indem das globale Kulturkonzept zu Gunsten psychologisch relevanter Variablen differenziert oder sogar auf diese reduziert wird, ohne den Bezug zur Makroebene der Wirtschaft und Gesell- schaft zu sehen.

(20)

Einige Anthropologen und Psychologen verstehen "Kultur" als "unabhängige"

Variable, die menschliches Handeln beeinflusst (Mead, 1928; Lonner, 1990;

Segall, Oasen, Berry & Poortinga, 1999). Andere Autoren sehen Kultur als un- trennbar mit menschlichem Handeln verbunden und alles menschliche Han- deln als Teil der Kultur, in welcher der Mensch aufwächst (Cole, 1996,2005;

Shweder, 1991; Valsiner, 1989; Ratner, 1997). Einen historischen Überblick zu den verschiedenen Definitionen von Kultur gibt Jahoda (im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"). In den Sozialwissen- schaften bestehen ähnliche Kontroversen. Kultur wird von einigen Autoren als übergeordnete Kraft gesehen, die menschliches Verhalten beeinflusst (vgl. Stan- dard Social Sciences Model, SSSM, Tooby & Cosmides, 1989). Andere Auto- ren sehen "Kultur" als Produkt menschlichen Denkens und Handelns, das von Generation zu Generation weitergereicht und verändert wird (Linton, 1956).

Damit verbunden ist die Annahme, dass Kultur nicht autonom und unbeein- flussbar ist. Kultur ist aber auch nicht unendlich variabel, wenn man der Auf- fassung kultureller Universalien folgt und eine entsprechend abstrakte Beob- achtungsebene wählt. Dabei ist jedoch Universalität nicht gleich zu setzen mit angeborenen genetischen Dispositionen. Einig ist man sich (auch in der evolu- tionstheoretischen Psychologie), dass Kulturunterschiede nicht auf genetische Unterschiede reduzierbar sind.

Aus psychologischer Sicht verstehen wir hier Kultur als einen Komplex von Phänomenen einschließlich Sprache, Symbolen, Wissen, Geschichte, Mythen, Ritualen im Sinne geteilter symbolischer Systeme ("shared symbolic systems") (Boesch, 1983, 1991; L. Geertz, 1973; Uvi-Strauss, 1963). Diese Systeme sind ein Produkt menschlichen Handelns und beeinflussen menschliches Handeln im Sinne eines internen Modells der Realität ("internal model of reality") (Kee- sing, 1974). Eine psychologische Definition von Kultur muss daher die Frage nach der Beziehung zwischen Kultur und Denken (culture and mind) (Bruner, 1996) einbeziehen. Nach Bruner sind Kulturen Bedeutungssysteme, die sich vor allem durch narrative Interaktionen entwickeln. Shore (1996) legt diesen Ge- danken seinen Untersuchungen zu Kultur und Denken zu Grunde, indem er "ex- terne" Institutionen (culture-in-the-world) und interne Repräsentationen (cul- ture-in-the-mind) miteinander in Beziehung setzt.

Kultur wird also von einigen Autoren als ein globales abstraktes Konstrukt ver- wendet oder als ein Variablen bündel ("Paket von Variablen"; vgl. B. B. Whiting, 1976) verstanden, das die Entwicklung und das Handeln der Person beeinflusst.

Andere Autoren verstehen Kultur als Bedeutungssystem, durch welches indivi- duelle Entwicklung erfolgt, und welches wiederum vom Handeln der Person mit beeinflusst wird. Beide Auffassungen von Kultur implizieren jeweils einen unter- schiedlichen Zugang zur Untersuchung der individuellen Entwicklung aus kul-

(21)

mrvergleichender Sicht. Das führt zu Problemen, deren Lösungsmöglichkeit eine Verknüpfung der bei den Sichtweisen nahe legt.

Wenn man Kultur als ein "Paket von Variablen" versteht, das nach psycholo- gischen Konzepten zu differenzieren ist ("peel the onion of culture", Poortinga, Van de Vijver, Joe & Van de Koppel, 1987), geht man davon aus, dass bestimmte Kulturen theoretisch relevante Variablen ( -kombinationen) repräsentieren. Für die empirische kulmrvergleichende Arbeit entsteht die Aufgabe, bei der Auswahl von Kulturen dieses "Paket" zu öffnen und in seiner theoretischen Bedeutung zu beschreiben, um die entwicklungspsychologisch "relevanten" Variablen zu iden- tifizieren. Ziel ist dabei, die Ebene der Kultur und die Ebene des Individuums theoretisch und empirisch zu verknüpfen. Hier entsteht jedoch das Problem, das "Variablenbündel" Kulmr in solche psychologisch relevante Einzelvariablen aufzulösen, die aber jeweils miteinander verbunden sind und jeweils die Kultur als Bedeumngssystem (bzw. als kohärente narrative Interpretationen) im Sinne von Bruner (1996) repräsentieren. Um diese Forderung zu erfüllen, sind die bei- den oben genannten unterschiedlichen Sichtweisen von Kultur nicht vonein- ander zu trennen.

Diese Überlegungen führen zu dem Schluss, von vornherein das "Variablen- bündel" Kultur als ein System komplexer bedeutungshaltiger Zusammenhänge zu beschreiben. Diese verändern ihre Bedeutung je nach Kontext, und werden vom Handeln und der Kommunikation der Person mit beeinflusst. Diese Auf- fassung geht von wechselseitigen Zusammenhängen zwischen Person und Um- welt aus, wie durch zahlreiche kulturvergleichende Studien belegt (vgl. Über- sicht bei Lehman, Chiu & SchaBer, 2004). Sie impliziert auch, dass Prozesse der individuellen Entwicldung von kulturellen Bedingungen mit beeinflusst wer- den und ihrerseits darauf zurückwirken. Diese Annahme dynamischer Wech- selwirkungsprozesse ist sicherlich nur disziplin übergreifend empirisch zu prü- fen.

3.2 Kulturdimensionen und individuelle Entwicklung

3.2.1 "Patterns

0/

Culture "; Kultur- und Persönlichkeitsmerkmafe

Die berühmte "Culture and Personality School" (vgl. Übersicht von LeVine, 2001) hat eine Fülle von Untersuchungen zu Zusammenhängen zwischen Kul- tur und Persönlichkeit angeregt und sowohl die kulturanthropologische als auch die psychologische Forschung stark beeinflusst. Kultur wurde dabei hin- sichtlich relativ stabiler globaler Dispositionen und Unterschiede zwischen den Kulturen direkt im Zusammenhang mit Unterschieden in Persönlichkeits-

(22)

merkmalen beschrieben. Auf Grund von psychoanalytischen Annahmen wur- den Kultur und Persönlichkeit eng miteinander zusammenhängend gesehen.

Ruth Benedict (1934) beschrieb "patterns of culture" (Kulturmuster) in Analo-

gie zu Persönlichkeitsmerkmalen ("personality writ large"). Umgekehrt sahen

auch manche Persönlichkeitstheoretiker in Kulturmerkmalen eine Analogie zu globalen Persönlichkeitsmerkmalen. Beispiele dafür sind Klassiker wie "Die Auto- ritäre Persönlichkeit" (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & Sanford, 1950),

"Childhood and Society" von Erikson (1950) oder "The Achieving Society" von McClelland (1961).

Der Begründer der "Culture and Personality"-Schule, der Anthropologe Franz Boas, hatte angeregt (als Gegenbewegung zu biologisch-fundierten Ansätzen), die Wirkung von sozioökonomischen und kulturellen Erfahrungen auf die Per- sönlichkeitsentwicklung vor allem in traditionellen Kulturen mit agrarwirtschaft- licher Struktur zu untersuchen. Auf diesem Interesse beruhen die Studien von Radcliffe-Brown (1964) zu den Bewohnern der Andaman-Insel; die Studien von Malinowski (1922) zu den Bewohnern der Trobriand-Inseln; die Studien von Margret Mead (I 928), Schülerin von Boas, zu den Jugendlichen auf Samoa (vgl.

Kornadt, in diesem Band). Systematische Vergleiche zwischen verschiedenen Kulturen waren dabei allerdings selten.

Die "Culture and Personality"-Schule verlor auf Grund des zurückgehenden Interesses an der Psychoanalyse und den von ihr beeinflussten Theorien (u. a.

von Erikson, 1950), sowie auf Grund der mangelnden Operationalisierung der theoretischen Konzepte und der unzureichenden Präzisierung der Prozesse bei der Persönlichkeitsentwicklung schließlich an Einfluss. Ähnliches gilt auch für die holistischen Ansätze, die direkte Wirkungen einfacher oder komplexer Wirt- schaftsformen auf die Entwicklung annehmen und dabei die zu Grunde liegen- den psychologischen Prozesse unberücksichtigt lassen (vgl. Kritik dazu von Ja- hoda & Lewis, 1988).

Hingegen können die breit angelegten ethnografischen Datensammlungen, die in den Human Relations Area Files (HRAF) archiviert sind, bei entsprechender methodischer Vorsicht (Minturn, 1987) zur Beschreibung von Kulturmerkmalen und Entwicklungsphänomenen, z. B. auch für vergleichende Analysen zur Kin- dererziehung, (vgl. Barry, 1987; Barry, Bacon & Child, 1967; Rogoff, Sellers, Pir- rotta, Fox & White, 1975) verwendet werden. Im Übrigen ist in den letzten Jah- ren auf Grund der angenommenen kulturübergreifenden genetisch bedingten Ähnlichkeit von Merkmalsmustern des Menschen ("Big Five") die Annahme von Persönlichkeit und Kultur unter aktualisierter Fragestellung wieder aufge- griffen worden (Hofstede & McCrae, 2004) (vgl. dazu Helfrich, in diesem Band;

Trommsdorff & Mayer, 2005).

(23)

3.2.2 Kultur als Komplex sozioökonomischer Faktoren

Die frühen kultur-anthropologischen Studien verstanden Kulturen als homo- gene globale Systeme mit unterschiedlichen Wirtschaftsformen und sahen in den sozioökonomischen Faktoren die relevanten Bedingungen für Unterschiede in der menschlichen Entwicklung. Beispiele für solche Untersuchungen sind Studien in sehr einfachen Strukturen von Jäger- und Sammler- Kulturen wie den der Kalahari Bushmen (Draper, 1978; Eibl-Eibesfeldt, 1972) oder der Efe im Kongo (Tronick, Morelli & Ivey, 1992).

In diesen Wirtschaftsformen leben die Menschen von der natürlichen Umge- bung; sie jagen und sammeln essbare Früchte, Blätter, Wurzeln. Für diese Über- lebenstechniken benötigen sie erhebliche Kenntnisse, körperliche Kraft und Ge- schicklichkeit sowie flexibles Verhalten und Kooperation in Gruppen. Als Jäger und Sammler verfügen sie über wenig Besitz. Sesshafte in einfachen ökonomi- schen Strukturen mit subsistenzwirtschaftlicher Ackerbaukultur benötigen Ge- duld und Planungsverhalten in Bezug auf die Bewirtschaftung der Felder, die Lagerung der Ernte für magere Zeiten und für die nächste Aussaat. Kinder ler- nen dort früh, Aufgaben der Erwachsenen zu übernehmen; sie lernen die erfor- derlichen Kompetenzen und Regeln für das wirtschaftliche Überleben durch Beobachtung, Imitation und Unterstützung der älteren Geschwister.

Die Auswirkungen solcher sozioökonomischer Bedingungen auf die Entwick- lung wurden u. a. von Barry, Bacon und Child (1967) und Barry, Child und Bacon (1959) dargelegt (vgl. auch Oasen, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"). Berry (1976, 1981) und Witkin und Berry (1975) haben darüber hinaus Grundlagen für den kulturvergleichenden ökologischen Ansatz zur kognitiven Entwicklung empirisch fundiert. Hier wird nach Umweltbedingungen gefragt, die bestimmte kulturelle Präferenzen u. a.

auch in der Art der Kindererziehung hervorbringen und die Entwicklung be- stimmter Persönlichkeitsmerkmale fördern. Zentrales Thema der klassischen Studie von Barry, Child und Bacon (I959) war, Zusammenhänge zwischen der bevorzugten Wirtschaftsform in nicht industrialisierten Kulturen und der prak- tizierten Kindererziehung zu untersuchen. Die Autoren belegen auf der Grund- lage von Daten aus 100 Gesellschaften (Sekundäranalysen vorhandener Daten aus den Human Relation Area Files), dass bei ausgeprägter Tradition der Nah- rungsmittelkonservierung (in bäuerlichen Kulturen) Kinder eher zur Anpassung und Konformität erzogen werden und Kooperation, Verantwortung und Kon- servatismus lernen, was günstige Bedingungen für den sparsamen Umgang mit der Ernte und anderen wirtschaftlichen Anforderungen schafft. Im Gegensatz dazu lernen Kinder in Jäger-Gesellschaften Eigeninitiative und Selbstständig- keit. In diesen Studien wurden Merkmale der Kindererziehung meistens nur in

(24)

ihrer unidirektionalen Wirkung auf das Kind beschrieben (z. B. dass strenge Erziehung Aggressivität bei Kindern fördere), ohne allerdings die Prozesse der Internalisierung kultureller Werte und Normen darzulegen.

Kultur und Entwicklung werden in diesen Studien als Reaktion von Personen und Gruppen auf ihre physische Umwelt verstanden; diese Umwelt stellt die Gruppe vor bestimmte Probleme oder Einschränkungen, welche die Gruppe durch entsprechende Aktivitäten, z. B. technologische und ökonomische, löst.

Diese Aktivitäten erfordern eine bestimmte Arbeitsteilung und eine dafür er- forderliche soziale Organisationsstruktur, u. a. auch in der Familie. Dies ist der Kontext, in dem die Kindererziehung stattfindet, in dem also Erwachsene die Sozialisation und Entwicklung ihrer Nachkommen beeinflussen. Diese Fakto- ren gelten als "proximale Ursachen" für die Entwicklung des Kindes.

Auch wenn die theoretischen Grundlagen dieser Studien hier etwas vereinfacht dargestellt sind, bleibt festzuhalten, dass der angenommene Einfluss von physi- scher Umwelt auf die Kultur und damit auf die individuelle Entwicklung pro- blematisch ist. Es stellt sich u. a. die Frage, ob Entwicklung nur als Reaktion (Anpassung) an die physische Umwelt erfolgt oder ob nicht die vorhandenen Lebensbedingungen, das soziale Gefüge und damit verbundene Regeln bereits ein System kultureller Deutungen geschaffen haben, in die das Kind hinein- wächst, und ob dadurch im Entwicklungsverlauf der Umgang mit der physi- schen und kulturellen Umwelt beeinflusst wird.

3.2.3 Kultur als Komplex ökologischer Bedingungen for Entwicklung

Die ökologische Perspektive geht auf Kurt Lewin (1951) und Egon Brunswik (1947) zurück und greift die berechtigte Kritik an der Laborforschung und der artifiziellen Messung von Verhalten auf. Die "moderne" ökologische Entwick- lungspsychologie betont die Bedeutung verschiedener ökologischer Kontexte für die Persönlichkeitsentwicklung und knüpft gleichzeitig an Lewins Modell der dynamischen Wechselwirkungen an. Barker und Wright (1971) sowie auch Bronfenbrenner (1977) gehen dabei von der Annahme aus, dass situative und organismische Variablen innerhalb des ökologischen Kontextes aufeinander ein- wirken.

Der sozioökologische Ansatz versucht, den vereinfachenden Umgang mit globa- len Kulturkontexten zu überwinden. In der kulturvergleichenden ökopsycho- logischen Forschung ging man zunächst von der Vorstellung aus, dass Kultur die "Antwort" von Gruppen auf eine physikalische Umwelt mit bestimmten An- forderungen und Einschränkungen ist, wodurch bestimmte Technologien, so- ziale Ordnungen (wie Familiensystem), Verhaltensmuster und Erziehungsstile

(25)

herausgebildet werden, die dann die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen (Berry, 1976; B. B. Whiting, 1963). Auf Grund von Daten aus 18 Kulturen unterschiedlicher Größe, Winschafts- und Familienorganisation konnte Berry (1976,1981) Zusammenhänge zwischen ökologischen und ökonomischen Va- riablen und dem kognitiven Stil nachweisen.

Zur Beschreibung von Kulturen reichen jedoch nicht allein Wirtschaftsformen aus. Vielmehr sind diese als Bedingungsfaktoren für bestimmte Familiensys- teme zu untersuchen, die ihrerseits die Entwicklung von Kindern beeinflussen.

Dies zeigt die extensive und einflussreiche systematische Untersuchung zu so- zioökonomischen und kulturellen Unterschieden in Familiensystem, EIternver- halten und Entwicklung von Kindern, die berühmte "Six Cultures Study" von B. B. Whiting und

J.

W M. Whiting (1975). Diese Studie hatte zum Ziel, die Zusammenhänge zwischen Makro- und Mikrovariablen des sozioökonomischen Systems und der Familienstruktur auf der einen Seite und der Persönlichkeits- entwicklung von Kindern auf der anderen Seite im einzelnen durch Beobach- tungsstudien empirisch zu untersuchen.

B. B. Whiting und J. W M. Whiting haben Stichproben von Kindern zwischen 3 und 11 Jahren aus Familien mit ländlicher Subsistenzwirtschaft in Indien, Ja- pan, Kenia, Mexiko und den Philippinen sowie auch aus urbanen Familien der USA in ihre Untersuchung einbezogen. Die Grundidee war, den Komplexitäts- grad der Gesellschaften zu variieren und zu prüfen, ob in einfachen Gesellschaf- ten ohne hierarchisch klar definierte Autoritätsstruktur ein hohes Maß an Koope- ration innerhalb der Familien besteht und Kinder hohe soziale Verantwortung lernen. In komplexen Gesellschaften hingegen werden Kinder eher zu Wettbe- werb und Leistung erzogen. Tatsächlich zeigten sich entsprechende Unterschiede im Sozialverhalten auf der Dimension "egoistisch-verantwortungsvoll". Weitere Unterschiede wurden in Bezug auf die Haushaltsstruktur nachgewiesen (Kern- vs. Großfamilie, Mono- vs. Polygamie). Bei ho her sozialer und technischer Kom- plexität treten eher soziale Verhaltensstile wie ,,Abhängigkeit vs. Dominanz" und in weniger komplexen Kulturen eher Verhaltensmerkmale wie "Helfen/Verant- wortung" auf. Eine andere Dimensionalisierung von Kulturen ergab, dass in Kulturen mit Kernfamilienstruktur eher ein sozial-intimes Verhalten und in Kul- turen mit Großfamilienstruktur eher ein autoritatives und aggressives Verhalten vorherrscht (zu kulturspezifischen Familienformen vgl. Nauck, im Band "The- orien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie").

In diesen Studien wurde zunächst zwar eine einseitige Einflussrichtung von Sei- ten der kulturellen Umwelt auf die Entwicklung nahe gelegt. Auch Untersuchun- gen zum Elternverhalten (B. B. Whiting, 1963) ließen zunächst die eigentlichen Prozesse unklar, die Eltern-Kind-Beziehungen in diesen Gesellschaften struk- turieren und durch die sich die verschiedenen Merkmale des Sozialverhaltens

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Den Zusammenhang zwischen Brut- pflege und Sozialverhalten hatte Darwin bereits 1871 mit einem Satz vorweggenommen: „Das Gefühl des Vergnügens an Gesellschaft ist wahrscheinlich eine

Diese Formen der Optischen Poesie, die Konkrete Poesie der Gruppe Noigandres in Brasilien und die Visuelle Poesie des Gruppo 70 in Italien, sollen hier mit Hinblick auf ihre

Und wie er beinahe verzweifelt, weil er den Riesen­ und den Wiesen­Bärenklau nicht genau unterscheiden kann (der eine ist giftig, der andere nicht).. Schließlich träufelt er

Das Prä-Damara-Auflager aus Sinclair und Rehoboth Sequenz zeigt dabei ein deutliches Relief, in welchem sich basale Einheiten der Damara Sequenz wie die Nosib Group und Corona

- erfassen die Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als grund- legendes Muster der menschlichen Orientierung und setzen sie in Bezug zur eigenen Lebenswelt.

Da Erfahrungen aus der Praxis zeigten, dass Käse mit einem natürlichen Wachstum eines sogenannten «Milchschimmels» nie von der Klebrigkeit betroffen sind, wurde nach

Zum einen gibt es Lehrende die angesichts einer konstatierten Zunahme von Gramma- tikschwäche bei den Studierenden ein verstärktes Bemühen um die Grammatik und

Lars Gellner/Daniela Müller: Geschichte an Stationen 5/6 © Auer Verlag Jäger, Sammler, Vieh- züchter und Ackerbauern..