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Kulturdimensionen und individuelle Entwicklung

Im Dokument Entwicklung im kulturellen Kontext (Seite 21-32)

3.2.1 "Patterns

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Culture "; Kultur- und Persönlichkeitsmerkmafe

Die berühmte "Culture and Personality School" (vgl. Übersicht von LeVine, 2001) hat eine Fülle von Untersuchungen zu Zusammenhängen zwischen Kul-tur und Persönlichkeit angeregt und sowohl die kulturanthropologische als auch die psychologische Forschung stark beeinflusst. Kultur wurde dabei hin-sichtlich relativ stabiler globaler Dispositionen und Unterschiede zwischen den Kulturen direkt im Zusammenhang mit Unterschieden in

Persönlichkeits-merkmalen beschrieben. Auf Grund von psychoanalytischen Annahmen wur-den Kultur und Persönlichkeit eng miteinander zusammenhängend gesehen.

Ruth Benedict (1934) beschrieb "patterns of culture" (Kulturmuster) in

Analo-gie zu Persönlichkeitsmerkmalen ("personality writ large"). Umgekehrt sahen

auch manche Persönlichkeitstheoretiker in Kulturmerkmalen eine Analogie zu globalen Persönlichkeitsmerkmalen. Beispiele dafür sind Klassiker wie "Die Auto-ritäre Persönlichkeit" (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & Sanford, 1950),

"Childhood and Society" von Erikson (1950) oder "The Achieving Society" von McClelland (1961).

Der Begründer der "Culture and Personality"-Schule, der Anthropologe Franz Boas, hatte angeregt (als Gegenbewegung zu biologisch-fundierten Ansätzen), die Wirkung von sozioökonomischen und kulturellen Erfahrungen auf die Per-sönlichkeitsentwicklung vor allem in traditionellen Kulturen mit agrarwirtschaft-licher Struktur zu untersuchen. Auf diesem Interesse beruhen die Studien von Radcliffe-Brown (1964) zu den Bewohnern der Andaman-Insel; die Studien von Malinowski (1922) zu den Bewohnern der Trobriand-Inseln; die Studien von Margret Mead (I 928), Schülerin von Boas, zu den Jugendlichen auf Samoa (vgl.

Kornadt, in diesem Band). Systematische Vergleiche zwischen verschiedenen Kulturen waren dabei allerdings selten.

Die "Culture and Personality"-Schule verlor auf Grund des zurückgehenden Interesses an der Psychoanalyse und den von ihr beeinflussten Theorien (u. a.

von Erikson, 1950), sowie auf Grund der mangelnden Operationalisierung der theoretischen Konzepte und der unzureichenden Präzisierung der Prozesse bei der Persönlichkeitsentwicklung schließlich an Einfluss. Ähnliches gilt auch für die holistischen Ansätze, die direkte Wirkungen einfacher oder komplexer Wirt-schaftsformen auf die Entwicklung annehmen und dabei die zu Grunde liegen-den psychologischen Prozesse unberücksichtigt lassen (vgl. Kritik dazu von Ja-hoda & Lewis, 1988).

Hingegen können die breit angelegten ethnografischen Datensammlungen, die in den Human Relations Area Files (HRAF) archiviert sind, bei entsprechender methodischer Vorsicht (Minturn, 1987) zur Beschreibung von Kulturmerkmalen und Entwicklungsphänomenen, z. B. auch für vergleichende Analysen zur Kin-dererziehung, (vgl. Barry, 1987; Barry, Bacon & Child, 1967; Rogoff, Sellers, Pir-rotta, Fox & White, 1975) verwendet werden. Im Übrigen ist in den letzten Jah-ren auf Grund der angenommenen kulturübergreifenden genetisch bedingten Ähnlichkeit von Merkmalsmustern des Menschen ("Big Five") die Annahme von Persönlichkeit und Kultur unter aktualisierter Fragestellung wieder aufge-griffen worden (Hofstede & McCrae, 2004) (vgl. dazu Helfrich, in diesem Band;

Trommsdorff & Mayer, 2005).

3.2.2 Kultur als Komplex sozioökonomischer Faktoren

Die frühen kultur-anthropologischen Studien verstanden Kulturen als homo-gene globale Systeme mit unterschiedlichen Wirtschaftsformen und sahen in den sozioökonomischen Faktoren die relevanten Bedingungen für Unterschiede in der menschlichen Entwicklung. Beispiele für solche Untersuchungen sind Studien in sehr einfachen Strukturen von Jäger- und Sammler- Kulturen wie den der Kalahari Bushmen (Draper, 1978; Eibl-Eibesfeldt, 1972) oder der Efe im Kongo (Tronick, Morelli & Ivey, 1992).

In diesen Wirtschaftsformen leben die Menschen von der natürlichen Umge-bung; sie jagen und sammeln essbare Früchte, Blätter, Wurzeln. Für diese Über-lebenstechniken benötigen sie erhebliche Kenntnisse, körperliche Kraft und Ge-schicklichkeit sowie flexibles Verhalten und Kooperation in Gruppen. Als Jäger und Sammler verfügen sie über wenig Besitz. Sesshafte in einfachen ökonomi-schen Strukturen mit subsistenzwirtschaftlicher Ackerbaukultur benötigen Ge-duld und Planungsverhalten in Bezug auf die Bewirtschaftung der Felder, die Lagerung der Ernte für magere Zeiten und für die nächste Aussaat. Kinder ler-nen dort früh, Aufgaben der Erwachseler-nen zu übernehmen; sie lerler-nen die erfor-derlichen Kompetenzen und Regeln für das wirtschaftliche Überleben durch Beobachtung, Imitation und Unterstützung der älteren Geschwister.

Die Auswirkungen solcher sozioökonomischer Bedingungen auf die Entwick-lung wurden u. a. von Barry, Bacon und Child (1967) und Barry, Child und Bacon (1959) dargelegt (vgl. auch Oasen, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie"). Berry (1976, 1981) und Witkin und Berry (1975) haben darüber hinaus Grundlagen für den kulturvergleichenden ökologischen Ansatz zur kognitiven Entwicklung empirisch fundiert. Hier wird nach Umweltbedingungen gefragt, die bestimmte kulturelle Präferenzen u. a.

auch in der Art der Kindererziehung hervorbringen und die Entwicklung be-stimmter Persönlichkeitsmerkmale fördern. Zentrales Thema der klassischen Studie von Barry, Child und Bacon (I959) war, Zusammenhänge zwischen der bevorzugten Wirtschaftsform in nicht industrialisierten Kulturen und der prak-tizierten Kindererziehung zu untersuchen. Die Autoren belegen auf der Grund-lage von Daten aus 100 Gesellschaften (Sekundäranalysen vorhandener Daten aus den Human Relation Area Files), dass bei ausgeprägter Tradition der Nah-rungsmittelkonservierung (in bäuerlichen Kulturen) Kinder eher zur Anpassung und Konformität erzogen werden und Kooperation, Verantwortung und Kon-servatismus lernen, was günstige Bedingungen für den sparsamen Umgang mit der Ernte und anderen wirtschaftlichen Anforderungen schafft. Im Gegensatz dazu lernen Kinder in Jäger-Gesellschaften Eigeninitiative und Selbstständig-keit. In diesen Studien wurden Merkmale der Kindererziehung meistens nur in

ihrer unidirektionalen Wirkung auf das Kind beschrieben (z. B. dass strenge Erziehung Aggressivität bei Kindern fördere), ohne allerdings die Prozesse der Internalisierung kultureller Werte und Normen darzulegen.

Kultur und Entwicklung werden in diesen Studien als Reaktion von Personen und Gruppen auf ihre physische Umwelt verstanden; diese Umwelt stellt die Gruppe vor bestimmte Probleme oder Einschränkungen, welche die Gruppe durch entsprechende Aktivitäten, z. B. technologische und ökonomische, löst.

Diese Aktivitäten erfordern eine bestimmte Arbeitsteilung und eine dafür er-forderliche soziale Organisationsstruktur, u. a. auch in der Familie. Dies ist der Kontext, in dem die Kindererziehung stattfindet, in dem also Erwachsene die Sozialisation und Entwicklung ihrer Nachkommen beeinflussen. Diese Fakto-ren gelten als "proximale Ursachen" für die Entwicklung des Kindes.

Auch wenn die theoretischen Grundlagen dieser Studien hier etwas vereinfacht dargestellt sind, bleibt festzuhalten, dass der angenommene Einfluss von physi-scher Umwelt auf die Kultur und damit auf die individuelle Entwicklung pro-blematisch ist. Es stellt sich u. a. die Frage, ob Entwicklung nur als Reaktion (Anpassung) an die physische Umwelt erfolgt oder ob nicht die vorhandenen Lebensbedingungen, das soziale Gefüge und damit verbundene Regeln bereits ein System kultureller Deutungen geschaffen haben, in die das Kind hinein-wächst, und ob dadurch im Entwicklungsverlauf der Umgang mit der physi-schen und kulturellen Umwelt beeinflusst wird.

3.2.3 Kultur als Komplex ökologischer Bedingungen for Entwicklung

Die ökologische Perspektive geht auf Kurt Lewin (1951) und Egon Brunswik (1947) zurück und greift die berechtigte Kritik an der Laborforschung und der artifiziellen Messung von Verhalten auf. Die "moderne" ökologische Entwick-lungspsychologie betont die Bedeutung verschiedener ökologischer Kontexte für die Persönlichkeitsentwicklung und knüpft gleichzeitig an Lewins Modell der dynamischen Wechselwirkungen an. Barker und Wright (1971) sowie auch Bronfenbrenner (1977) gehen dabei von der Annahme aus, dass situative und organismische Variablen innerhalb des ökologischen Kontextes aufeinander ein-wirken.

Der sozioökologische Ansatz versucht, den vereinfachenden Umgang mit globa-len Kulturkontexten zu überwinden. In der kulturvergleichenden ökopsycho-logischen Forschung ging man zunächst von der Vorstellung aus, dass Kultur die "Antwort" von Gruppen auf eine physikalische Umwelt mit bestimmten An-forderungen und Einschränkungen ist, wodurch bestimmte Technologien, so-ziale Ordnungen (wie Familiensystem), Verhaltensmuster und Erziehungsstile

herausgebildet werden, die dann die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen (Berry, 1976; B. B. Whiting, 1963). Auf Grund von Daten aus 18 Kulturen unterschiedlicher Größe, Winschafts- und Familienorganisation konnte Berry (1976,1981) Zusammenhänge zwischen ökologischen und ökonomischen Va-riablen und dem kognitiven Stil nachweisen.

Zur Beschreibung von Kulturen reichen jedoch nicht allein Wirtschaftsformen aus. Vielmehr sind diese als Bedingungsfaktoren für bestimmte Familiensys-teme zu untersuchen, die ihrerseits die Entwicklung von Kindern beeinflussen.

Dies zeigt die extensive und einflussreiche systematische Untersuchung zu so-zioökonomischen und kulturellen Unterschieden in Familiensystem, EIternver-halten und Entwicklung von Kindern, die berühmte "Six Cultures Study" von B. B. Whiting und

J.

W M. Whiting (1975). Diese Studie hatte zum Ziel, die Zusammenhänge zwischen Makro- und Mikrovariablen des sozioökonomischen Systems und der Familienstruktur auf der einen Seite und der Persönlichkeits-entwicklung von Kindern auf der anderen Seite im einzelnen durch Beobach-tungsstudien empirisch zu untersuchen.

B. B. Whiting und J. W M. Whiting haben Stichproben von Kindern zwischen 3 und 11 Jahren aus Familien mit ländlicher Subsistenzwirtschaft in Indien, Ja-pan, Kenia, Mexiko und den Philippinen sowie auch aus urbanen Familien der USA in ihre Untersuchung einbezogen. Die Grundidee war, den Komplexitäts-grad der Gesellschaften zu variieren und zu prüfen, ob in einfachen Gesellschaf-ten ohne hierarchisch klar definierte Autoritätsstruktur ein hohes Maß an Koope-ration innerhalb der Familien besteht und Kinder hohe soziale Verantwortung lernen. In komplexen Gesellschaften hingegen werden Kinder eher zu Wettbe-werb und Leistung erzogen. Tatsächlich zeigten sich entsprechende Unterschiede im Sozialverhalten auf der Dimension "egoistisch-verantwortungsvoll". Weitere Unterschiede wurden in Bezug auf die Haushaltsstruktur nachgewiesen (Kern-vs. Großfamilie, Mono- (Kern-vs. Polygamie). Bei ho her sozialer und technischer Kom-plexität treten eher soziale Verhaltensstile wie ,,Abhängigkeit vs. Dominanz" und in weniger komplexen Kulturen eher Verhaltensmerkmale wie "Helfen/Verant-wortung" auf. Eine andere Dimensionalisierung von Kulturen ergab, dass in Kulturen mit Kernfamilienstruktur eher ein sozial-intimes Verhalten und in Kul-turen mit Großfamilienstruktur eher ein autoritatives und aggressives Verhalten vorherrscht (zu kulturspezifischen Familienformen vgl. Nauck, im Band "The-orien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie").

In diesen Studien wurde zunächst zwar eine einseitige Einflussrichtung von Sei-ten der kulturellen Umwelt auf die Entwicklung nahe gelegt. Auch Untersuchun-gen zum Elternverhalten (B. B. Whiting, 1963) ließen zunächst die eiUntersuchun-gentlichen Prozesse unklar, die Eltern-Kind-Beziehungen in diesen Gesellschaften struk-turieren und durch die sich die verschiedenen Merkmale des Sozialverhaltens

entwickeln. Die in der Ontogenese wirksamen Wechselwirkungsprozesse wur-den jedoch später von B. B. Whiting (1981) wie folgt diskutiert.

In dem von B. B. Whiting (1981) elaborierten Modell der Entwicklung der Per-sönlichkeit wird angenommen, dass die natürliche Umgebung einer Gesellschaft (wie die physische Umwelt, die ökologischen Gegebenheiten, die klimatischen Bedingungen) die soziale Struktur und das Verhalten der Menschen (u. a. auch die Erziehungsmethoden) der Gesellschaft beeinflusst, und dass dadurch wiede-rum das kulturelle, projektiv-expressive gesellschaftliche System beeinflusst wird (B. B. Whiting, 1981). B. B. Whiting und

J.

W M. Whiting (1975) verstehen somit kulturelle Systeme als eine einzigartige Konfiguration von Anpassungs-vorgängen, in denen wirtschaftliches, technologisches und organisatorisches Handeln verknüpft ist und die die mentalen Prozesse und Erfahrungen des Men-schen bestimmen (B. B. Whiting, 1981). Mit der "Six-Culture-Study" ist deut-lich geworden, dass verschiedene Ebenen des Ökosystems einer Kultur zu dif-ferenzieren und in ihren jeweiligen Einflüssen auf die menschliche Entwicklung zu untersuchen sind. Das zunächst relativ einfache ökologische Modell ist u. a.

durchArbeiten von B. B. Whiting (1976,1981) sowie Cole und Cole (1989) re-vidiert worden. Danach beeinflussen einerseits direkte Interaktionen der Eltern mit dem Kind sowie andererseits die Kontexte, in denen das Kind aufwächst, dessen Persönlichkeitsentwicklung.

Bronfenbrenner (1979) trägt ähnlich in seinem ökologischen Modell dem Ge-danken Rechnung, dass globale Kontexte auf verschiedenen Ebenen (dem Ma-kro-, Exo-, Meso- und Mikrosystem) menschliches Handeln beeinflussen. (Aller-dings hat sich Bronfenbrenner weniger mit dem Kulturkonzept befasst.) Nach diesem Modell ist die menschliche Entwicklung als ein in verschiedene kulturelle Kontexte eingebettetes Handeln zu verstehen, wobei die verschiedenen Ebenen auf Grund von Wechselwirkungen miteinander verknüpft sind. Diese ökopsy-chologische Sichtweise verdeutlicht, wie individuelle psyökopsy-chologische Prozesse mit Kultur verbunden sind, dass psychologische Prozesse ohne Berücksichtigung des Kontextes nicht zu erklären sind, und dass sie ihre Funktion erst durch die Ein-bindung in die verschiedenen Kontexte erhalten. Mit dieser Auffassung wird die kausale Sichtweise von Kultur und Entwicklung (mit dem Fokus auf "relevante Variablen" der Kultur) verlassen und es werden kontextgebundene Bedeutungen thematisiert.

3.2.4 Kultur als Wertsystem

Während der oben skizzierte sozioökologische Ansatz von relativ materiellen As-pekten von Kultur ausgeht und Beziehungen zu psychologischen Prozessen nicht auf den ersten Blick erkennbar sein mögen, geht ein anderer Ansatz, der

Kultu-ren aufWertedimensionen beschreibt, von vornherein eher von psychologischen Präferenzen aus. Danach können Kulturen unter dem Aspekt der in ihnen vor-herrschenden Werthaltungen differenziert werden. Dafür lassen sich zum einen auf der Makroebene institutionalisierte Werte wie Religion, Verfassung und Rechtssystem verwenden. Zum anderen sind die individuellen Werthaltungen zu berücksichtigen. Allerdings müssen diese keineswegs inhaltlich mit den in-stitutionalisierten Werthaltungen gleich sein, schon weil interindividuelle Un-terschiede in der Fähigkeit und Bereitschaft bestehen, allgemeine kulturelle ("formale") Werte zu internalisieren. Aus den aggregierten individuellen Wert-haltungen lassen sich empirisch Kulturdimensionen von WertWert-haltungen feststel-len (vgl. Hofstede, 1980, im Band "Theorien und Methoden der kulturverglei-chenden Psychologie"). Mit den Kulturdimensionen von Werten (Aggregierung individueller Werte) lässt sich Kultur als Analyseeinheit verwenden. Die Analyse-einheit der individuellen Werthaltungen hat eine eigene theoretische Bedeutung.

Die Varianz von individuellen Werthaltungen innerhalb einer Kultur ist unter-schiedlich. Sie kann relativ groß sein in Kulturen, in denen "individualistische"

Werthaltungen bevorzugt werden oder in Kulturen, die auf Grund von Wandel und pluralistischen Werten wenig homogen sind. Daher ist es sinnvoll, auf der individuellen Ebene die individuellen Werthaltungen bzw. auch die Wahrneh-mung und Akzeptanz der allgemeinen kulturellen Werte zu erfassen.

Sozioökonomische Bedingungen und Werte stellen jeweils spezifische Indika-toren dar; ob und wie diese IndikaIndika-toren auf der Kulturebene zusammenhängen, ist eine empirische Frage. Eine weitere Frage ist, wie Kultur- und Individual-ebene miteinander zusammen hängen. In verschiedenen Kulturen mit einem ähnlichen sozioökonomischem System können jeweils unterschiedliche indivi-duelle Werthaltungen bestehen; auch können innerhalb einer Kultur indiviindivi-duelle Werthaltungen variieren.

Ein Beispiel für einen Forschungsansatz, der zunächst nur von ökonomischen Faktoren als Bedingung für Kulturunterschiede im Verhalten ausging, der dann individuelle Werthaltungen und schließlich auch die Weitergabe von Werten als wichtige Erklärungsvariable einbezog, ist die "Value-of-Children and Inter-generational Relations" Studie (Trommsdorff & Nauck, 2005, 2006). In der frü-hen Originalstudie zu "Value-of-Children" (vgl. Arnold et al. , 1975; Fawcett, Arnold & Stalb, 1975) gingen die Autoren zunächst davon aus, dass ökonomi-sche Bedingungen die Geburtenrate beeinflussen. Später wurde erkannt, dass der Wert, den Kinder (Töchter oder Söhne) für Eltern haben, als eine relevante Variable zu berücksichtigen ist (vgl. Kagitcibasi, 1984, 199Gb). In wirtschaft-lich deprivierten Ländern haben Kinder (vor allem Söhne) einen hohen Wert, weil sie zum Familieneinkommen beitragen und später die alten Eltern versor-gen. In vielen Industrienationen werden hingegen eher die Kosten von Kindern akzentuiert, und der "Wert von Kindern" verändert sich von ökonomischen zu

emotionalen Werten. Der "Wert von Kindern" beeinflusst die Fertilitätsentschei-dungen von Eltern sowie auch das elterliche Erziehungsverhalten (Hoffman, 1987; Kagitcibasi, 1996b, 2005; Nauck, 2005; Mayer, Albert, Trommsdorff &

Schwarz, 2005; Trommsdorff, Mayer & Albert, 2004; Trommsdorff & Nauck, 2005, 2006). Dies wiederum bedeutet, dass Eltern damit ihrerseits bestimmte Werte an ihre Kinder vermitteln (Trommsdorff, 2005a). So lassen sich teilweise Zusammenhänge zwischen distalen ökologischen und proximalen Sozialisations-bedingungen in ihrem Einfluss auf Entwicklungsergebnisse sowie auf intergene-rationale Transmission von Werten erklären.

Im Folgenden werden die zentralen Aussagen der wichtigsten Vertreter kultur-vergieichender Werte-Studien vorgestellt (vgl. Übersicht von Vinken, Soeters &

Ester, 2004). Hofstede (1980, 2001, im Band "Theorien und Methoden der ku 1-turvergleichenden Psychologie") hat mit der Erfassung von arbeitsspezifischen Werten bei Angestellten eines multinationalen Unternehmens in den Jahren 1968 und 1972 die empirischen Grundlagen für Analysen zum Zusammenhang von Werten, Verhalten, Institutionen und Organisationen im internationalen Ver-gleich (von 50 Ländern) gelegt. Er unterscheidet Kulturen gemäß fünf Haupt-dimensionen: Individualismus - Kollektivismus, Feminitität - Maskulinität, Machtdistanz, Unsicherheitsvermeidung; lang-versus kurzfristige Zeitorientie-rung (letztere Dimension kam später hinzu). Zwar ist die Dimension "Individu-alismus - Kollektivismus" in der kulturvergleichenden Forschung mit Abstand am meisten verwendet worden. Aber Hofstede hatte nicht beabsichtigt, Kulturen schlicht auf nur einer Dimension zu klassifizieren. Auch ist inzwischen eingehend diskutiert worden, ob Individualismus - Kollektivismus wirklich zwei Pole einer Dimension darstellen, oder ob es sich nicht um zwei Dimensionen handelt (Kagit-cibasi, 1996a, b). Weiter hat sich viel Kritik an dem Missverständnis entzündet, dass mit den Konzepten "Individualismus - Kollektivismus" sowohl Werthaltun-gen auf der Ebene von Kulturmerkmalen als auch auf der individuellen Ebene gemeint sind. Beide Ebenen sind voneinander zu unterscheiden. Die Kultur-merkmale wurden zwar als individuelle Orientierungen gemessen, sie werden jedoch als aggregierte Daten zur globalen Beschreibung von Kulturen verwendet.

Daher differenziert Triandis (1995) zwischen Kultur-und Individualebene. Um individuelle Werthaltungen zu beschreiben, hat er das Konzept des Allozentris-mus und IdiozentrisAllozentris-mus eingeführt. Auf dieser Grundlage sind zahlreiche kul-turvergleichende Studien entstanden, die erlauben, individuelles Verhalten und soziale Interaktionen auf der Grundlage dieser Dimensionen vorherzusagen und zu erklären. Triandis (I 991, 1993, 1995) bevorzugt nur eine grundlegende Di-mension zur Klassifikation von Kulturen: Individualismus und Kollektivismus.

Danach bedeutet Kollektivismus die Betonung der Bedürfnisse und Ziele der Eigengruppe (nicht der eigenen Person); Verhalten ist hier eher durch

gemein-same (und weniger durch persönliche) Ziele und mit der Gruppe geteilte Über-zeugungen bestimmt sowie durch die Bereitschaft, mit den Gruppenmitglie-dem zu kooperieren und sich den sozialen Normen und Erwartungen anzupas-sen. Individualismus hingegen bedeutet die Überordnung eigener Ziele über die der Gruppe, was u. a. zu interpersonalen Konflikten führen kann. Triandis diffe-renziert weiter nach horizontalem und vertikalem Individualismus und Kollek-tivismus (vgl. hierzu Hofstedes Dimensionen von Individualismus - Kollektivis-mus und Machtdistanz), wobei die Wahrscheinlichkeit horizontaler Beziehungen höher in individualistischen als in kollektivistischen Kulturen ist.

Trotz der berechtigten Kritik von Oyserman, Coon und Kemmelmeier (2002), dass keineswegs alles Verhalten durch diese Wertedimension vorherzusagen ist, gelten Individualismus und Kollektivismus heute immer noch als die wichtigs-ten Kulturdimensionen und Wertekonzepte für kulturvergleichende Forschun-gen (vgl. Oerter, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie").

Ähnlich wie Hofstede geht auch Shalom Schwartz (vgl. u. a. Schwartz, 2004) davon aus, dass die vorherrschenden Werthaltungen in einer Gesellschaft die eigentlich zentralen Merkmale einer Kultur ausmachen, da sie die individuellen Überzeugungen, Handlungen und Zielsetzungen beeinflussen. Schwartz hat in zahlreichen Studien in über 75 % der Weltbevölkerung Daten zu seinem Werte-Inventar erhoben. Er hat damit eine empirische Grundlage für eine umfassende Typologie von Kulturdimensionen gelegt, die universelle Werte repräsentieren, die in verschiedenen Kulturen jedoch unterschiedlich ausgeprägt sind. Er un-terscheidet zwischen zehn als universell angenommenen (und nach dem Modell auch koexistierender) Wertetypen: Macht, Leistung, Hedonismus, Stimulation, Selbstbestimmung, Universalismus, Prosozialität, Tradition, Konformität und Sicherheit. Alle Werte werden auf Grund der speziellen Datenanalyse (smallest space analyses) auf einem Zirkel angeordnet, wobei ähnliche Werte als benach-bart und unterschiedliche Werte auf der gegenüberliegenden Seite des Zirkels erscheinen. Zwei Achsen teilen den Zirkel (eine von oben nach unten und eine von links nach rechts), so dass vier Quadranten entstehen, die jeweils zwei

Di-mensionen mit jeweils zwei verschiedenen Polen enthalten:

Offenheit für Wandel (z. B. Stimulation, Hedonismus) versus Konservatis-mus (z. B. Konformität, Sicherheit);

Selbsterhöhung (z. B. Leistung, Macht) versus Selbsttranszendierung (z. B.

Universalismus und Prosozialität).

Auf der Grundlage von Analysen der zehn Werte identifiziert Schwartz sieben Werte-Typen auf der Kulturebene: Konservatismus, intellektuelle und affektive

Autonomie, Hierarchie, Kontrolle (Mastery), egalitäres Commitment und Har-monie. Diese Werte auf Kulturebene sieht Schwartz als Ergebnis von Einstellun-gen zu vier gesellschaftlichen Problemen, die sich teilweise mit den Werte-Di-mensionen des Individualismus - Kollektivismus bei Hofstede überlappen (vgl.

Kornadt, in diesem Band, sowie Oerter, im Band "Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie").

Weiter sei Inglehart (1990, 1997) mit seinen Studien zum Wertewandel (Silent Revolution) genannt. Inglehart nimmt einen weltweiten Wertewandel von ma-terialistischen zu postmama-terialistischen Werten an und belegt seine Theorie auf der Grundlage zahlreicher Umfrageergebnisse. Grundlage seiner Theorie sind zwei Thesen: 1. die Knappheitsthese besagt, dass individuelle Werthaltungen die sozioökonomischen Bedingungen spiegeln insofern als die Bereiche am höchs-ten bewertet werden, die am wenigshöchs-ten verfügbar sind; 2. die Sozialisationsthese

Weiter sei Inglehart (1990, 1997) mit seinen Studien zum Wertewandel (Silent Revolution) genannt. Inglehart nimmt einen weltweiten Wertewandel von ma-terialistischen zu postmama-terialistischen Werten an und belegt seine Theorie auf der Grundlage zahlreicher Umfrageergebnisse. Grundlage seiner Theorie sind zwei Thesen: 1. die Knappheitsthese besagt, dass individuelle Werthaltungen die sozioökonomischen Bedingungen spiegeln insofern als die Bereiche am höchs-ten bewertet werden, die am wenigshöchs-ten verfügbar sind; 2. die Sozialisationsthese

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