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2   Geschlecht

2.2   Erklärungsansätze der Geschlechtsunterschiede

2.2.4   Sozialisation der Geschlechtsunterschiede

Menschen sind nicht nur durch ihre genetische Veranlagung und durch das Wirken der Hormone in ihrem Körper determiniert, sondern interagieren ebenso mit ihrer Umwelt, werden von dieser geprägt. Individuen werden von ihrer Umgebung sozialisiert und sozialisieren sich selbst. Dabei sind Erwar-tungen und Stereotype besonders geschlechterdivergierend. Kinder werden je nach Geschlecht mit abweichenden Botschaften, Modellen, Belohnungen und Bestrafungen konfrontiert (Halpern 1997). Ob diese geschlechtsspezifischen

Erfahrungen so unmittelbar das Verhalten bzw. Fähigkeiten prägen, ist durchaus umstritten.

Beispielsweise lösen Jungen bei Intelligenztests die Aufgabe der menta-len Rotation von Würfeln durchschnittlich besser als Mädchen (Bischof-Köhler 2004, Lubinski 2004). Holling et al. (2004) argumentierten, Jungen erhielten mehr Spielzeuge, die räumliche Fähigkeiten förderten (etwa Bau-klötze, Lego® oder STOKYS), und dass ihnen mehr Bewegungsfreiheit zuge-standen werde. Dies könnten Gründe für die relativ konsistenten Unterschie-de im Bereich Unterschie-des räumlichen Denkens zwischen Unterschie-den Geschlechtern sein.

Obwohl die Unterschiede nicht nur aus dem (Spiel-)Verhalten entstehen, so verstärkt es doch die allfälligen Dispositionen. Ein weiteres Indiz für die Erklärung der Unterscheide zwischen den Geschlechtern liefert die Beobach-tung, dass Frauen mit weniger ausgeprägten Geschlechtsrollenstereotypen in räumlichen Aufgaben besser abschnitten als Frauen mit stärker ausgeprägten (Krasnoff et al. 1989). Je wirksamer die Stereotypen das Denken beeinflus-sen, desto größer sind die Unterscheide zwischen den Geschlechtern.

Die beiden Geschlechter werden mit geschlechtsspezifischen Einflüssen konfrontiert und entwickeln eventuell gerade deshalb unterschiedliche Inte-ressen. Laut einer Befragung von Studierenden an einem College verbrachten die Männer viel mehr Zeit mit Sport, Feiern, Fernsehen und Computerspielen als ihre Kommilitoninnen (Halpern 1997). Beispielsweise beschäftigten sich 37 Prozent dieser jungen Männer mehr als eine Stunde pro Woche mit Vi-deospielen, während dies nur gerade 7 Prozent der Frauen taten. Frauen in dieser Altersgruppe verbrachten viel mehr Zeit mit Haushalt, Kinderpflege, Lesen zum Vergnügen, Lernen und Freiwilligenarbeit. Halpern (1997: 1096) bringt die Befunde folgendermaßen auf den Punkt: „On average, women and men live systematically different lives.“

Wie sich diese unterschiedlich stark ausgeprägten Interessen und Le-bensweisen ausbilden, könnte mehrere Gründe haben. Es ist zu erwarten, dass mehrere Faktoren in die gleiche Richtung wirken. Neben genetischen Prädis-positionen tragen Modelle und Erwartungen der Umwelt zusätzlich dazu bei, bestimmte Aktivitäten und Fähigkeiten auszuführen und zu fördern. Schließ-lich werden jene Tätigkeiten beibehalten, die von der Umwelt positiv bewer-tet und damit verstärkt werden.

Wie stark sich Erwartungshaltungen auf die Performanz auswirken kön-nen, demonstriert eine weitere Studie von Halpern (1997). Der Hälfte der teilnehmenden Frauen wurde gesagt, dass der Test, den sie gleich lösen soll-ten, Geschlechterunterschiede aufweise. Die Gruppe mit dieser Bedingung erreichte eine signifikant schlechtere Leistung als wenn gesagt wurde, dersel-be Test sei geschlechtergerecht. Diese Ergebnisse dersel-belegen, wie die Aktivie-rung eines negativen Stereotyps die Leistung beeinflussen kann.

Ein Ziel der Koedukation in der Schule, also des gemeinsamen Unterrich-tens von Mädchen und Jungen, war die Gleichstellung von Schülerinnen und

Schülern und somit die Verbesserung der Chancengleichheit von Frau und Mann. Auf die umfangreichen Forschungen in den 1980er-Jahren folgte ent-gegen allen Erwartungen keine substanzielle Nivellierung zwischen den Ge-schlechtern. Pointiert zusammengefasst lässt sich sagen: Mädchen werden in der Schule gescheit und Jungen selbstbewusst (z.B. Rustemeyer 1988, Rus-temeyer/Jubel 1996). Den Vorsprung in den schulischen Leistungen konnten die Mädchen jedoch nicht ins Berufsleben mitnehmen.

Der Erfolg, den sie [die Mädchen, Anm. des Autors] hinsichtlich der erzielten Ab-schlüsse und Noten verzeichnen können, steht in erheblicher Diskrepanz zu dem im Vergleich zu den Jungen weit weniger ausgeprägten Selbstvertrauen, das sie während der Schulzeit aufbauen können. (Horstkemper 1995: 218)

Als Erklärungsansatz für diesen Befund ist einerseits der Attributionsstil zu nennen, wonach Mädchen und Frauen die Tendenz haben, Misserfolg auf selbstwertgefährdende Art Ursachen zuzuschreiben, nämlich internal, global und stabil (Horstkemper 1995). Das heißt, sie suchen Erklärungen für ihre weniger guten Leistungen in der eigenen (Un-)Fähigkeit (internal) statt in der Schwierigkeit der Aufgabe (external). Sie beziehen die negative Rückmel-dung aus einer einzelnen Situation eher auf andere (global), statt sie als ein-maligen Ausrutscher einzuordnen (lokal). Sie werten Misserfolg häufiger als immerwährendes Versagen (stabil) statt als einmaliges Ereignis (variabel).

Zusätzlich bekommen Mädchen und Jungen vonseiten der Lehrkräfte unter-schiedliche Rückmeldungen, sogar wenn diese noch so sehr darauf achten, weder das eine noch das andere Geschlecht zu bevorzugen.

Abbildung 2.2: Geschlechtstypische Verteilung von Lob und Tadel

Tadel Lob

ordentliches Betragen

♂ ♀ ♂ ♀

Fleiß

♂ ♀ ♂ ♀

Arbeitsstil

♂ ♀ ♂ ♀

intellektuelle Leistung

♂ ♀  ♂ ♀

stark schwach schwach stark Quelle: Darstellung nach Bischof-Köhler (2004: 282).

In einer Studie von Dweck et al. (1978) ergab sich in den vier untersuchten Bereichen ‚ordentliches Betragen‘, ‚Fleiß ‘, ‚Arbeitsstil‘ und ‚intellektuelle Leistung‘ ein einheitliches Bild: Jungen werden öfter getadelt und Mädchen öfter gelobt. Einzig im Bereich der ‚intellektuellen Leistung‘ werden die

Jungen etwas mehr bestätigt als in den anderen Bereichen, die Mädchen hin-gegen etwas öfter korrigiert als in anderen Bereichen (Dweck et al. 1978, vgl.

Abbildung 2.2). Bischof-Köhler (2004) beschreibt die Tatsache, wonach Mädchen trotz verstärkten Lobens über ein geringeres Selbstvertrauen verfü-gen, folgendermaßen:

Wenn die Mädchen also überhaupt getadelt wurden, dann in erster Linie für intellektuel-les Versagen, und das ‚fuhr‘ ihnen natürlich ‚ein‘. Wenn man nun berücksichtigt, dass sich Mädchen generell Tadel mehr zu Herzen nehmen, dann ist leicht abzusehen, dass diese Verstärkungspraxis das Vertrauen in das eigene intellektuelle Können kaum för-dert; das Lob in diesem Bereich ging ja bei der allgemeinen Lob-‚Inflation‘ unter. (Bi-schof-Köhler 2004: 282)

In diesem Unterkapitel über Geschlechtsunterschiede stellte ich dar, dass es durchaus naturbedingte Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, doch dass zusätzlich starke kulturelle Phänomene dazu beitragen, die tatsächlichen und die vermeintlichen Unterschiede manifest zu machen. Ob sich die Ar-beitsteilung zwischen den Geschlechtern auf die parentale Investition zurück-führen lässt, erscheint ebenso fraglich wie ob und inwiefern die zahlreichen Befunde aus der Hirnforschung relevant sind, wenn es darum geht, sich zwi-schen komplexen beruflichen Tätigkeiten zu entscheiden.

Insgesamt durchlaufen Mädchen und Jungen, Frauen und Männer eine ähnliche Entwicklung, die geprägt ist von vielen gleichen Voraussetzungen.

Unterschiede treten dann in Erscheinung, wenn sie das Fortbestehen der Menschheit (der eigenen Art bzw. der Weitergabe der Gene) tangieren oder zwingend notwendig sind. Einige vermeintliche Tatsachen, was die Ge-schlechterdifferenzierung anbelangt, erscheinen willkürlich, ja künstlich und ungerechtfertigt.

In dieser Arbeit stehen Personen mit einem geschlechtsuntypischen Beruf im Mittelpunkt. Dafür ist zum einen von Belang, wie sich die Segregation der Geschlechter im Leben und in der Berufswelt etablieren konnte, und zum andern, wie sich die Vorherrschaft des männlichen Geschlechts entwickeln konnte. Das folgende Unterkapitel gibt einen Einblick in diese Thematik.