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1   Beruf und berufliche Grundbildung

1.3   Berufsfindung und Berufseinmündung

1.3.4   Betriebliches Anstellungsverhalten

In den vorangegangen Abschnitten lag der Fokus der Betrachtung bei den Lehrstellensuchenden und ihren Berufsfindungsprozessen. Die Perspektive wechselt nun zu denjenigen Personen in den Betrieben, die Jugendliche ein-stellen und ausbilden wollen. Das Anstellungsverhalten von Lehrverantwort-lichen in Betrieben ist entscheidend, denn sie bestimmen, an wen eine Lehr-stelle vergeben wird. Für Betriebe ist die Ausbildung von Lernenden eine Investition in die Zukunft des Unternehmens. Mit dem Versuch zur Minimie-rung der Risiken reproduziert sich jedoch die Geschlechterordnung. Diese Mechanismen werden im Folgenden beschrieben.

Die Motivation von Betrieben, sich in der Ausbildung von Lernenden zu engagieren, gründet zu einem erheblichen Teil in ihrer sozialen Verantwor-tung und der Sicherung des Nachwuchses von Fachkräften (Stalder 1999).

Das übergeordnete Ziel des Unternehmens bleibt weiterhin bestehen: die Produktivität zu garantieren und mindestens so viel Geld zu verdienen, dass der Betrieb aufrechterhalten, also Rechnungen und Löhne bezahlt werden können und in die Zukunft des Unternehmens investiert werden kann. Im Durchschnitt ist die Wertschöpfung, die Lernende generieren, etwas höher als die Kosten, die ihre Ausbildung verursacht (Mühlemann et al. 2007). Zu Beginn der Berufslehre investiert jedoch vor allem das Unternehmen, da Lernende meist noch nicht produktiv eingesetzt werden können. Betriebe sind deshalb daran interessiert, diejenigen Jugendlichen als Lernende zu gewinnen, die eine hohe Chance haben, die Berufslehre erfolgreich

abzu-schließen und wenn möglich im Betrieb weiterzuarbeiten. Vorzeitige Lehr-vertragsauflösungen (vgl. Abschnitt 1.5.2 und Kapitel 5) bedeuten für die Betriebe neben menschlichen insbesondere finanzielle Verluste (Imdorf 2012a, Wettstein/Gonon 2009).

Mit den Betrieben beteiligt sich die öffentliche Hand an den Ausbil-dungskosten. Beispielsweise tragen die Kantone die Hauptlast der Berufs-fachschulen (Wettstein/Gonon 2009). Für die Betriebe selbst sind primär die Kosten relevant, die die Berufsbildung intern verursacht. Eine Lehrstelle kostet pro Jahr durchschnittlich zwischen 20'000 und 30'000 Franken (Schweri et al. 2003). An diesen Kosten machen je ca. 45 Prozent die Löhne der Ausbildenden und der Lernenden aus. Ca. 10 Prozent entfallen auf Sach-werte wie Einrichtung, Räume und Material. Der Betrieb muss die Mehrkos-ten für die Ausbildung tragen, die zu Beginn der Berufslehre nicht durch die Produktivität der Lernenden abgedeckt werden. Gegen Ende der Berufslehre ist es umgekehrt: Die Lernenden können nun produktiv eingesetzt werden und generiert mit ihrer Arbeitskraft einen Überschuss. Einige Berufslehren haben höhere Investitionskosten, und diese zahlen sich erst aus, wenn die Jugendlichen nach der Berufslehre noch einige Zeit im Lehrbetrieb weiterar-beiten. Lehrabbrüche und vorzeitige Lehrvertragsauflösungen sind für die Betriebe also mit Verlusten verbunden (Wettstein/Gonon 2009). In den Wor-ten von Wettstein: „Abgebrochene Ausbildungen […] stellen hingegen ein Verlustgeschäft dar, ganz abgesehen von Ärger und Enttäuschung“ (2008:

10).

Lehrvertragsauflösungen verursachen finanzielle Einbußen, das Fehlen von Fachkräften und viel administrative Arbeit. Ausbildungsverantwortliche wählen deshalb jene Jugendlichen aus, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die Berufslehre abschließen werden. Diese antizipierte Einschätzung basiert meist auf heuristischen Überlegungen und führt, wie ich im Folgenden an-hand der Arbeit von Imdorf (2012a) darstellen werde, zum Erhalt der ge-schlechtlichen Segregation im Ausbildungsmarkt und schließlich im Ar-beitsmarkt selbst.

Ausbildungsverantwortliche in den Betrieben vergeben ihre Ausbildungs-plätze aufgrund von Kriterien wie Fähigkeiten, Interesse und Einsatzbereit-schaft. Daneben stützen sich Arbeitgebende auf offensichtliche, sogenannte askriptive Merkmale wie Alter, Nationalität und Geschlecht. Ausbildende in kleineren und mittleren Ausbildungsbetrieben ziehen diese askriptiven Ei-genschaften über Lernende heran, um eine Entscheidung bei oft schwer abzu-sichernden Einschätzungen im Bewerbungsverfahren zu fällen. Doch genau dies führt zur Benachteiligung von Personen, die den vermeintlich relevanten Kriterien nicht entsprechen (Imdorf 2010, 2012a, 2012b, Scherr et al. 2015).

Beim askriptiven Merkmal Geschlecht führt dies zu geschlechtstypischen Lehrstellenvergaben: „Sobald die Arbeitgeber Jugendliche bei der Ausbil-dungsplatzvergabe aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit nicht gleichwertig

beurteilen, tragen Erstere ebenso zur Geschlechtersegregation des Ausbil-dungssystems bei“ (Imdorf 2012a: 244). Warum dem so ist, stellen folgende Ausführungen dar.

Imdorf (2012a) erklärt die Begründung des Einstellungsverhaltens der Ausbildenden mit der Rechtfertigungstheorie von Boltanski und Thévenot (2007). Diese Rechtfertigungstheorie nennt vier zentrale Koordinations- und Ordnungsprinzipien, sogenannte Welten: die häusliche, die staatsbürgerliche, die industrielle und die marktförmige Welt. 1) Die Argumente aus der ‚häus-lichen Welt‘ stellen das Herkömmliche und Bekannte in den Mittelpunkt.

Dazu gehören traditionelle Geschlechterverhältnisse, wertkonservative Ge-schlechterrollen oder heteronormative Paar- und Geschlechterbeziehungen.

Lernende des anderen Geschlechts würden demnach die innerbetrieblichen Sozialbeziehungen stören. Dazu gehören Überlegungen seitens der Ausbil-denden, dass etwa die rüden Umgangsformen in Werkstätten und auf Bau-stellen keine geeignete Lernumgebung für eine junge Frau sind oder ein männlicher Jugendlicher zu wenig Einfühlungsvermögen für die Betreuung von Kleinkindern hat. 2) Erklärungsmodelle der ‚staatsbürgerlichen Welt‘

verweisen auf die Solidarität, auf das Prinzip der Chancengleichheit und darauf, dass Frauen und Männer gleichermaßen für die jeweiligen Tätigkeiten geeignet sind. 3) Rechtfertigungen aus der ‚industriellen Welt‘ betonen die Effizienz in der Produktivität der Unternehmung. Beispielsweise dominiert dabei das Argument – trotz fehlender empirischer Grundlage –, dass Frauen aufgrund ihrer körperlichen Voraussetzungen (Kraft und Belastbarkeit), aber auch aufgrund ihres technischen Verständnisses und ihrer manuellen Fertig-keiten weniger geeignet sind als Männer. 4) Die Rechtfertigungen für Un-gleichbehandlung in der ‚marktförmigen Welt‘ beziehen sich auf die Konkur-renz zwischen den Geschlechtern. Den Unternehmen geht es unter anderem darum, Fehlinvestitionen zu vermeiden. Erwartungen können deshalb dazu führen, dass ein Geschlecht bevorzugt wird. Dazu gehören etwa die Annah-men, dass Frauen wegen Schwangerschaft, Mutterschaft und Familienpflich-ten früher als Männer aus dem Unternehmen austreFamilienpflich-ten oder dass Männer in frauentypischen Berufen die höhere Fluktuation aufweisen. Für die Selektion von Frauen können sich notwenige Investitionen zur Einhaltung gesetzlicher Vorschriften (z.B. geschlechtergetrennte sanitäre Anlagen, Mutterschaftsur-laub) als nachteilig erweisen.

Die Vergabe der Lehrstellen weist Verzerrungen aufgrund der Ge-schlechtszugehörigkeit auf und wirkt sich verstärkend (evtl. sogar vorweg-nehmend) auf die Selbstselektion der Jugendlichen aus. Diese verwenden meist unbewusst das Geschlecht eines Berufs als Auswahlkriterium für die Lehrstelle und setzen die Berufsrolle als Konstruktionshilfe für die Darstel-lung ihre eigenen Weiblichkeit bzw. Männlichkeit ein (vgl. Unterkapitel 1.1

‚Geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarkts‘). Die berufliche Segregation nach Geschlecht und die vielschichtigen Verschränkungen von Geschlecht

mit Familie, Schule und Arbeit schlagen sich in der beruflichen Grundbil-dung nieder. Der Kontext der Untersuchungen in der vorliegenden Arbeit ist das schweizerische Berufsbildungssystem. Die Besonderheiten dieses Sys-tems werden im folgenden Unterkapitel vorgestellt.