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1   Beruf und berufliche Grundbildung

1.2   Berufliche Sozialisation

‚Sozialisation‘ bezeichnet den allgemeinen und umfassenden Prozess, in dem das Individuum im Umgang mit anderen Menschen aktiv und passiv in im-pliziten und exim-pliziten Lernprozessen gesellschaftliche und kulturelle Nor-men erwirbt und sich sozial relevante Erlebnis- und Verhaltensweisen aneig-net (vgl. Fröhlich 2000). Entwicklung geschieht verstärkt bei Übergängen, weil das Individuum herausgefordert wird, sich an neue Anforderungen und Bedingungen anzupassen. Sozialisation ist also ein andauernder Prozess der Akkulturation, Enkulturation, Personalisation und Vergesellschaftung. In diesem Prozess eignet sich das Individuum im wechselseitigen Austausch mit seiner sozialen Umwelt Verhaltensweisen und Normen eben dieser Umwelt an. Dieser Verlauf ist im Sinn von Durkin (2002: 55) zu verstehen: „Soziali-sation ist der Vorgang, bei dem sich Menschen die Verhaltensregeln und die Überzeugungs- und Einstellungssysteme aneignen, die einer Person ein Funktionieren als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft erlauben“. Nach Montada (1998: 57) erfolgt die Sozialisation „durch Anleitung und Anforde-rung, Information und BelehAnforde-rung, durch Beobachtung und Nachahmung von Vorbildern, durch Strafen und Belohnungen usw.“

Feij (1998) definiert die ‚berufliche Sozialisation‘ als einen Lernprozess, im Verlauf dessen Lernende Fähigkeiten, Wissen, Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen erwerben, die sie als integrierte Berufstätige auszeichnen und zu einem wertschöpfenden Mitglied der Unternehmung machen. Lempert (2002) versteht unter beruflicher Sozialisation die „Entwicklung, das heißt die Entfaltung, Verfestigung und Veränderung individueller Persönlichkeits-strukturen in Prozessen der direkten und indirekten Auseinandersetzung (In-teraktion) mit sozialen und sozial geprägten Merkmalen beruflicher und be-trieblicher Umweltstrukturen, die dadurch selbst reproduziert, aber auch transformiert werden können“ (Lempert 2002: 186). Dafür gilt die Anpas-sungsfähigkeit als Voraussetzung für eine gelungene Sozialisation (vgl.

Wang et al. 2011). Sternberg (1997) ordnet diese Anpassungsfähigkeit nicht etwa einer passiven Eigenschaft zu, sondern bezeichnet sie als Intelligenzleis-tung in den neuen Situationen. Sich an neue Situationen anzupassen und rasch Automatismen zu entwickeln, bedeutet wiederum, sich vom Anpas-sungsdruck zu entlasten.

Zwei wichtige Bereiche der beruflichen Sozialisation sind die soziale In-tegration in die Arbeitsgruppe des Lehrbetriebs und die Bewältigung der betrieblichen Anforderungen (vgl. Kammeyer-Mueller/Wanberg 2003, Neu-enschwander/Gerber 2014). Zum einen resultieren aus einer gelungenen sozialen Integration Gefühle von Zugehörigkeit und tragfähige Beziehungen zwischen den Arbeitsgruppenmitgliedern. Zum andern stützt sich die subjek-tive Wahrnehmung der Aufgabenbewältigung auf das Feedback der Mitarbei-tenden und Ausbildungsverantwortlichen. Neuenschwander und Gerber (2014) heben hervor, dass ein hoher Zusammenhang zwischen sozialer In-tegration und Aufgabenbewältigung im Lehrbetrieb besteht und dass die berufliche Sozialisation bereits in der obligatorischen Schule vorbereitet wird. Sowohl die soziale Integration als auch die Aufgabenbewältigung kön-nen mit der Passung der Lerkön-nenden zu ihrer Berufslehre, der Zufriedenheit mit der Berufslehre und der Intention, die Berufslehre abzuschließen, vorher-gesagt werden. Die hohe Korrelation zwischen der sozialen Integration in den Lehrbetrieb und den drei postulierten Erfolgsfaktoren, Passung, Zufriedenheit und Lehrabschlussintention, belegt die „hohe Bedeutung von sozialen Bezie-hungen für die Berufsausbildung“ (Neuenschwander/Gerber 2014: 257).

Eine unmittelbare Auseinandersetzung mit neuen Inhalten findet nach Lempert (2002) in Aus- und Fortbildungsgängen statt. Dabei unterstützt und motiviert der Wunsch, ein anerkanntes Mitglied der sozialen Einheit zu wer-den. Nach ihm lösen nicht nur Personenkontakte Sozialisationsprozesse aus, sondern auch der Umgang mit Werkzeugen und technischen Einrichtungen, da sie Produkte menschlicher Arbeit verkörpern und individuelle Handlungen sowie soziale und sozialisierende Interaktionen strukturieren.

Der Terminus ‚Sozialisation‘ kann weit gefasst werden und alle mensch-lichen Einflüsse beinhalten, die aus sozialen Interaktionen resultieren. In der vorliegenden Arbeit bezieht sich der Sozialisationsbegriff auf Erziehungs-, Bildungs- und Ausbildungsprozesse. Ein gelungener Sozialisationsprozess ermöglicht dem Individuum die Mitgliedschaft in der gewünschten sozialen Einheit. Der Wunsch, als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden und dazuzugehören, motiviert Jugendliche, diejenigen Fähigkeiten und Fertigkei-ten zu erwerben, die eine Mitgliedschaft ermöglichen (vgl. Lempert 2002).

Bammé et al. (1983) unterscheiden drei Etappen der beruflichen Soziali-sation: vor dem, für den und im Beruf. Während nach Heinz (1995) bei der Sozialisation vor dem Beruf besonders Elternhaus, Schule, Gleichaltrige und Berufsberatung auf Jugendliche im Berufsfindungsprozess den größten Ein-fluss ausüben (Abschnitt 1.2.1), gilt die Berufsbildung im Lehrbetrieb und in der Berufsfachschule als Sozialisation für den Beruf und die Erwerbstätigkeit als Sozialisation im Beruf (Abschnitt 1.2.2).

1.2.1 Familiäre und schulische Sozialisation vor dem Beruf

Die vorberufliche, antizipatorische Sozialisation geschieht hauptsächlich in der Familie und in der Schule. Die Familie übt durch ihren sozioökonomi-schen Status, ihr Anregungsniveau und die Prägung von Wertvorstellungen Einfluss auf die Berufsfindung aus. Die Schule wiederum stellt Weichen durch Berufswahlvorbereitungsunterricht in Form von Auseinandersetzung mit den individuellen Möglichkeiten, Kennenlernen von Berufen, Schnupper-lehren, Berufsberatung und nicht zuletzt mittels Benotung und Selektion (Bammé et al. 1983). Die geschlechts- und schichtspezifische Sozialisation in der Familie und in der Schule fördert und begrenzt jedoch den Erwerb von Fähigkeiten, Interessen und Wertvorstellungen für bestimmte Berufe und reproduziert sowohl die Ungleichheit in der Gesellschaft wie auch die ge-schlechtliche Segregation (Hurrelmann 2002).

1.2.2 Sozialisation durch den Beruf (für den und im Beruf)

Für Imdorf (2005) beginnt die berufliche Sozialisation von Jugendlichen mit dem Erhalt einer Lehrstelle. Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Lehrvertrags ist, dass sich die Jugendlichen für eine bestimmte Berufsausbil-dung entscheiden und die Zusage eines Betriebs für einen AusbilBerufsausbil-dungsplatz erhalten, was das Vertrauen ausdrückt, dass die Person mit den beruflichen und betrieblichen Anforderungen zusammenpasst (Neuenschwander/Gerber 2014, Neuenschwander et al. 2012). Die berufliche Ausbildung, die als So-zialisation für den Beruf bezeichnet werden kann, ist wesentlich durch die vorangegangen Etappen beeinflusst und wirkt sich wiederum auf die folgen-den Etappen aus. Es ist eine Übergangsphase, die die meisten in der Jugend durchlaufen und die durch viele andere Entwicklungsaufgaben geprägt ist (Bammé et al. 1983). Die Sozialisation im Beruf beginnt mit dem Eintritt in die Erwerbstätigkeit und ist ein lebenslanger Prozess der Persönlichkeitsent-wicklung, der durch geschlechts-, schicht- und berufsspezifische Selektions-, Bildungs- und Laufbahnmuster geprägt ist. Damit spiegelt die individuelle Entwicklung die hierarchische Gliederung der Gesellschaft wider (Bammé et al. 1983).

Die Berufsbildung im Sinn einer Sozialisation befähigt eine Person in ei-nem bestimmten Berufssegment und manifestiert sich in Form von Diplomen und Zertifikaten. Dies bedeutet jedoch auch eine Eingrenzung. Lempert (2002: 186f) beschreibt die Folgen derart, dass Ungleichheiten erhalten blei-ben und nicht abnehmen: „Indem sie Menschen nicht nur für verschiedenarti-ge berufliche Leistunverschiedenarti-gen ertüchtiverschiedenarti-gen und für andere eher untauglich machen, sondern ihnen zugleich unterschiedlich bewertete betriebliche und gesell-schaftliche Karrieren eröffnen und andere verschließen, tragen all diese

Pro-zesse eher zur Stabilisierung als zum Abbau sozialer Ungleichheit bei“.

Wenn Berufsbildung und berufliche Sozialisation derart den individuellen Werdegang und die gesellschaftlichen Bedingungen strukturieren, lohnt es sich, einen Blick auf den wichtigen Prozess der Berufsfindung zu werfen und die Frage zu stellen, ob sich in der Berufsfindung ebenso Erklärungen für die geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarkts finden lassen.