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9   Interviewstudie: Belastungen und Ressourcen

9.2   Forschungsvorgehen und Methode

9.3.1   Berufsfindung

Der Berufsfindungsprozess (vgl. Unterkapitel 1.3) beinhaltet eine längere Vorbereitungszeit, wird von mehreren Akteurinnen und Akteuren beeinflusst und findet mit der Entscheidung für den Ausbildungsberuf seinen zwischen-zeitlichen Höhepunkt. Bei den Jugendlichen, die in der vorliegenden Arbeit portraitiert werden, steht die Entscheidung für eine Ausbildung in der Be-rufsbildung im Fokus. Dabei fanden sich rückblickend und verallgemeinernd drei Kategorien: Wunschberuf, Zwischenstation und Notlösung/Zufall.

9.3.1.1 Wunschberuf

Dieser Kategorie wurden Aussagen zugeordnet, die einen klaren, starken Berufswunsch ausdrückten, insbesondere dann, wenn die Jugendlichen die-sen gegen etwaige Widerstände durchsetzen konnten. Die Lernenden schil-dern, dass sie bereits während der Kindheit Tätigkeiten aus dem Bereich ihres Traumberufs verrichteten. Zwei Interviewausschnitte belegen dies:

Weil ich schon seit klein Coiffeur werden möchte. Ich ging immer mit der Mutter und der Großmutter zum Coiffeur. Ich föhnte auch immer ihre Haare, bis sie nicht mehr hinhalten wollten. Dann konzentrierte ich mich auf die Schule. Ich machte ab und zu meiner Kollegin ein Zöpfli. (Person N; Abschnitt 23)

Weil ich sehr viel Freude hatte, mit den Kindern zu arbeiten. Schon sehr früh, durch meine Schwestern, hatte ich mit Kindern zu tun. Ich hütete gern. Ich war auf einer Pri-vatschule mit einem Kindergarten. Dort hatte ich viel Kontakt mit den kleineren Kin-dern, und sie [die Kindergärtnerinnen, Anmerkung BR] sagten, dass ich es sehr gut ma-che, dass sie [die Kinder, Anmerkung BR] Freude an mir hätten. (K; 21)

Während Person N gleich nach der obligatorischen Schule mit der Coiffeur-lehre anfing, lernte Person K erst Maurer und entschied sich wegen körperli-cher Probleme für eine zweite Berufslehre, die seine positiven Erlebnisse mit Kinderbetreuung berücksichtigte. In den beiden Aussagen wird deutlich, dass Bezüge zu berufsnahen Tätigkeiten bereits in der Kindheit gemacht wurden.

Die damit verbundenen positiven Emotionen dienen dazu, die Berufsfindung zu begründen, einerseits vor sich selbst und andererseits vor anderen Perso-nen. Diese Verbindung zu einer naiven, quasi unschuldigen Kindheitserinne-rung könnte die Jugendlichen stärken, trotz anderslautender Geschlechtsrol-lenerwartungen, sich für einen geschlechtsuntypischen Beruf zu entscheiden.

Denn ein Wunsch, der so tief in einem drinsteckt, bzw. so früh angelegt ist, stünde über den später dazugekommenen gesellschaftlichen Vorstellungen.

9.3.1.2 Zwischenstation

Die Jugendlichen, deren Aussagen zur Kategorie Zwischenstation zählen, verspüren ebenfalls einen starken Berufswunsch. Sie sehen die gegenwärtige berufliche Tätigkeit als Zwischenschritt auf dem Weg zum Zielberuf. Andere sehen in der aktuellen Ausbildungssituation einen Schritt zu einem größeren Ausbildungsziel. So wählte etwa Person M die Berufslehre als Dentalassis-tent (mit Berufsmatur), um seinem Traum – Zahnarzt zu werden – näher zu kommen. Er zog diesen Ausbildungsweg mit mehr praktischen und berufsre-levanten Tätigkeiten dem Gymnasium vor. Mit beiden Ausbildungswegen gelangen Absolventen zur Matura, die eine Voraussetzung für die Aufnahme eines Medizinstudiums ist. Entsprechend antwortet er auf die Frage, warum er die Berufslehre als Dentalassistent absolviert:

Weil ich später Zahnarzt studieren möchte. (M; 21)

Person F dagegen hat sich nicht für eine so tätigkeitsnahe Ausbildung ent-schieden, denn für die Zulassung zur ihrem Wunschberuf – Polizistin – wird eine abgeschlossene Berufslehre verlangt. Für sie erscheint die Berufslehre als Logistikerin eher als gangbare Zwischenstation mit mäßiger Begeisterung für den Beruf an sich.

Ach, ich werde nicht mehr auf diesem Beruf arbeiten. Nicht, weil es mir nicht gefällt.

Ich werde sicher zur Polizei gehen. Und je nach dem gehe ich in die RS, ins Militär. (F;

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Die Aussagen der beiden Interviewten machen deutlich, dass die ge-schlechtsuntypische Situation in Kauf genommen wurde, um einen entschei-denden Schritt näher an den Wunschberuf zu kommen. Bemerkenswert ist

vor allem die Entscheidung von Person M, sich in ein Feld zu wagen, das beinahe ausschließlich von Frauen gelernt wird (Frauenanteil: 99.3%, vgl.

Online-Anhang I). Die Möglichkeit, bereits jetzt als Dentalassistent nahe am Zielberuf zu sein, war ausschlaggebend. Aufschlussreich ist die Bemerkung von Person M nach dem Interview, als das Aufnahmegerät nicht mehr lief, dass in seinem Umfeld Dentalassistent/-in nicht als typischer Frauenberuf wahrgenommen werde.

9.3.1.3 Zufall/Notlösung

Jugendliche der dritten Kategorie ‚Zufall/Notlösung‘ wissen nicht, was sie in ihrem Leben werden wollen. Sie lassen sich stark von äußeren Umständen leiten. Die Entscheidung für einen Beruf bzw. die Berufslehre kommt von außen, meist von den Eltern und nicht von ihnen selbst. Dabei scheint der Zufall eine gewisse Rolle zu spielen. Beispielsweise wird ein Lehrbetrieb gewählt, weil er sich in unmittelbarer Nähe zum Elternhaus befindet und gerade eine Lehrstelle offen hat. Die Empfehlung der Sekundarschullehrper-son oder die Abwendung einer unerwünschten Anschlusslösung (Gymnasi-um, Sprachaufenthalt etc.) können ebenfalls zu einem Berufsentscheid füh-ren, der wenig mit den intrinsischen Bedürfnissen der Jugendlichen zu tun hat. Die Rolle des Zufalls wird ausgeprägter, wenn Jugendliche entweder lange nicht wissen, was sie lernen wollen, oder sich für einen pragmatischen Weg entscheiden. Dies wird von ihnen manchmal als Notlösung beschrieben:

Ja, das war eine Notlösung. Das war der nächste Betrieb von meinem damaligen Zu-hause. (I; 19)

Ich ging einfach mal als Spenglerin schnuppern. Es gab da auch eine Frau. Ich dachte aber noch, das ist nichts für mich. Eine Woche später bot mir mein jetziger Lehrmeister eine Lehrstelle an. (E; 13)

Neben der nahegelegenen Lösung zeigt sich, vor allem bei bedeutsamen schulischen und/oder sprachlichen Defiziten, die Schwierigkeit eine Berufs-lehre zu finden, die dem gegenwärtigen Leistungsstand und den Interessen der Person entspricht. Person L spricht offen aus, dass sie lieber andere Beru-fe erlernt hätte und wie es sie Überwindung kostete, ihre Ansprüche ihren Möglichkeiten anzupassen.

Ja, ich hätte gerne Automech gemacht. Auch als Koch schnupperte ich, es hatte mir sehr gut gefallen. Sie sagten, ich arbeite gut, nur mir fehlten viele Begriffe für die Kü-che. Es war einfach zu wenig. Diesen Beruf hätte ich gerne gemacht. Ich konnte mich damals nicht so unterhalten, wie jetzt mit Ihnen. Sie müssen sich vorstellen, ich war nur vier Jahre zur Schule gegangen, es war nicht so einfach. Deutsch war vor allem sehr schwierig. 2008 entschied ich mich, eine zweijährige Lehre als Hauswirtschaftsprakti-ker zu machen. Das war wichtig für mich. Ich konnte so langsam stapeln. Berufserfah-rungen sammeln, damit ich mich weiterbilden konnte, so wie jetzt. (L; 7)

Mittlerweile hat Person L nach bestandener Attestlehre ‚Hauswirt-schaftspraktiker EBA‘ und mehrjähriger Berufserfahrung die Berufslehre zum

‚Fachmann Hauswirtschaft EFZ‘ begonnen.

Manchmal muten Berufsentscheidungen eher wie eine Flucht vor einer nicht gewollten Tätigkeit an:

Am Anfang wusste ich gar nicht, was ich wollte. Bin durch meine Eltern zum Psycholo-gischen gekommen. Wollte auch Psychologie studieren. Dann rutschte ich in die Astro-logie ab. Ich wusste nie richtig, was, und machte mir auch keine Gedanken darüber. In der Sekundarschule umging ich das Thema, ich sagte immer: nicht KV [Kaufmann/-frau, Anmerkung BR]. (G; 15)

Person G macht eine anspruchsvolle Berufslehre zur Informatikerin Fachrich-tung Systemtechnik. Sie wollte weder die Berufslehre zur Kauffrau machen noch mit Frauen zusammenarbeiten. Als sie die Berufslehre begann, war sie die einzige Frau. Mittlerweile hat sie eine jüngere Mitlernende, bekommen, mit der sie sich gut versteht.

9.3.1.4 Fazit

Während die Jugendlichen, deren Aussagen den Kategorien ‚Wunschberuf‘

oder ‚Zwischenstation‘ zugeordnet wurden, ihre Begründung für die Berufs-findung knapp und klar darstellen können, brauchen Jugendliche der Katego-rie ‚Zufall/Notlösung‘ länger, um ihren Berufsentscheid zu erklären, so als schiene die Begründung für den Beruf ungünstig auf sie zurückzufallen. Bei Ersteren hingegen erweist sich die Berufsfindung als Bestärkung ihrer Per-son. Sie wollen diesen Beruf lernen und können ihr Ziel in die Tat umsetzen.

In diesem Fall kann die Berufsfindung zusätzlich als Ressource betrachtet werden. Bevor nun die Ressourcen betrachtet werden, geht es im folgenden Abschnitt um die Belastungen.