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Selektive Aufmerksamkeit

I. EINLEITUNG

I.1 Theoretischer Hintergrund

I.1.2 Selektive Aufmerksamkeit

Als anregend für die Theoriebildung erwiesen sich unter anderem Studien zur selektiven Aufmerksamkeit. Versuchspersonen werden hierbei typischerweise instruiert, bestimmte Aufgaben oder Reize zu beachten, während andere Stimuli ignoriert werden sollen. Als klassisches Paradigma der selektiven Aufmerksamkeit in der auditorischen Domäne gelten Beschattungsaufgaben mit dem dichotischen Hörtest. In der prototypischen Form dieses Paradigmas müssen Probanden selektiv auf eine von zwei unterschiedlichen Nachrichten achten, die per Kopfhörer simultan auf beiden Ohren dargeboten werden.

In der visuellen Domäne kann das Konzept der selektiven Aufmerksamkeit entsprechend den Selektionskriterien innerhalb eines experimentellen Paradigmas in zwei grundlegende Formen unterteilt werden: (1) räumlich-basierte Aufmerksamkeit (Auswahl von Reizen aufgrund ihrer räumlichen Position im Sehfeld), (2) feature-basierte Aufmerksamkeit (Auswahl von Reizen aufgrund von bestimmten Features wie Farbe oder Orientierung).

Räumlich-basierte Aufmerksamkeit wird zum Beispiel untersucht, wenn ein Hinweisreiz (Cue) die Position eines zu beachtenden Reizes in Relation zu einem Fixationskreuz angibt.

Als Paradigma der feature-basierten Aufmerksamkeit kann beispielsweise die visuelle Sucheaufgabe angeführt werden: Versuchspersonen müssen hierbei aufgrund bestimmter Features oder Feature-Kombinationen einen Zielreiz innerhalb einer Anordnung von Distraktor-Items detektieren, die den Zielreiz umgeben.

Die Debatte early- versus late-selection

Im Kern der wissenschaftlichen Diskussion steht bis heute die Frage, bis zu welchem Grad nicht-beachtete Informationen – zum Beispiel die des unbeschatteten Ohres bei einer

dichotischen Aufgabe – tatsächlich registriert und verarbeitet werden: An welcher Stelle der perzeptuellen und kognitiven Verarbeitung findet die Selektion zwischen beachteten und ignorierten Stimuli statt? Frühe Theorien zur selektiven Aufmerksamkeit können in early-selection-Theorien – wegweisend waren hier vor allem Broadbents Filtertheorie (Broadbent, 1958) und Treismans Dämpfungsmodell (Treisman, 1964) – und late-selection-Theorien (z.B.

Deutsch, 1963) unterteilt werden. Die Position der early-selection oder frühen Auswahl geht davon aus, dass der Einfluss von Aufmerksamkeit bereits auf perzeptueller Ebene zu wirken beginnt und Informationen innerhalb des Verarbeitungsprozesses schon früh an einem Flaschenhals herausgefiltert werden. Nicht-beachtete Information wird zwar innerhalb eines sensorischen Registers präattentiv einer Analyse nach basalen physikalischen Merkmalen unterzogen, aber nicht oder nur in geringem Umfang auf semantische Merkmale untersucht.

Demgegenüber siedeln late-selection-Theoretiker den Wirkungsmechanismus und Flaschenhals auf einer höheren, postperzeptuellen Stufe an, nachdem die Wahrnehmung beziehungsweise Identifikation und semantische Analyse bereits abgeschlossen ist. Alle Informationen werden parallel und unbewusst einer kompletten Analyse unterzogen.

Wiedergabedefizite hinsichtlich des nicht-beachteten Reizmaterials resultieren lediglich aus Kapazitätsbeschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses oder der Reaktionskontrolle.

Die Spotlight-Metapher

Zur Veranschaulichung des Wirkungsmechanismus von selektiver Aufmerksamkeit in der visuell-räumlichen Domäne wird meist die Metapher eines Spotlights verwendet (Posner, Snyder, & Davidson, 1980). Hierbei wird angenommen, dass Aufmerksamkeit – auch unabhängig von Augenbewegungen – wie ein Lichtkegel umherbewegt werden kann, um verschiedene Teile des visuellen Feldes zu fokussieren: Wenn das Spotlight auf eine

bestimmte Stelle gerichtet ist, erhalten diejenigen Stimuli maximale Verabreitungsressourcen, die innerhalb des Spotlights liegen. Zudem ermöglicht die Fokussierung des Spotlights auf einen spezifischen Ort, dass dort verschiedene Features eines Objektes integriert werden können. Aufmerksamkeit liefert nach Treisman und Gelade (1980) somit über ihre räumliche Fokussierung den Klebstoff, mit dem einzelne Merkmale zu Objekten verknüpft werden.

Physiologische Netzwerkmodelle zur visuellen selektiven Aufmerksamkeit

Mit der Entwicklung ausgereifterer Techniken zur Aufzeichnung der metabolischen und elektrischen Gehirnaktivität hat sich in den letzten beiden Dekaden auch für die

Aufmerksamkeitsforschung die Chance eröffnet, abstrakte psychologische Prozesse auf dem Boden der biologischen Realität zu überprüfen. Erfolgreich vollzogen werden konnte der Brückenschlag zwischen Konzepten der kognitiven Psychologie und messbaren neuronalen Prozessen mit Hilfe von physiologischen Netzwerkmodellen. Diese basieren auf Theorien der kognitiven Psychologie, in denen bedeutungsbezogene Wissensrepräsentationen oder auch Emotionen mit Hilfe propositionaler Netzwerke beschrieben werden (z.B. Anderson &

Bower, 1973). Jede Wissenseinheit oder Proposition („Fritz fährt Fahrrad“) wird als Knoten dargestellt, von welchem Verbindungen zu verschiedenen Argumenten („Fritz“, „Fahrrad“) und Prädikaten („fährt“) ausgehen (Anderson, 1996). Zwischen verschiedenen Propositionen können ebenfalls Verbindungen existieren, so dass letztlich ein assoziatives Netzwerk

entsteht. Neben semantischer Information kann ein solches Netzwerk auch affektive Informationen oder behaviorale Komponenten der Reaktion umfassen (Keil, 2000).

Biologisch plausibel erscheint eine derartige weit verteilte Informationsrepräsentation, wenn man sich die Knoten des Netzwerkes als einzelne Neuronen oder

Neuronenpopulationen vorstellt und sich dann die Verknüpfungsdichte des Gehirns vor Augen führt: Auf Basis histologischer Färbetechniken schätzen Braitenberg und Schüz (1991) die synaptische Dichte bereits im Mäusekortex auf 7.2 x 108 Synapsen pro mm3. Bei einer Neurondichte von 9.2 x 104 pro mm3 ergibt sich so eine durchschnittliche Anzahl von über 7800 Synapsen pro Neuron (Braitenberg & Schüz, 1991).

Zudem ist bekannt, dass zum Beispiel das visuelle System als weit verteiltes Gebilde organisiert ist, in dem die Informationsverarbeitung von zahlreichen, auf unterschiedliche Aspekte wie Form, Farbe oder Bewegung spezialisierten Regionen geleistet wird (Kolb &

Whishaw, 1996).

Wie kann man sich nun das Wirken von Aufmerksamkeit innerhalb eines solchen weit verteilten Netzwerkes vorstellen? Zur Beantwortung dieser Frage soll im folgenden zunächst ein Ansatz von Desimone (1996) dargestellt werden. Desimones Aussagen basieren im wesentlichen auf Einzelzellableitungen im Gehirn von Affen, die visuelle delayed-matching-to-sample-Aufgaben durchführten. Außerdem soll kurz auf einen neuen Ansatz von Müller und Keil (2002) eingegangen werden, die Aufmerksamkeitsprozesse anhand von EEG-Aufzeichnungen beim Menschen untersuchten.

Aufmerksamkeitsselektion durch verzerrten Wettstreit nach Desimone (1996)

Nach Desimone (1996) werden beim Betrachten einer komplexen visuellen Szene, die aus mehreren Objekten besteht, im Kortex parallel entsprechende neuronale Repräsentationen aktiviert. Weiter geht er davon aus, dass die den Repräsentationen zugrundeliegenden Zellverbände dann in einen Wettstreit treten, in welcher jede Repräsentation versucht, die anderen Repräsentationen zu unterdrücken. Auf neuronaler Ebene wird diese Unterdrückung über wechselseitig hemmende Verbindungen zwischen Neuronen im extrastriatären visuellen Kortex möglich (Desimone & Duncan, 1995).

Das Resultat des Wettstreites – die Dominanz einer Repräsentation auf Kosten einer anderen – wird durch verschiedene Faktoren determiniert. Zum einen handelt es sich nach Desimone (1996) um intrinsische Mechanismen innerhalb des visuellen Kortex selbst (bottom-up): Stärkere Stimulus-Repräsentationen hemmen schwächere Repräsentationen.

Zum anderen bestimmt auch extrinsisches Feedback von anderen Strukturen außerhalb des traditionellen visuellen Systems (top-down) das Ergebnis der Konkurrenz von

Repräsentationen.

Desimone (1996) beschreibt hier auf neuronaler Ebene drei Gedächtnisprozesse, welche die Konkurrenz der Repräsentationen durch eine Modifikation der Feuerrate oder der

Sensitivität der Zellen im visuellen Kortex beeinflussen können: (1) Repetition Suppression:

Die wiederholte Präsentation desselben Stimulus führt zu kurz- und langfristiger Unterdrückung der neuronalen Antworten; (2) Enhancement: Neuronale Antworten auf Objekte mit Verhaltensrelevanz werden verstärkt; (3) Delay-Aktivität: Neuronen sind aktiv, während Information für kurze Zeit „on-line“ gehalten wird.

Desimone (1996) postuliert, dass sich „Aufmerksamkeit zumindest teilweise aus der Wirkung von Gedächtnismechanismen auf kortikale sensorische Mechanismen ableitet, welche intrinsisch kompetitiv sind“ (p. 13499).

Wesentlich für das Wirken von Aufmerksamkeit scheint aber vor allem der zweite Prozess:

Reaktionssteigerung oder Verstärkung aufgrund von Verhaltensrelevanz. In Erweiterung von Desimones Ansatz (1996) ist hier eine Verstärkung aufgrund volitionaler Aspekte zum Beispiel der Aufgabeninstruktion (willentliche Beachtung versus Nicht-Beachtung) aber auch aufgrund motivationaler oder emotionaler Faktoren denkbar (siehe unten).

Moran und Desimone (1985) konnten zeigen, dass ein stimulus-spezifisches Neuron in der Tat stark aktiviert wird, wenn der Stimulus beachtet wird, jedoch nur gering oder gar nicht erregt wird, wenn derselbe Stimulus nicht beachtet wird. In Termini der Spotlight-Metapher werden nur diejenigen neuronalen Antworten im visuellen Kortex verstärkt, die innerhalb des Lichtkegels liegen; Stimuli außerhalb des Spotlights werden zwar nicht inhibiert, aber auch nicht amplifiziert (Müller & Keil, 2002). Diese modulatorische Wirkung von selektiver Aufmerksamkeit auf der Ebene einzelner Zellen konnte in nahezu allen Regionen der visuellen Verarbeitungshierarchie nachgewiesen werden (Moran & Desimone, 1985).

Aufmerksamkeitsselektion durch Synchronisierung nach Müller und Keil (2002)

Im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Stimulusrepräsentationen als Netzwerke bemerken Müller und Keil (2002) jedoch, dass Amplifikation auf Einzelzellebene nicht das einzige neuronale Substrat selektiver Aufmerksamkeit darstellen kann. Sie schlagen als weiteren Wirkungsmechanismus vor, dass Neurone, welche auf denselben Stimulus reagieren, bei Zuwendung von Aufmerksamkeit ihre Aktivität millisekundengenau synchronisieren.

Dadurch wird das Signal des beachteten Stimulus verstärkt und der Stimulus kann bevorzugt verarbeitet werden.

Diese aufmerksamkeitsabhängige Synchronisierung neuronaler Netzwerkaktivität konnten die Autoren (Müller & Keil, 2002) mit Hilfe induzierter Gammaband-Reaktionen im

menschlichen EEG in einem Frequenzbereich von 40 - 50 Hz sowie 55 - 70 Hz nachweisen, wenn die Versuchspersonen Aufmerksamkeit auf die Farbe von Schachbrettmustern richteten.

Selektive Aufmerksamkeit in Raum und Zeit

So wie sich selektive Aufmerksamkeit nach dem Wirkungszeitpunkt (early-selection versus late-selection), der Modalität (visuelle versus auditorische Aufmerksamkeit) oder dem Selektionskriterium (räumlich- versus feature-basierte Aufmerksamkeit) klassifizieren lässt, kann eine Unterscheidung auch hinsichtlich zweier weiterer Dimensionen getroffen werden:

Selektive Aufmerksamkeit hilft uns bei der Auswahl von Reizen aus der Flut von

Informationen, die uns unter anderem über das visuelle System in jedem einzelnen Moment entgegenströmen. Die Auswahl von visuellen Informationen kann dabei (a) willentlich erfolgen, beispielsweise aufgrund der Aufgabeninstruktion innerhalb eines

laborexperimentellen Settings (Driver, 2001). Sie kann aber auch (b) motivational begründet sein – dann, wenn Aspekte der Umwelt eine hohe persönliche Relevanz besitzen und die Aufmerksamkeit ohne willentliche Steuerung „an sich ziehen“ (P.J. Lang, M.M. Bradley, &

B.N. Cuthbert, 1997b).

Die Allokation von Aufmerksamkeit, sei sie nun volitionaler (Driver, 2001) oder motivationaler (Lang et al. 1997b) Natur, kann aus experimenteller Sicht hierbei unter (1) statisch-räumlichen Gesichtspunkten betrachtet werden: Was passiert zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem Reiz oder seinem ereigniskorrelierten Potential, wenn er aufgrund seiner räumlichen Position oder eines bestimmten Features beachtet oder nicht beachtet wird?

Selektive Aufmerksamkeit kann aber auch hinsichtlich (2) zeitlich-dynamischer Aspekte untersucht werden (Vogel, Luck, & Shapiro, 1998). So wie visuelle Aufmerksamkeit im Sinne der Spotlight-Metapher räumlich ungleichmäßig verteilt sein kann, kann sie auch zeitlichen Schwankungen unterliegen.

Weitaus der größte Teil aller Studien zur visuellen selektiven Aufmerksamkeit hat sich mit dem statischen Aspekt von Aufmerksamkeit beschäftigt. Erst in jüngeren Jahren wurden Versuche unternommen, die Wirkungsweise und die Dynamik von Aufmerksamkeit über die Zeit hinweg systematisch zu beleuchten. Im Laborexperiment werden Target- und Distraktor-Stimuli nunmehr nicht simultan an verschiedenen Orten präsentiert – wie zum Beispiel bei

der visuellen Suchaufgabe, sondern die Reize erscheinen als Kette hintereinander an derselben Position innerhalb des Gesichtsfeldes.

Kontrovers wird diskutiert, inwieweit dieselben oder distinkte

Aufmerksamkeitsmechanismen an beiden Arten der Reizselektion beteiligt sind. Indizien, dass es Selektionsmechanismen gibt, die bei der statisch-räumlichen Aufmerksamkeit zum Tragen kommen, dem Wirken der Aufmerksamkeit über die Zeit aber nicht zugänglich sind, kommen aus elektrophysiologischen Untersuchungen, die sich Techniken ereigniskorrelierter Potentiale (EKP) bedienen (Vogel et al., 1998). EKP-Studien zur visuell-räumlichen

Aufmerksamkeit (für einen Überblick siehe Luck, 1998) konnten zeigen, dass diese Form der Aufmerksamkeit bereits Verarbeitungsprozesse 80 - 100 Millisekunden (ms) nach Stimulus-Onset beeinflusst. Bestimmte Komponenten der gemittelten Potentiale wie die

P1-Komponente, die in der Regel 70 bis 100 ms nach Reiz-Onset einsetzt, sind für beachtete Stimuli stärker ausgeprägt als für nicht-beachtete Stimuli. Und auch bei der feature-basierten Aufmerksamkeit wird – trotz unterschiedlichen EKP-Konfigurationen als jenen bei der räumlich-basierten Aufmerksamkeit – von einer frühen Auswahl ausgegangen (Hillyard &

Münte, 1984).

Diesem frühen Wirken der räumlich- und feature-basierten Aufmerksamkeit stehen an späterer Stelle dieser Arbeit ausführlich diskutierte EKP-Befunde von Vogel, Luck und Shapiro (Vogel et al., 1998) gegenüber, die zeigen, dass zeitlich-basierte Aufmerksamkeit ausschließlich spätere und damit kognitiv höhere Prozesse moduliert.