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Schöpfvorgang

Im Dokument 2 Technik der Papierherstellung (Seite 96-114)

2.3 Arbeitsschritte der Papierherstellung

2.3.3 Schöpfen .1 Schöpfform

2.3.3.2 Schöpfvorgang

Die Blattbildung, das heißt das sogenannte Schöpfen eines Bogens Papier, kann als der zentrale Arbeitsschritt der Papierherstellung betrachtet werden. Ausgeführt wurde er vom Schöpfgesellen, der neben dem Gautscher und dem Leger einer der drei ausgebildeten Gesellen einer Papierwerkstatt war. Seit dem 16. Jahrhundert sind die Bezeichnungen Bütten knecht, Gautscher und Leger dokumentiert, so zum Beispiel in der Supplikation des Druckers Christoph Froschauer an den Züricher Rat von 1535 und in der Regensburger Mühlenordnung aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.615 Der Arbeitsplatz des Schöpfgesellen war die mit Wasser befüllte Bütte, ein großer, ovaler oder runder Bottich aus Holz, der – wie ein Fass – von Metallreifen zusammen-gehalten wurde.616 Im 18. Jahrhundert war es üblich, die runde Öffnung der Bütte mit einem rechteckigen, oben aufliegenden Rahmen zu versehen. Der Büttgeselle stand in einem sogenannten Schöpfer- oder Büttenstuhl, einem Bretterverschlag, der ihn vor Feuchtigkeit abschirmen sollte. Ausgehend vom Standort des Schöpfgesellen führte eine seitlich aufgelegte Holzleiste quer über die Bütte dorthin, wo der Gautscher die Schöpfform mit dem frisch geschöpften Bogen in Empfang nahm.617

Seit dem 16. und in größerer Zahl seit dem 17. Jahrhundert sind beheizbare Bütten nachweisbar.618 So wurden beispielsweise 1536 in die Züricher Papiermühle zwei neue Bütten mit Häfen eingebaut.619 Johann Michael Becker führt 1740 unter dem

612 Vgl. Loeber 1982, 8.

613 Vgl. Loeber 1982, 9. Lalande empfiehlt zudem, die Formen zu lackieren, damit sich keine Wasser-tropfen ansetzen können, vgl. Lalande 1820, 64.

614 Vgl. Schultz/Follmer 2015, 28.

615 Vgl. Caflisch 1963, 154 f.; Regensburger Mühlenordnung, in: Blanchet 1900, 88. Zur Bezeichung Leger vgl. auch Anm. 746.

616 Dies kann als Grundform der Bütte verstanden werden. Im 18. Jahrhundert mehren sich die An-gaben zur besonderen Ausstattung der Bütte mit Schöpfstuhl, Büttensteg, Abflussrinne und Bütten-ofen, vgl. Bayerl 1987, 257–268.

617 Vgl. die Abbildungen der Bütte bei Lalande 1820, Tafel 11, und in Diderot/d’Alembert 1767/1967, Papeterie, Tafel 10.

618 Vgl. Hunter 1978, 173; Bayerl 1987, 259.

619 Vgl. Zürcher 1963a, 68.

Lemma Blase einen kupfernen Hohlkörper an, der unter der Bütte angebracht war und in dem ein Feuer geschürt wurde.620 Das Erwärmen des Büttenwassers hatte den Vorteil, dass zum einen der Schöpfgeselle mit einer angenehmen Wassertemperatur arbeiten konnte. Zum anderen verhinderte das warme Wasser ein schnelles Absetzen der Faserteilchen auf den Boden der Bütte und sorgte für eine bessere Verfilzung der Fasern.621 Nicolas Desmarest berichtet zudem, dass das Heizen des Büttenwassers vor allem bei aus gefaulten Lumpen gefertigter Pulpe hilfreich sei, da die Wärme einige negative Eigenschaften des Faserbreis abschwäche, so zum Beispiel sein starkes Haften am Gautschfilz.622 Ob die Bütte bereits im 14.  und 15.  Jahrhundert beheizt wurde, ist aus den erhaltenen Zeugnissen nicht ersichtlich.

Zur Vorbereitung des Schöpfvorgangs wurde das fertige Ganzzeug mithilfe einer Kelle aus den Stampflöchern genommen und entweder direkt in die Bütte oder in einen in unmittelbarer Nähe zur Bütte stehenden Trog verbracht.623 Aus diesem Trog konnte der Schöpfgeselle die benötigte Menge an Faserbrei entnehmen und im Wasser der Bütte suspendieren. Für dickeres Papier musste die Suspension einen höheren Anteil an Fasern aufweisen als für dünnes Papier.624 Im Allgemeinen, so schätzt Loeber, lag der Faseranteil bei ungefähr 0,5 bis 2 Prozent.625 Nicolas Desmarest unterscheidet in seinem Second mémoire sur la papeterie von 1778 zwei Arbeitsweisen: Während die Franzosen à moyenne eau arbeiten würden, würden die holländischen Papier macher à grande eau schöpfen. Dies bedeute, dass die holländischen Papierer im Vergleich zu ihren französischen Berufsgenossen ihr Papier mit einer niedrigeren Faserkonzentra-tion und mehr Wasser fertigen würden, wodurch das Papier gleichmäßiger und trans-parenter werde. Aufgrund der besonderen Eigenschaften der aus gefaulten Hadern hergestellten Pulpe sei es den französischen Handwerkern nicht möglich, ebenfalls

‚mit großem Wasser‘ zu arbeiten, da sich ansonsten zu viele Fasern zwischen die Rippdrähte absetzen und somit das Gautschen erschweren würden.626 Das Schöpfen aus ‚wenig Wasser‘ hatte jedoch ebenfalls Nachteile, die Desmarest deutlich benennt:

620 Vgl. Becker 1740/1962, 3. Auch Lalande und Goussier erwähnen die Büttenbefeuerung, vgl. La-lande 1820, 68 f.; Goussier 1765/1966, 840.

621 Vgl. Lalande 1820, 69.

622 Vgl. Desmarest 1778, 29; K. Th. Weiss 1962, 27. Nach Lalande solle das Wasser so temperiert sein, dass man die Hand hineinhalten kann, vgl. Lalande 1820, 68. Dies würde auch den Angaben ent-sprechen, die Jean-Louis Boithias und Corinne Mondin machen: Sie sprechen von einer moderaten Temperatur zwischen 25 °C und 30 °C, vgl. Boithias/Mondin 1981, 182, Anm. 73. Edo Loeber erläutert, dass das Wasser zunächst auf 60 °C erhitzt wurde, da sich seine Viskosität auf diese Weise um 50 Pro-zent reduziere. Erst dann wurde der Faserstoff hinzugegeben. Mit dem Hinweis, dass die eigentliche Arbeitstemperatur von mehreren Faktoren abhängig sei, enthält sich Loeber einer Nennung konkreter Zahlen, vgl. Loeber 1982, 7.

623 Vgl. Lalande 1820, 67.

624 Vgl. Lalande 1820, 67.

625 Vgl. Loeber 1982, 7.

626 Vgl. Desmarest 1778, 24. Vgl. auch Loeber 1984, 98.

Durch das Fehlen von genügend Wasser würden sich die Fasern unregelmäßig auf dem Sieb verteilen und auf diese Weise wolkiges Papier produzieren.627

Eine weitere Ursache für ungleichmäßiges Papier kann in der Vernachlässigung des Rührens liegen. Um die Fasern möglichst lange in Suspension zu halten und ein Absetzen zu vermeiden, musste die Flüssigkeit vor und zwischen den Schöpfdurch-gängen umgerührt werden.628 Faserbrei aus gefaulten Lumpen musste laut Desma-rest öfter gerührt werden als solcher aus ungefaulten Hadern, da die Fasern zu einer schnelleren Sedimentierung neigten.629

War nun die Fasersuspension auf diese Weise vorbereitet worden, so konnte der Büttengeselle sein Hauptwerk beginnen. Hierzu legte er den Deckel auf die Schöpf-form, griff beides zusammen mittig an den beiden kurzen Seiten und tauchte die Form in die Bütte. Louis-Jacques Goussier beschreibt, dass der Schöpfer zuerst die ihm zugewandte Siebseite senkrecht in das Faser-Wasser-Gemisch tauche, sie dann unter Wasser waagrecht halte und in dieser Position heraushebe.630 Diese Form des Papier-schöpfens bezeichnet Edo Loeber als „partial dipping“ und präzisiert, dass hierbei die Schöpfform zu einem Drittel oder bis zur Hälfte vertikal unter Wasser gebracht und dann in die Horizontale gezogen wird.631 Beim Herausnehmen der Schöpfform aus der Bütte fließen überflüssiger Faserbrei und Wasser ab. Um ein gleichmäßiges Verteilen der Fasern zu gewährleisten und ein gut verfilztes Papier zu erhalten, schüt-telt der Büttengeselle das Sieb in einer typischen Bewegung leicht nach links und

627 Vgl. Desmarest 1778, 25.

628 Vgl. Becker 1740/1962, 15; Lalande 1820, 69; Keferstein 1766/1936, 50. Für das 18. Jahrhundert ist hierfür ein spezielles Rührwerkzeug nachweisbar, die Bütt-Kricke, wie sie unter anderem Johann Michael Becker beschreibt, vgl. Becker 1740/1962, 3. Vgl. auch den Artikel Papiermacher, in: Zedler 1740/1961, 648. Vgl. auch Boithias/Mondin 1981, 182.

629 Vgl. Desmarest 1778, 9.

630 Vgl. Goussier 1765/1966, 841. Lalande berichtet von einer besonderen Vorgehensweise, die mir bislang in keinem anderen Text begegnet ist. Beginnt der Büttengeselle einen Pauscht, so solle er den Bogen in zwei Phasen schöpfen. In einem ersten Schritt tauche er die Schöpfform mit der ihm zuge-wandten Seite (mauvaise rive) in die Bütte, hebe sie wieder hervor und tauche anschließend mit der ihm abgewandten Seite (bonne rive) erneut in die Fasersuspension. Nach dem 25. Bogen gehe er dazu über, nur noch die ihm zugewandte Seite einzutauchen, vgl. Lalande 1820, 69. Leider gibt Lalande nicht an, aus welchem Grund diese Schöpfmethode angewendet wurde. Georg Christoph Keferstein hält seinerseits nicht viel von den Bezeichnungen böse und gute Seite. Daher ist davon auszugehen, dass das von Lalande beschriebene Verfahren nicht essenziell für den Schöpfvorgang war. Vgl. Kefer-stein 1766/1936, 49.

631 Eine zweite Methode, bei Loeber „complete dipping“ genannt, besteht im waagrechten Untertau-chen und Herausnehmen des Siebs. Bei dieser Vorgehensweise entwässert das Sieb durch den entste-henden Unterdruck schneller, sodass dem Schöpfgesellen weniger Zeit bleibt, die Fasern gleichmäßig auf dem Drahtgeflecht zu verteilen, vgl. Loeber 1982, 7.

rechts sowie nach vorne und hinten.632 Dieses muss innerhalb weniger Sekunden gelingen, bevor ein Großteil des Wassers durch das Drahtgeflecht abgelaufen ist.633

Nach diesen Arbeitsschritten nimmt der Schöpfgeselle den Deckel ab und schiebt das Chassis mit dem darauf befindlichen, noch sehr feuchten ‚Faserteppich‘ über einen Steg zum Gautscher. Jener gibt ihm seinerseits die andere, leere Schöpfform des Formenpaars zurück. Darauf setzt der Schöpfer den Deckel und beginnt mit der Bildung eines neuen Bogens. Auf diese Weise können – so gibt Lalande 1761 an – in der Minute zwischen sieben und acht Bogen geschöpft werden.634 Die Schöpfge-schwindigkeit hängt maßgeblich von dem Aufbau der Form, der Schöpfmethode und den Eigenschaften der Pulpe ab. Diese drei Faktoren beeinflussen, wie schnell das Wasser ablaufen kann. Nach Desmarest bleibt beispielsweise dem französischen Papiermacher, der mit gefaulten Lumpen arbeitet, aufgrund der schnellen Entwässe-rung weniger Zeit, die Pulpe auf dem Sieb zu verteilen. Dieser Zeitmangel setze sich bei einem geübten Schöpfer in Schnelligkeit um. In der Spanne, in der ein französi-scher Schöpfgeselle die Form zwölf Mal aus dem Wasser gehoben habe, schöpfe der holländische Büttengeselle nur vier bis fünf Bogen.635 Daraus resultiere ein merklich höherer Ausstoß an Papier: Der französische Papierer produziere am Tag doppelt so viele Pauschte wie sein holländischer Kollege.636

Um schnell und sauber zu arbeiten und zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen, muss ein guter Schöpfgeselle angeborene Geschicklichkeit mit langjähriger Erfahrung vereinen.637 Wenn man sich bereits selbst an der Bütte versucht hat, so kann man dieser Aussage vorbehaltlos zustimmen.638 Viele Papiermacher berichten aber auch davon, dass erfahrene Büttengesellen plötzlich ihre Fähigkeiten kurzeitig oder dauerhaft verlieren können.639

Das Können des Schöpfgesellen besteht erstens darin, die frisch geschöpften Fasern ebenmäßig auf dem Sieb zu verteilen, damit der Bogen weder wolkig noch ungleichmäßig dick wird. Ungleichmäßigkeit in der Blattdicke und die bereits erwähnte ‚Wolkigkeit‘ des Papiers, das heißt die unregelmäßige Verteilung der Fasern, können schlicht dadurch entstehen, dass der Schöpfer unerfahren war und die Form

632 Vgl. Peri 1651, 68, engl. Übers. in Fahy 2003/2004, 252; Lalande 1820, 70; Goussier 1765/1966, 841. Vgl. auch Boithias/Mondin 1981, 183; Loeber 1982, 7; Doizy/Fulacher 1989, 72; Asunción 2003, 79.

633 Lalande gibt an, dass sich die Fasern innerhalb von vier bis fünf Sekunden absetzen, vgl. Lalan-de 1820, 70.

634 Vgl. Lalande 1820, 71.

635 Vgl. Desmarest 1778, 21.

636 Vgl. Desmarest 1778, 22.

637 Vgl. Keferstein 1766/1936, 49; Imberdis 1693/1899, 13, 41; Hunter 1971, 229, 249.

638 Vgl. C. Meyer et al. 2013/2017, 12. Dard Hunter formuliert in Bezug auf die ersten Schöpfversuche des amerikanischen Präsidenten George Washington im Jahr 1790 charmant: „…the paper formed by a novice is generally distinguishable by its own characteristics.“ Vgl. Hunter 1971, 255.

639 Vgl. Hunter 1971, 248.

zu schnell oder zu langsam aus der Bütte hob oder nicht die richtigen ‚schüttelnden‘

Bewegungen zur gleichmäßigen Verteilung des Faserbreis verinnerlicht hatte.640 Auch die Papiere der Ravensburger Steuerbücher aus dem 15.  Jahrhundert wiesen solche Unregelmäßigkeiten in der Faserverteilung auf (vgl. Abb. 7).

Zweitens muss der Büttgeselle es verstehen, alle Bogen eines Pauschts gleich dick zu schöpfen.641 Dies war besonders Georg Christoph Keferstein im 18. Jahrhundert wichtig.642 Die Regensburger Mühlenordnung aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhun-derts betont, dass generell nicht zu dickes Papier gemacht werden solle. Aus diesem Grund dürfe nicht zu viel Faserbrei in die Bütte getan werden.643

Mit der Dicke des Papiers erhalten wir einen weiteren zu erhebenden Parameter.

Sie kann mit einer Mikrometermessschraube mit definierter Messfläche und konstan-tem Federdruck gemessen werden.644 Dabei ist zu beachten, dass mit herkömmlichen Mikrometern immer nur der Randbereich auf seine Dicke untersucht werden kann, da das Instrument eine Messung in der Blattmitte nicht erlaubt.645 Um der variierenden Dicke eines handgeschöpften Bogens Rechnung zu tragen, ist es ratsam, an mehreren Punkten Messwerte zu erheben. So schlägt Atanasiu für einen einzelnen Bogen vor, jeweils in der Mitte der vier Bogenseiten sowie an allen vier Ecken zu messen.646 Für in Manuskripten und Drucken eingebundene Papiere empfehlen sich nach den Mit-arbeitern des Progetto Carta Messungen an insgesamt 14 Punkten pro Bogen, die sie selbst an einem Corpus von etwa 20 norditalienischen Handschriften und 80 venezi-anischen Drucken vorgenommen haben.647

Die Ergebnisse dieser Studie weisen auf eine stetige Abnahme der Papierdicke hin. War der Beschreibstoff Papier gegen Ende des 14. Jahrhunderts noch relativ dick, so wurden die untersuchten Proben im Laufe des 15. Jahrhunderts immer dünner.648 Könnte dies auf der einen Seite auf eine Rohstoffeinsparung und damit eine Qua-litätsminderung hindeuten,649 so spräche andererseits auch einiges dafür, in der Formung dünner Bogen eine Perfektionierung des Handwerks zu sehen. Die Dicke eines Papiers allein lässt folglich keine Deutung zu. Um zu validen Interpretationen

640 Vgl. Asunción 2003, 85.

641 Für eine mögliche mathematische Darstellung der Dickenveränderung des Papiers während des Schöpfens siehe Utter/Utter 1992.

642 Vgl. Keferstein 1766/1936, 50.

643 Vgl. Regensburger Mühlenordnung, in: Blanchet 1900, 82.

644 Vgl. Kapitel 2.1.3.1, S. 35.

645 Vgl. Atanasiu 2007/2017, 49 f.; Klinke 2009, 30; Klinke/C. Meyer 2015, 142 f. Vgl. auch Bourlet/

Bretthauer/Zerdoun Bat-Yehouda 2010, 170.

646 Vgl. Atanasiu 2007/2017, 49 f.

647 Vgl. Ornato et al. 2001, Bd. 1, 39–44, bes. 44, Abb. 16; Ornato et al. 2000, 103 f.

648 Vgl. Busonero et al. 1993, 432–449; Ornato et al. 2001, Bd. 2, 70–72.

649 In diesem Sinne interpretieren auch Ornato und seine Kolleginnen das Dünnerwerden der unter-suchten Papiere, vgl. Busonero et al. 1993, 439–441.

der Papierdicke zu gelangen, müssen weitere Parameter wie beispielsweise die Qua-lität der Pulpe oder das Vorkommen von Fehlern in Betracht gezogen werden. Die unterschiedliche Dicke an verschiedenen Stellen eines Bogens und damit die Vertei-lung der Pulpe waren ebenfalls Forschungsgegenstand des Progetto Carta.650 Ein inte-ressanter Befund dieser Studie ist die Feststellung, dass bei vielen Bogen eine der vier Ecken dicker ist als die anderen.651 Erstaunlicherweise handelte es sich dabei nicht – wie die Mitarbeiter des Progetto Carta ausführen – um die bei Keferstein Klaube und bei Lalande bon carron genannte Ecke, die der Büttengeselle absichtlich verstärken sollte, damit der Leger sie ohne Schäden greifen und den Bogen vom Filz abheben konnte.652

Eine dritte Fertigkeit liegt in der sauberen Ausführung der Arbeit. Sowohl Berüh-rungen mit der Hand oder dem Deckel als auch ErschütteBerüh-rungen der mit Faserbrei bedeckten Form konnten dazu führen, dass der noch instabile Bogen verdarb. Ein häufig auftretender Fehler in handgeschöpftem Papier sind Spuren von Wassertrop-fen, die entweder von der Hand oder dem Arm des Büttengesellen oder auch von der Schöpfform in den noch feuchten Bogen gelangen.653 Dort, wo das Wasser eintropft, verdrängt es den noch schwimmenden Faserbrei kreisrund. Im Durchlicht lassen sich Spuren solcher Wassertropfen anhand von runden, transparenten Punkten erken-nen. Das Papier ist an dieser Stelle dünner und reißt leichter. Eine bereits erwähnte Maßnahme zur Vermeidung von Wassertropfen ist ein gutes Polieren der Schöpfform, damit sich keine Wassertropfen in der rauen Holzoberfläche fangen und von dort auf das frisch verfertigte Blatt fallen können.654 Treten solche Spuren von Wassertropfen in einem Pauscht besonders häufig auf, so ist davon auszugehen, dass die Bogen ent-weder von einem ungeübten Schöpfer, eventuell einem Lehrling, hergestellt wurden oder dass der Büttengeselle unachtsam und hastig arbeitete, möglicherweise unter Zeitdruck.655

Ein weiteres Problem stellen in das Papier geratene Faserknoten dar. Sie entste-hen zwar meist durch das unzureicentste-hende Stampfen der Lumpen, können jedoch auch aus dem Schöpfprozess resultieren. So können zum Beispiel Faserbündel, die sich am Rand des Zeugkastens oder der Bütte abgesetzt haben und dort getrocknet sind, in die Bütte eingetragen werden oder von deren Rand in das Büttenwasser zurückfallen.

In der kurzen Zeit zwischen erneutem Nasswerden und Schöpfen des Bogens gelingt keine vollständige Trennung der Fasern, sodass diese als Stippe im Papier

erschei-650 Vgl. Ornato et al. 2000; Ornato 2016, 54–59.

651 Vgl. Ornato et al. 2000, 139–144; Ornato 2016, 56 f.

652 Vgl. Ornato et al. 2000, 141; Ornato 2016, 57. Es handelt sich bei der Klaube um die vom Schöpf-gesellen aus gesehen rechte obere Ecke, vgl. Keferstein 1766/1936, 49 f.; Lalande 1820, 71; Bayerl 1987, 272.653 Vgl. Lalande 1820, 72; Keferstein 1766/1936, 50. Vgl. auch Hunter 1971, 231 f.; Asunción 2003, 85 654 Vgl. hierzu Loeber 1982, 9.

655 Vgl. Estève 2006a, 127.

nen.656 Auch die Vernachlässigung des Rührens kann zu Knoten im Papier führen.

Johann Michael Becker berichtet 1740, dass der Büttengeselle dazu angehalten ist, Knoten gleich nach dem Schöpfen auszuklauben, das heißt sie sofort mit der Hand zu entfernen.657

Weitere Schöpffehler konnten entstehen, wenn Fremdkörper wie Menschenhaare oder auch Insekten in den Faserbrei kamen.658 Ein konkretes, ‚haariges‘ Beispiel ließ sich in den Ravensburger Steuerbüchern des 15. Jahrhunderts entdecken (vgl.

Abb. 8).659 Aus Sicht des Papierhistorikers haben solche Funde ihren ganz eigenen Charme, bringen sie doch auf ungewöhnliche Weise die Vergangenheit in die Gegen-wart ein und machen sie lebendig.660

Die Häufung von Wassertropfenspuren, ungleichmäßiger Faserverteilung oder Fremdkörpern im Papier kann, wie bereits erwähnt, in doppelter Hinsicht auf eine

656 Vgl. Keferstein 1766/1936, 20.

657 Vgl. Becker 1740/1962, 10.

658 Vgl. Hunter 1971, 232; Hunter 1978, 226; Asunción 2003, 85.

659 Vgl. Schultz/Follmer 2015, 31.

660 Vgl. hierzu Barrett 1989, 24.

Abb. 7: Unregelmäßige Faserverteilung und Spur eines Wassertropfens, StR, Bü 43, Steuerbuch 1482–1485, Foto: Johannes Follmer 2013.

Abb. 8: Menschliches Haar im Papier, StR, Bü 42, Steuerbuch 1473–1476, Foto: Johannes Follmer 2013.

hastige und nicht sehr sorgfältige Arbeitsweise deuten. Zum einen treten diese ‚Makel‘

bei einer unsauberen Ausführung des Schöpfvorgangs vermehrt auf. Zum anderen vermied man wahrscheinlich aus Zeitersparnis, den fehlerhaft geschöpften Faserbrei wieder zurück in die Bütte zu schütten und ein neues Blatt zu schöpfen.661 Die man-gelhaften Bogen durchliefen auf diese Weise zusammen mit den ‚makellosen‘ Blättern alle weiteren Behandlungsschritte bis hin zum Verkauf, sodass wir heute überhaupt in der Lage sind, die darin eingefassten ‚Schöpffehler‘ zu sehen.

2.3.4 Gautschen

Das Gautschen – also das Ablegen des noch feuchten Bogens auf einen Filz – erfolgte direkt nach dem Schöpfen und groben Entwässern eines Bogens.662 Hierzu nahm der Gautscher, der wie der Schöpfer ein erfahrener Papierergeselle war, die frisch befüllte Schöpfform vom Büttengesellen entgegen und gab ihm im Gegenzug die leere Form zurück. Das Schöpfsieb mit dem noch sehr feuchten und daher empfindlichen Faser-teppich ließ der Gautscher noch einen Augenblick lang abtropfen, bis sich das Papier genügend gefestigt hatte. Eine hinreichende Festigung des Stoffs wurde durch den charakteristischen Glanz seiner Oberfläche angezeigt.663 Ab dem 18. Jahrhundert ist eine schrägstehende, stufenweise eingekerbte Holzleiste, der sogenannte Esel, belegt, an die der Gautschgeselle die Form für zwei bis drei Sekunden lehnte.664 Während das Sieb weiter entwässerte, legte er einen zuvor befeuchteten Filz auf dem Gautschbrett

661 Bei einer Tagesleistung von sechs bis zehn Ries war jegliche Verzögerung des Produktionsab-laufs zu vermeiden (zu unterschiedlichen Angaben hinsichtlich der Tagesleistung vgl. Anhang II). An-ders als bei den heutigen Handpapiermachern, die ebenso wie ihre Kunden viel Wert auf ein makello-ses, ästhetisch ansprechendes Papier legen, muss bei vielen Papiermachern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit eher der Grundsatz „Masse statt Klasse“ gegolten haben. Ein relativ hoher Ausstoß an Papier war nötig, um eine wirtschaftlich rentablen Jahresumsatz zu gewährleisten. Dafür wurde ein Anteil an qualitativ minderwertigen Papieren in Kauf genommen und zusammen mit den guten Bogen veräußert. Vgl. Kapitel 2.3.9, S. 168 f.

662 Detaillierte Beschreibungen des Gautschvorgangs sind erst ab dem 18. Jahrhundert erhalten, vgl.

Lalande 1820, 70 f.; Goussier 1765/1966, 841. Francesco M. Grapaldo erwähnt 1496 das Gautschen an sich überhaupt nicht, sondern nur das Pressen mit zwischen die Bogen gelegten wollenen Tüchern, vgl. Grapaldo 1508, 103r: laneis pannis alternatim ingestis. Auch Zeugnisse aus dem 17. Jahrhundert berichten lediglich vom graduellen Ablegen des noch feuchten Papiers auf Filze, vgl. Peri 1651, 68, engl. Übers. in Fahy 2003/2004, 252; Imberdis 1693/1899, 17 f., 47. Für eine ausführliche Darstellung

Lalande 1820, 70 f.; Goussier 1765/1966, 841. Francesco M. Grapaldo erwähnt 1496 das Gautschen an sich überhaupt nicht, sondern nur das Pressen mit zwischen die Bogen gelegten wollenen Tüchern, vgl. Grapaldo 1508, 103r: laneis pannis alternatim ingestis. Auch Zeugnisse aus dem 17. Jahrhundert berichten lediglich vom graduellen Ablegen des noch feuchten Papiers auf Filze, vgl. Peri 1651, 68, engl. Übers. in Fahy 2003/2004, 252; Imberdis 1693/1899, 17 f., 47. Für eine ausführliche Darstellung

Im Dokument 2 Technik der Papierherstellung (Seite 96-114)