• Keine Ergebnisse gefunden

Luthar (2014) befasst sich mit der Frage, wie durch die Minimierung modifizierbarer Risikofaktoren Resilienz gefördert werden kann. Es sollten die Risikofaktoren angegangen werden, die (a) den größten Einfluss mit anhaltenden Konsequenzen haben und (b) relativ modifizierbar sind, wie zum Beispiel die Funktionsweise eines Erziehungsberechtigten (Luthar et al., 2014). Da negative Ereignisse in der Regel stärker wirken als positive (Baumeister et al., 2001), soll ein Übergewicht des Positiven erzeugt werden (Luthar et al., 2014). Hierzu wurde ein Verhältnis zwischen guten und schlechten Ereignissen von drei zu eins als förderlich beschrieben, um ein bestmögliches psychisches Wachstum zu erreichen (Fredrickson & Losada, 2005). Interventionen zur Förderung von Resilienz können hierbei in ein Macro- und Microlevel aufgeteilt werden (Greenberg, 2006). Das Macrolevel legt den Grundstein für Interventionen auf dem Microlevel (Oral et al 2016). Auf der Ebene des Macrolevels werden wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen geschaffen, die sichere, unterstützende und gesundheitsförderliche Gemeinschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen ermöglichen sollen (Hornor, 2017). In der konkreten Umsetzung würde man hier versuchen, negative Kindheitserfahrungen zu verhindern und gleichzeitig die Gemeinschaft zu stärken. Dazu könnten Mindestlöhne angehoben oder das Bildungssystem durchlässiger und bezahlbarer gestaltet werden (Hornor, 2017). Auf Gesellschaftsebene kann nach Khanlou und Wray Resilienz dadurch gesteigert werden, indem für mehr soziale Gerechtigkeit gesorgt wird (Khanlou & Wray, 2014). Dies bezieht sich auf Einkommensgerechtigkeit, ein faires Schulsystem und ein zugängliches Gesundheitssystem.

Microlevelinterventionen hingegen versuchen, die Kultur, Einstellungen und Beziehungen innerhalb von Gemeinden, Schulen, der Peer - Group oder der Familie zu verbessern. Dies geschieht durch Programme, die positive Entwicklungsprozesse stärken (wie Kommunikationstraining oder Elternkurse) und so die Beziehungen der Kinder zu ihren Bezugspersonen verbessern (Greenberg, 2006; Hornor, 2017). Eine kanadische Studie mit Jugendlichen einer indigenen Risikopopulation konnte zeigen, dass gezielte Outdoor-Aktivitäten, die auf die Bedürfnisse und den kulturellen Hintergrund der Teilnehmer*innen abgestimmt waren, die Resilienz steigern konnten. Eine direkte Folge davon war, dass die Jugendlichen nach den Interventionen ihre körperliche und psychische Gesundheit höher einschätzten als zuvor (Ritchie et al., 2010). Zudem schlägt Robson auf der Ebene des Individuums Skill-Trainings und das Ausbauen von Stressbewältigungsstrategien vor

18 (Robson, 2014). In einer Studie mit auffälligen und problematischen Schulkindern konnte überdies gezeigt werden, dass speziell geschulte Lehrkräfte in der Lage waren, durch Interventionen die Resilienz der Kinder zu steigern und dadurch problematische Verhaltensweisen zu verringern (Stoiber & Gettinger, 2011). Zusammenfassend empfiehlt Masten (2005) für alle der dargestellten Interventionsebenen drei Grundstrategien, um die Funktionsweise und Entwicklung des Menschen sicherzustellen: 1.) Die Auswirkungen von Risikofaktoren minimieren, 2.) die positiven Effekte von Ressourcen steigern und 3.) die Anpassungsfähigkeit des Individuums schützen, wiederherstellen oder fördern.

Die Förderung von Resilienz scheint auf der einen Seite lohnend, auf der anderen Seite mit teils großem Aufwand und hohen Kosten für die Gesellschaft verbunden zu sein. Es ist also entscheidend, Interventionen möglichst zielgerichtet und effizient zu gestalten. Dies macht deutlich, dass es von Bedeutung ist, individuelle und gesamtgesellschaftliche Risikofaktoren für eine verminderte Resilienz möglichst genau zu identifizieren, um Lösungsansätze zu erarbeiten.

Zusammenfassend kann mit Rönnau-Böse und Fröhlich-Gildhoff (2020) gesagt werden, dass sich Resilienz an einer belastenden Situation und deren Bewältigung zeigt (Rönnau-Böse &

Fröhlich-Gildhoff, 2020). Wie erfolgreich solche Bedrohungen in der Entwicklung bewältigt werden können und welches Entwicklungsergebnis sich daraus ergibt, hängt maßgeblich von den oben geschilderten Risiko- und Schutzfaktoren ab und kann durch Maßnahmen gezielt gefördert werden. Jedoch können dabei auch der Zeitpunkt und das Ausmaß der Entwicklungsbedrohungen eine bedeutende Rolle spielen. Im Folgenden werden diese im Sinne negativer Kindheitserfahrungen beleuchtet.

19

3 Negative Kindheitserfahrungen und Trauma

Die obige Schilderung verdeutlicht, dass Resilienz einen Einfluss auf viele Bereiche des Lebens hat. Jedoch gibt es noch weitere Ereignisse, die das Leben und auch die Resilienz beeinflussen können. Im Folgenden werden negative Kindheitserfahrung und Kindheitstraumata besprochen und deren Folgen dargestellt.

3.1 DSM Kriterien von Trauma

Das DSM V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) legt den Fokus bei der Definition von Trauma verstärkt auf objektiv erfassbare Kriterien und weniger auf das subjektive Erleben in der Situation (American Psychiatric Association, 2013). Dabei entschied man sich, aufgrund von mangelnder Evidenz und klinischer Nützlichkeit, das Kriterium der empfundenen Hilflosigkeit, Furcht oder Entsetzen zu entfernen. Zusätzlich ist es nicht mehr zwingend, das potenziell traumatische Ereignis selbst erlebt zu haben. Es ist möglich, davon Zeuge gewesen zu sein oder dass den betroffenen Personen davon berichtet wurde (American Psychiatric Association, 2013). Nach Maercker und Michael (2009) werden sogenannte Typ I-Traumata, die einmalig und meist kurzdauernd sind, von Typ II-Traumata, die sich wiederholen und über einen längeren Zeitraum anhalten, unterschieden. Zudem wird zwischen interpersonellen und akzidentellen Traumata differenziert (Maercker & Michael, 2009). Nicht jedes traumatische Ereignis muss jedoch zwangsläufig die Diagnose einer PTBS nach sich ziehen.

Das ICD-10 (International Classification of Diseases) legt operationalisierte Kriterien für die Definition eines Traumas und einer daraus möglicherweise resultierenden, posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) fest. Als Trauma wird ein Ereignis angesehen, das den tatsächlichen oder drohenden Tod, tatsächliche oder drohende ernsthafte Körperverletzung oder eine Bedrohung der eigenen körperlichen Unversehrtheit oder anderer nach sich zieht und bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung auslösen würde (World Health, 2004). Inwiefern traumatische Erfahrungen in der Kindheit jedoch einen Einfluss auf das spätere Leben und Erleben haben können, soll im Folgenden ausführlich erläutert werden.

3.2 Definition von negativen Kindheitserfahrungen

Eine frühe Studie, die sich intensiv mit negativen Kindheitserfahrungen befasst, ist die ACE – Studie von Felitti und Kolleg*innen (1998). Dabei steht die Abkürzung ACE für adverse childhood experience und ist im deutschen mit negativen oder belastenden Kindheitserfahrungen gleichzusetzen. Dabei erstreckt sich die Zeitspanne der ACEs bis zur Volljährigkeit. Den Forscher*innen zufolge, handelt es sich hier um direkten oder indirekten

20 emotionalen, körperlichen und/oder sexuellen Missbrauch durch die Eltern oder andere Bezugspersonen. Des Weiteren zählt Mobbing durch die Peer – Group oder bezeugte häusliche Gewalt zu den belastenden Kindheitserfahrungen (Felitti et al., 1998; Isele et al., 2014).

In einer Metaanalyse versuchen Kalmakis und Chandler (2014) den Begriff der negativen Kindheitserfahrungen zu vereinheitlichen und zu definieren. Dafür analysierten sie 128 Artikel über negative Kindheitserfahrungen und deren Auswirkungen aus den Jahren 1970 bis einschließlich 2013. Zur Analyse der Artikel gingen die Forscher nach den fünf Schritten nach Norris vor (Kalmakis & Chandler, 2014). Dabei wird zuerst das Konzept beobachtet und beschrieben. Im zweiten Schritt erfolgt die Kategorisierung der Beobachtungen (Kalmakis &

Chandler, 2014). Anschließend werden diese operationalisiert und ein Modell des Konzepts wird erstellt. Im letzten Schritt wird eine Hypothese des Konzepts formuliert (Kalmakis &

Chandler, 2014). Allen verwendeten Studien war gemein, dass sie keine klare Definition für negative Kindheitserfahrungen lieferten, sondern lediglich Beispiele aufzählten, die sie in diese Kategorie einordneten (Kalmakis & Chandler, 2014). Die Forscher identifizierten fünf Kernkomponenten, die negative Kindheitserfahrungen ausmachen. Sie sind: (1) schädigend, (2) andauernd oder wiederkehrend, (3) stressend, (4) kumulativ und (5) variierend im Schweregrad. Aus diesen Punkten leiten Kalmakis und Chandler (2014) ihre Definition negativer Kindheitserfahrungen ab: „Negative Kindheitserfahrungen sind Ereignisse in der Kindheit, die in ihrer Intensität variieren und häufig andauern, die im familiären oder sozialen Kontext auftreten und Schaden oder Stress verursachen und somit das physische und psychische Wohlbefinden des Kindes stören und dessen Entwicklung schädigen.” (S.1495).

3.3 Psychische Folgen von Trauma

3.3.1 Posttraumatische Belastungsstörung

Die initialen Reaktionen auf Traumata sind bei den meisten Menschen gleich. Dabei durchleben sie das Trauma immer wieder erneut, zeigen Vermeidungsverhalten und Übererregbarkeit (Kearns et al., 2012). Bei vielen Menschen schwächen sich diese Symptome nach einiger Zeit ab. Bleiben sie jedoch bestehen, führt das zur Diagnose einer PTBS (Kearns et al., 2012). Die Diagnosekriterien einer PTBS lauten nach DSM-V (American Psychiatric Association, 2013):

A. Traumatisches Ereignis: Tod, tödliche Bedrohung, sexuelle Gewalt etc. Die Person war dem Ereignis direkt, indirekt oder als Zeuge ausgesetzt.

21 B. Wiedererleben: Albträume, unfreiwillige und sich aufdrängende belastende Erinnerungen, dissoziative Reaktionen wie Flashbacks, intensiver und langanhaltender Stress und physiologische Reaktionen.

C. Vermeidung: anhaltendes und starkes Vermeiden von traumaassoziierten Gedanken, Gefühlen oder externen Reizen.

D. Negative Veränderung von Gedanken und Stimmung: u.a. Amnesie, verzerrte Vorwürfe gegen sich selbst und andere, andauernde negative traumaassoziierte Emotionen, eingeschränkter Affekt.

E. Veränderung in Erregung und Reaktionsfähigkeit: gereiztes oder aggressives Verhalten, selbstverletzendes und leichtfertiges Verhalten, erhöhte Vigilanz, übermäßige Schreckreaktionen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen.

F. Dauer der Symptome länger als ein Monat

G. Funktionelle Bedeutsamkeit: In klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

H. Die Symptome sind keine Folge von Medikamenten, Substanzeinnahme oder Krankheiten.

Bis heute gibt es wenig Erkenntnisse darüber, wie nach einem traumatischen Ereignis die Entstehung einer PTBS verhindert werden kann (Kearns et al., 2012). Künftig wird im ICD – 11 zwischen einer PTBS und einer komplexen PTBS (KPTBS) unterschieden werden (Brewin et al., 2017). Die KPTBS beschreibt dabei andauernde Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastungen. Sie umfasst die psychischen Folgen von Geiselhaft, Kriegsgefangenschaft, dem Ausgeliefertsein bei sexueller und häuslicher Gewalt, physischem oder sexuellem Missbrauch in der Kindheit oder organisierter sexueller Ausbeutung (Voderholzer & Hohagen, 2018).

Studien, die sich mit der Prävalenz von PTBS und KPTBS befassten, kamen zu dem Ergebnis, dass rund 2,3% bis 3% der Bevölkerung an einer PTBS leiden. Für eine KPTBS konnten Werte zwischen 0,6% und 1% ermittelt werden (Hyland et al., 2017; Wolf et al., 2015). Die Untersuchung von Menschen in Traumakliniken zeigte, dass die Diagnose einer KPpTBS häufiger war als die einer PTBS. Hier litten 7,8% bis 37% an einer PTBS und 32,8%

bis 42,8% der Menschen an einer KPTBS (Hyland et al., 2017; Karatzias et al., 2016;

Nickerson et al., 2016). Andere Studien sprechen wiederum von einer Lebenszeitprävalenz der PTBS von circa 8% (Steinert et al., 2015).

22 In ihrem Review befassten sich Santiago et al. (2013) mit dem Verlauf einer PTBS im ersten Jahr nach dem Erleben eines Traumas und unterschieden dabei, ob es sich um ein akzidentelles Trauma oder ein interpersonelles Trauma handelte (Maercker & Michael, 2009;

Santiago et al., 2013). Interpersonelle Traumata sind Ereignisse, die durch einen anderen Menschen absichtlich verursacht werden, wie sexuelle Übergriffe. Von akzidentellen Traumata spricht man bei unabsichtlichen oder unkontrollierbaren Ereignissen, wie Verkehrsunfällen oder Naturkatastrophen (Maercker & Michael, 2009). Allgemein stellten sie fest, dass einen Monat nach dem Trauma rund 29% der Menschen an einer PTBS erkrankt waren. Nach einem Jahr reduzierte sich diese Zahl jedoch auf 17% (Santiago et al., 2013). Für absichtlich zugefügte Traumata zeigte sich aber, dass sich die Anzahl der Personen, die nach einem Monat an einer PTBS litten (11,8%) nach zwölf Monaten auf 23,3% verdoppelte (Santiago et al., 2013). Zudem stellten die Forscher*innen fest, dass ein erstmaliges Auftreten der PTBS zu einem späteren Zeitpunkt als drei Monate nach dem Trauma sehr selten war (3,5%).

Mit dem Zusammenhang zwischen PTBS im Jugendalter und Suizidalität befasst sich der Review von Panagioti et al. (2015). Die Forscher*innen fanden einen starken Zusammenhang zwischen einer PTBS und Suizidalität. Der Effekt war unabhängig vom Alter oder dem Geschlecht der Proband*innen und erwies sich insgesamt als robust (Panagioti et al., 2015).

Eine weitere Review Studie, die sich mit dem im DSM – V neu eingeführten dissoziativen Subtypen der PTBS (American Psychiatric Association, 2013) befasste, kam zu dem Schluss, dass besonders Kindheitstraumata im Vergleich zu Traumata im Erwachsenenalter die Auftretenswahrscheinlichkeit einer dissoziativen PTBS erhöhten (Hansen et al., 2017).

3.3.2 Weitere psychische Erkrankungen nach und Folgen von Traumata

In zahlreichen Studien wurden verschiedene Krankheitsbilder schwerpunktmäßig untersucht.

Psychotische Störungen

Die Auswirkung von Kindheitstraumata auf die Entwicklung von psychischen Krankheiten untersuchte eine belgisch-holländische Forschergruppe. Dafür nutzten die Forscher*innen Daten einer vorangegangenen Langzeitstudie, die das genetische Risiko psychotischer Störungen untersuchte (Isvoranu et al., 2016; Korver et al., 2012). Es wurden insgesamt 552 Menschen mit einer maximal 10 Jahre andauernden, nicht-affektiven psychotischen Störung nach DSM V im Alter von 16 bis 60 Jahren analysiert (Isvoranu et al., 2016).

Die Untersuchung der Beziehung von Kindheitstraumata und einer psychotischen Störung erfolgte erstmalig unter Verwendung einer Netzwerkanalyse (Isvoranu et al., 2016). Die Stichprobe war überwiegend männlich (75%) und hatte ein Durchschnittsalter von 30 Jahren

23 (SD = 7) (Isvoranu et al., 2016). Die Patient*innen erlitten mehrheitlich Kindheitstraumata.

Rund 79% gaben an, emotional vernachlässigt worden zu sein. Weitere 25% berichteten von physischer Vernachlässigung, 25% von sexuellem Missbrauch, 26% von emotionalem Missbrauch und 16% von physischem Missbrauch (Isvoranu et al., 2016). Ein signifikanter Unterschied konnte bei sexuellem Missbrauch festgestellt werden, den Frauen häufiger erlebten als Männer (Isvoranu et al., 2016). Die Forscher*innen konnten keinen direkten Zusammenhang zwischen den Traumasubskalen und einer psychotischen Störung ermitteln.

Der Effekt wurde dafür durch die Symptome allgemeiner Psychopathologie mediiert (Isvoranu et al., 2016). Die Autor*innen schlussfolgern, dass Kindheitstraumata möglicherweise erhöhten emotionalen Stress bewirken, welcher wiederum die Verbindung zur psychotischen Störung herstellt (Isvoranu et al., 2016). Zusätzlich stellten sie fest, dass Angst die Brücke zwischen emotionalem Missbrauch und der sog. Positivsymptomatik der psychotischen Störung (Paranoia, Wahn und Halluzinationen) darstellte (Isvoranu et al., 2016). Als weiteren Risikofaktor identifizierten sie eine niedrige Impulskontrolle, die die Verbindung zwischen physischem Missbrauch und der Symptomgruppe Größenwahn, Feindseligkeit und Übererregtheit darstellte (Isvoranu et al., 2016). Zudem konnten sie zeigen, dass eine psychomotorische Retardierung mit einem abgeflachten Affekt, geringerer Spontanität und verschlechtertem Sprachfluss einhergeht und so den Mediator zwischen physischer Vernachlässigung und der sog. Negativsymptomatik darstellt (Isvoranu et al., 2016). Einen weiteren starken Mediator sahen die Forscher*innen in übermäßigen Sorgen.

Durch dieses Denkmuster wird der Zusammenhang zwischen physischem Missbrauch mit Wahn und Halluzinationen hergestellt (Isvoranu et al., 2016).

Affektive-, Angst- und Psychotische Störungen

Der Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und psychischer Erkrankung wurde in einer Langzeitstudie untersucht (van Nierop et al., 2015). Die holländischen Forscher*innen nutzten Daten einer großen, dreijährigen staatlichen Umfrage der Allgemeinbevölkerung zur mentalen Gesundheit (van Nierop et al., 2015). Die Forscher*innen bildeten zwei Gruppen, welche die Stichprobe nach klinischer Diagnose aufteilten. Die 1577 Teilnehmer*innen der ersten Gruppe litten an affektiven Störungen (Major Depression, Bipolare Störung, Dysthymie). In der zweiten Gruppe befanden sich 1120 Proband*innen mit Angststörungen (soziale Phobien, Angststörungen und generalisierte Angststörung) (van Nierop et al., 2015).

Da in ihrer eigenen Stichprobe der Anteil an Menschen mit einer nicht-affektiven psychotischen Störung zu gering war, verwendeten die Forscher*innen zusätzlich Daten der zuvor beschriebenen Studie von Isvoranu et al. als dritte Symptomgruppe (Isvoranu et al.,

24 2016; Korver et al., 2012; van Nierop et al., 2015). Die Wissenschaftler*innen berechneten zuerst den Zusammenhang zwischen Kindheitstrauma und den Untergruppen Depression, Manie, Angst und Psychose. Es zeigten sich für alle Symptomgruppen Zusammenhänge. Der stärkste lag zwischen Kindheitstrauma und Psychose, wobei die Unterschiede sehr gering waren (van Nierop et al., 2015). Als Nächstes untersuchten die Forscher*innen, ob die Wahrscheinlichkeit, ein Kindheitstrauma erlebt zu haben, anstieg, falls mehrere Symptomcluster vorhanden waren. Interessanterweise zeigte sich, dass es immer wahrscheinlicher wurde, ein Trauma erlebt zu haben, je mehr Symptomgruppen vorlagen (van Nierop et al., 2015). Dieser Effekt verstärkte sich zunehmend mit einer steigenden Zahl an psychopathologischen Beschwerden (van Nierop et al., 2015). Die Autor*innen vertreten daher die Ansicht, dass Kindheitstraumata nicht zu einer bestimmten klinischen Auffälligkeit führen, sondern vielmehr den Rahmen für eine vielfältige Psychopathologie darstellen (van Nierop et al., 2015).

Borderline Persönlichkeitsstörung

Schließlich sollte die Entwicklung einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (auch:

Borderline – Persönlichkeitsstörung, BPS) als mögliche Folge einer negativen Kindheitserfahrung bzw. Traumatisierung nicht unerwähnt bleiben. Die BPS ist die derzeit am häufigsten diagnostizierte Persönlichkeitsstörung (Gunderson, 2009). Die Betroffenen leiden unter einer Störung der Emotionsregulation mit teils impulsiven Durchbrüchen und selbstverletzendem Verhalten, dysfunktionalen Beziehungen und einer massiven Selbstwertproblematik. Häufig führt dies zu wiederholten Klinikaufenthalten und teilweise langjähriger, psychotherapeutischer Betreuung.

In einer großen Metaanalyse mit N = 28226 Proband*innen gaben Proband*innen mit einer BPS 13mal häufiger negative Kindheitserfahrungen an, als gesunde Kontrollen (Porter et al., 2020).

In einer weiteren, umfangreichen Metaanalyse von Jowett und Kolleg*innen wurde untersucht, ob sich die traumatischen Vorerfahrungen von Patient*innen mit einer BPS von denen mit einer PTBS oder komorbid auftretend beiden Diagnosen unterscheiden (Jowett et al., 2019). Hierbei zeigte sich, dass Patient*innen mit beiden Diagnosen sowohl eine höhere Anzahl, als auch eine größere Varianz an interpersonellen Traumata erlebt hatten, als Patient*innen, die jeweils nur die Kriterien einer Diagnose erfüllten. Diese Traumatisierungen traten sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenenalter auf, wobei nicht untersucht wurde, ob eine frühere Traumatisierung zu schwereren Beeinträchtigungen führte (Jowett et al., 2019).

25

Selbststigmatisierung und Alkoholsucht

Eine deutsche Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata, Selbststigmatisierung und Alkoholsucht (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017). Dazu wurden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in Selbsthilfegruppen, Einrichtungen der ambulanten Nachsorge sowie auf einer Entgiftungsstation in Mecklenburg-Vorpommern interviewt. Daraus ergab sich die Stichprobe, die 60 Patient*innen bildeten, die aktuell einen stationären Entzug machten und 26 Menschen, die seit längerer Zeit abstinent lebten (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017). Die Forscher*innen führten strukturierte Interviews durch, in denen detailliert soziodemographische Daten, Krankheitsverlauf sowie Komorbiditäten erhoben wurden. Um Kindheitstraumata zu erfassen, verwendeten sie den Childhood Trauma Questionnaire. Zur Messung der depressiven Symptomatik wendeten die Wissenschaftler*innen den Brief Symptom Inventory, der aus 18 Items besteht an. Um das Ausmaß der Selbststigmatisierung zu erfassen, füllten die Proband*innen zusätzlich die Self-Stigma of Alcohol Dependence Scale aus (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017).

Diese umfasst vier Subskalen: Wahrnehmung, Zustimmung, Anwendung auf sich selbst und Selbstwertverlust (Stolzenburg, Tessmer, Melchior, et al., 2017).

Die Auswertung der Daten zeigte, dass 27% der Proband*innen an einer leichten Abhängigkeit, 60% an einer mittelgradigen Abhängigkeit und 13% an einer schweren Abhängigkeit litten. Im Schnitt dauerte die Alkoholsucht 17 Jahre an (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017). Die häufigste komorbide Erkrankung war eine Depression mit 46%.

Zusätzlich gaben 20% an, an einer Angststörung zu leiden. Das meistgenannte Kindheitstrauma war emotionale Vernachlässigung (66%) und das am seltensten genannte Trauma war sexueller Missbrauch mit 23% (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017).

Die Korrelationsanalyse ergab, dass Kindheitstraumata mit allen Subskalen der Selbststigmatisierung, außer der Subskala ‚Wahrnehmung‘, signifikant positiv zusammenhängen. Zwischen Depression und Selbststigmatisierung zeigte sich ein ähnliches Muster: in allen Bereichen außer ‚Wahrnehmung‘ wurden signifikante positive Zusammenhänge gefunden (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017). Ein weiteres interessantes Ergebnis brachte die Interkorrelation der Subskalen der Selbststigmatisierung.

Der stufenweise Aufbau wurde dadurch bestätigt, dass jede Stufe am stärksten mit der darauffolgenden Stufe korreliert. Besonders stark war der Zusammenhang zwischen

‚Anwendung auf sich selbst‘ und ‚Selbstwertverlust‘ (r = .92) (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017). Die weitere Analyse zeigte, dass sich Kindheitstraumata signifikant

26 auf die Stufen zwei und drei (Zustimmung und Anwendung) auswirkten (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017). Eine Mediatoranalyse zeigte ferner, dass der Effekt von Kindheitstrauma auf ‚Anwendung‘ durch die Stärke der Ausprägung von ‚Zustimmung‘

bestimmt wurde. Eine zweite Analyse erbrachte das Ergebnis, dass der Einfluss von Kindheitstraumata auf ‚Selbstwertverlust‘ durch die schwere der depressiven Symptomatik mediiert wurde (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017). Die Autor*innen schlussfolgern aus ihren Ergebnissen, dass Menschen, die an einer Alkoholsucht leiden und zusätzlich ein Kindheitstrauma erlebt haben, unter sehr hoher Selbststigmatisierung leiden.

Zusätzlich betonen sie, dass die Ausprägung der depressiven Symptomatik eine entscheidende Mediatorrolle im Einfluss von Kindheitstraumata auf Selbststigmatisierung einnimmt. Sie betonen außerdem, welche entscheidende Rolle die Stufe ‚Zustimmung‘ hat, da durch das Ausmaß an Übereinstimmung mit negativen Stereotypen über alkoholabhängige Personen maßgeblich die Stärke der Anwendung dieser Vorurteile auf sich selbst mitbestimmt wird (Stolzenburg, Tessmer, Corrigan, et al., 2017).

Auswirkung auf Antidepressiva

Die Forschergruppe um Williams untersuchte anhand von Daten, die in einer Randomized Controlled Trial (RCT) Studie gesammelt wurden, ob Kindheitstraumata einen Einfluss auf die Wirkung von verschiedenen Antidepressiva besitzen (Williams et al., 2016). Sie untersuchten 1008 Erwachsene im Alter von 18 bis 65 Jahren, die an einer mittelgradigen bis schweren Depression litten und eine Therapie mit Antidepressiva begannen. Die Kontrollgruppe bildeten 336 gesunde Proband*innen. Die Datenerhebung fand in den USA, Holland, Australien, Neuseeland und Südafrika statt (Williams et al., 2016). Um einen Einblick in die Traumaexposition der Teilnehmer*innen zu erlangen, füllten die Proband*innen den Early-Life Stress Questionnaire aus, der Traumata vor dem 19.

Lebensjahr erfasst. Das Befinden der Proband*innen wurde zu Beginn der Behandlung mit Antidepressiva und anschließend in einer follow-up Befragung nach acht Wochen erfasst

Lebensjahr erfasst. Das Befinden der Proband*innen wurde zu Beginn der Behandlung mit Antidepressiva und anschließend in einer follow-up Befragung nach acht Wochen erfasst