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Klinik 4 und Foker

4.3 Ergebnisse zum Stand der Nutzung lokaler IRS

4.3.2 Reaktion des Anwenders / Lernenden (Evaluationsebene 2)

Anhang zu Kapitel 4, Ergänzungen aus Klinik 2, Klinik 3 und FOKER (Ebene 2) dargestellt.

4.3.2.1 Nutzung lokaler IRS

Meldungsumfang, -zeitraum und –bearbeitung. Während neun Monaten wurden ins-gesamt 60 Meldungen erfasst und durch das interprofessionelle Komitee bespro-chen, bearbeitet und ans Team zurückkommuniziert. Die Dokumentenanalysen ließen keinen bestimmten Melderhythmus erkennen. Einen Melderückgang auf insgesamt dreizehn Fälle gab es zwischen Januar und Mai 2005. Einschätzungen des Komitees und Aussagen in der Gruppendiskussion lassen annehmen, dass die Anzahl der Meldungen personenabhängig ist.

„Man hat da irgend, extrem, auch als Arzt, sehr wenig Zeit. Und ich sage gleich, ich hätte diese Formulare noch zehnmal häufiger ausfüllen können […] in kriti-schen Zwikriti-schenfällen. Aber ich habe einfach keine Zeit gehabt. Und dann habe ich lieber direkt der Pflegeleitung Feedback gegeben, was falsch gegangen ist, und di-rekt der Person.“ (Interview 2/10)

Befragungen des ärztlichen Personals bestätigten, dass eine Nutzung des IRS eher

„passiv“ erfolgte. Das Meldesystem sei vorwiegend von der Pflege genutzt wor-den. Die von wenigen, ausgenommen den Komiteemitgliedern, zu beantwortenden Fragen nach den Meldewegen und dem Inhalt des Erfassungsbogens lassen den-selben Schluss zu. Dazu wurden verschiedene Gründe angeführt: zum einen, dass die Pflege „sensibler“ für Gefahren sei (Interview 2), zum anderen, dass das Melde-system sehr aufwändig sei und eine direkte Kommunikation und Klärung bei Be-darf vorgezogen würde (Interview 1). Als weiterer Grund wurde von allen drei in-terviewten Ärzten auf eine spezielle Kultur in der Medizin verwiesen: Die strenge Hierarchie und die fehlende Vermittlung im Umgang mit Fehlern bereits während der Ausbildung fördere die Angst vor Fehlern und deren Konsequenzen, insbe-sondere im Arztberuf.

Meldeverhalten. Die Mehrheit der Befragten nahm an, dass es mehr Drittmel-dungen (MelDrittmel-dungen von anderen Personen, welche nicht direkt in das Ereignis in-volviert waren) als Selbstmeldungen gab, wobei die Einschätzung zwischen 50 und 80 % für Drittmeldungen rangierte. Die Frage nach der Anzahl der Schätzungen zu durchschnittlich ausgefüllten Berichten pro Person lag bei zwei bis drei Meldungen pro Monat. Diese Schätzung deckt sich nicht mit den tatsächlichen Berichten.

Die in den Interviews erfragte Einschätzung, wie häufig ein Bericht hätte angefer-tigt werden können, ergab eine Spannbreite von ein bis zehn Meldungen pro Mo-nat. Acht Personen gaben an, dass zwei bis sechs Meldungen pro Monat pro Person

getätigt werden könnten. Bei der Größe eines Behandlungsteams von 24 Personen entspräche das bereits 48 bis 144 monatlichen Meldungen.

Das System wurde nach Angaben der Interviewten vor allem für das Aufzeigen potenzieller Fehlerquellen und als Sensibilisierungsmöglichkeit genutzt (fünf In-terviews: 7, 8, 10, 11, 12). Vonseiten der Ärzte wurden vor allem Kommunikations- und Medikationsprobleme, vonseiten der Pflege insbesondere Fehler bei der Do-kumentation und Übertragung von Informationen gemeldet.

4.3.2.2 Gründe (für und) gegen die IRS-Nutzung

Erhebungen in Klinik 3 zeigten: Etwa die Hälfte der 48 Befragten nannten als hauptsächlichen Grund für eine Nichtnutzung des IRS fehlendes Wissen darüber, wo und wie eine Meldung gemacht werden kann.

Fünf Personen gaben als Grund gegen das Verfassen einer Meldung an: die Ak-zeptanz von Ereignissen, welche als trivial (keine direkte Patientensicherheitsge-fährdung erkennbar) gewertet wurden.

Der Grundgedanke eines anonymen Meldesystems für kritische Zwischenfälle wurde von sechs Interviewten positiv konnotiert, wenngleich die Art und Weise der Umsetzung kritisiert wurde.

Das Analyse-Komitee in Klink 1 hatte eigene Weisungskompetenz. Dies geht vor allem darauf zurück, dass zu Beginn auch der Leitende Arzt und die Pflegelei-tung Mitglieder des Komitees waren.

Wie die Interviews und strukturierte Gruppendiskussion in Klinik 1 zeigten, brachte gerade diese Mitgliedschaft der Leitungen für die Akzeptanz und Nutzung des Systems eine große Verantwortung seitens dieser mit sich. Von den Leitungen verlangte es in dem kleineren Team (hier mit weniger als 20 Pflegenden und vier Assistenzärzten) eine absolute Wahrung der Anonymität der Meldenden. Die Mitgliedschaft der Leitungen in den Analyse-Komitees bedingte umso mehr Um-sicht, dass Meldungen keine personalrechtlichen Konsequenzen trugen – was indes nach Interviewaussagen nicht immer der Fall war. Seitens der Mitarbeitenden der Bettenstation setzte es ein großes Vertrauen und eine entsprechend offene Team-kultur voraus. Von der Mehrheit der Befragten wurde denn auch hinsichtlich der Schwächen/Grenzen des IRS als einer der zwei kritikwürdigsten Punkte die Angst oder das Misstrauen vor möglichen Konsequenzen aus den Meldungen benannt.

Damit wurde die Angst vor der Verwendung von Meldungen gegenüber bestimm-ten Personen geäußert, insbesondere da Führungspersonen im Komitee waren.

Dies wurde beschrieben als „erhöhtes Gefühl der Kontrolle und Beobachtung“ (In-terview 9), welches „Druck und Angst“ auslöste (In(In-terview 8) und auch dem

Ver-trauen in das System und untereinander nicht zugute kam, bis hin zu Befürchtun-gen zu Beginn des Fehlermanagements, dass Einträge in die Personalakten vorge-nommen würden (Interview 7). Bereits zwei Monate nach Start des Fehlermanage-mentsystems beantragte die Pflegeleitung aufgrund des eigenen Rollenkonflikts den Austritt aus dem Komitee. Nach vier Monaten wurde diese Aufgabe einer durch das Pflegeteam gewählten Vertreterin übertragen. Die Weisungsbefugnis des Komitees blieb bestehen.

Mehrbelastung und Zusatzaufwand. Im Konsens als kritikwürdig benannt – in der Gruppendiskussion und in Einzelinterviews – wurden der aus dem Fehlermana-gement resultierende Mehraufwand und die damit verbundene Zusatzbelastung.

Aus Angst vor einer neuen Weisung, verbunden mit entsprechendem Zusatzauf-wand wie beispielsweise die Überprüfung einer bereits erfolgten Überprüfung ei-nes Arbeitsergebnisses (Stichwort: Dreifachkontrolle), wurde der Aktionismus ka-rikiert, aus jeder Meldung eine Weisung zu formulieren, die alles „absichere“, was sich in Aussagen widerspiegelt wie: „[…] ich melde nichts mehr, weil dann kriege ich nämlich eine neue Weisung“ (Interview 8). Statt Entlastung und Sicherheit kön-nen also Mehrbelastung, Zusatzaufwand, Bürokratisierung und Scheinsicherheit einer IRS-Akzeptanz hinderlich sein.

4.3.2.3 Rahmenbedingungen

Die Hälfte der in Interviews befragten Pflegepersonen befürwortet das Vorgehen, die Mitglieder des Komitees von den Mitarbeitenden und damit den potenziellen IRS-Benutzern selbst wählen zu lassen. Vonseiten der vier befragten Komiteemit-glieder wurden die Bedeutung des verantwortlichen, vertraulichen und wohlwol-lenden Umgangs mit Meldungen als entscheidend für die Nutzung eines IRS be-nannt. Zudem wurde neben der sorgfältigen Auswahl der Komiteemitglieder auch auf eine entsprechende Professionalisierung und Unterstützung in der Analyse und Weiterbearbeitung von Meldungen hingewiesen. In der Gruppendiskussion verwiesen die Mitarbeitenden explizit auf Notwendigkeit einer Sanktionsfreiheit für Berichtende und Nutzer und die systemorientierte Fallabklärung mit dem Ziel einer Verbesserung von Strukturen, Prozessen und Arbeitsmitteln. Das Wissen ü-ber klinikspezifische Abläufe/Strukturen/Besonderheiten, Ansprechpersonen und Bedeutsamkeiten oder (bekannte) Probleme musste vorhanden sein, nur da-mit war eine erfolgreiche Analyse/Koda-miteefunktion möglich.

4.3.2.4 Potenziale und Stärken des IRS

„Die Stärke ist, dass man in der Kürze Zwischenfälle aufzeigen kann.

Und zwar strukturiert.“

Interview 3/26 Als große Chance und Stärke des Fehlermeldesystems wurde die Möglichkeit ein-geschätzt, Ereignisse anonym oder vertraulich, mit einer gewissen Neutralität zu erfassen und damit eine Handlungsgrundlage für Verbesserungen und Verände-rungen zu schaffen. Eine derartige Erfassung fehlt bisher. In der Gruppendiskus-sion wurde der strukturierte Prozess des Aufarbeitens und Aufschreibens gewert-schätzt. Die eigene Beteiligung und Verantwortungsübernahme wurden positiv eingeschätzt. Die Möglichkeit zur Reflektion und zum Austausch über Fehler und deren Vermeidung wurde von den Befragten als Stärke des Fehlermeldesystems benannt. Die Motivation zur Nutzung wurde nicht nur mit der Gewährleistung von Anonymität und Schutz des Meldenden, sondern auch mit der Vorbildfunk-tion und MotivaVorbildfunk-tion durch den direkten Vorgesetzten in Zusammenhang ge-bracht.

Als Barriere für die Nutzung und als demotivierend wurden hingegen die häu-figen Personalwechsel in Klinik 1 und die damit verbundenen Instabilitäten in der Personalbesetzung und der Besetzung des Analyseteams einstimmig als kriti-scher Faktor für IRS angeführt: „Es darf nicht personenabhängig [sein – d. V.], weil es muss ein Konzept und ein System sein, das unabhängig von den Personen lebt und funktioniert.“ (Interview 8/38) – Gleichzeitig wurde das auch als einer der Gründe für die Pausierung des Systems in Klinik 1 angegeben: Alle Begründer des Fehlermeldesystems und „Kenner“ der Bettenstation planten, gegen Ende des Jah-res, in dem die wissenschaftliche Begleitforschung stattfand, die Klinik zu verlas-sen und sich neuen beruflichen Herausforderungen zu widmen. Bis auf ein altes

„neues“ Komiteemitglied hätte das komplette Komitee nachbesetzt werden müs-sen. Bevorstehende Personal- und Führungswechsel sowie eine Mehrbelastung durch viele neue und unerfahrene Mitarbeitende führten schließlich zu dem Be-schluss, das System nicht wie ursprünglich geplant auf die ganze Klinik auszuwei-ten, sondern zu sistieren.

4.3.2.5 Zwischenfazit (Evaluationsebene 2)

Neben dem persönlichen Erkenntnisgewinn und der Entlastung wurden vor allem das Lernen und die Mitgestaltung von Veränderung, welche mittels IRS möglich werden, positiv gewertet. Das Meldeverhalten ist kritisch mit vorwiegend

Dritt-meldungen und passiver Nutzung der Ärzte einzuschätzen. Bedingung für die Nutzung war eine absolute Wahrung der Anonymität der Meldenden, sodass sich aus Berichten ins IRS keine personalrechtlichen Konsequenzen ergeben. Die Nut-zung setzt eine Vertrauenskultur und einen entsprechend offenen Umgang mit Fehlern im Team voraus. Den Leitungen obliegt es, dafür Sorge zu tragen, dass IRS nicht missbraucht werden und (wenn auch unbeabsichtigte) Schuldzuschreibungen fördern.

Die Studie ergab Hinweise auf eine geringe Nutzung der IRS im Verhältnis zu den geschätzten Soll-Berichts-Häufigkeiten, welche u. a. in der fehlenden Transparenz von Prozessen, Wegen und allgemeinem Wissen über die IRS begründet liegen.

Als weiterer hemmender Faktor für die Nutzung wurden die häufigen Personal-wechsel und damit verbundenen Instabilitäten im Team genannt. Zudem wurde auf die Gefahr der Bürokratisierung hingewiesen wie auch die Gefahr der Schaf-fung von Scheinsicherheit mit Mehrbelastung und Zusatzaufwand sowohl für die Meldenden als auch die Auswertenden.