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Klinik 4 und Foker

4.4 Diskussion der Ergebnisse

4.4.4 Lernpotenziale und Limitationen

aber genau hier eine der großen Chancen der IRS, die, wie andere Studien im Rah-men von Veränderungsprozessen zeigen konnten, für eine Professionalisierung dieser Tätigkeit entscheidende Vorteile bringen können (D. Leonard & Sensiper, 1998; K. J. Leonard, 2004). Fundierte Auswahlverfahren sowie Unterstützungsmög-lichkeiten wie Coaching von Komiteemitgliedern wären hier ein Anfang.

Fragen der persönlichen Verantwortungsübernahme bei offensichtlich grob fahrlässigen Verstößen (violation) gegen das Berufsethos dürfen, vor allem um die Professionalität bei externen Anspruchsgruppen zu wahren, nicht ignoriert werden – wenngleich sie nach Auffassung der Verfasserin nicht in den Kontext der IRS ge-hören, sondern in den Verantwortungsbereich des Managements. Dabei profitieren sie aber von einem Wandel hin zur fehlerfreundlichen Auseinandersetzung und ei-nem organisationalen Lernen. Offen bleibt eine Aufklärung und klare Abgrenzung darüber, wann ein Incident fahrlässig und wann grob fahrlässig ist und wie und durch wen eine solche Entscheidung getroffen werden und sollte.

Evalua-tion) vom Wissen um Human Factors und verhaltenspsychologischen Grundlagen profitieren (Johnson, 2007).

Dies heißt aber auch, dass ein anonymes IRS vor die Herausforderung gestellt ist, trotzdem ein Feedback zu Konsequenzen und Präventionsmaßnahmen zu garan-tieren. Neben der positiven Einschätzung der selbstreflektorischen Effekte der IRS-Nutzung (vgl. Caroll & Edmondson, 2002) kann das Lernen aus Fehlern vor allem auch dem auswertenden „Gegenüber“, also jenen, die die Fälle analysieren und weiterbearbeiten, Erkenntnisgewinn bringen.

„Humans learn through reflexive processes – acting, observing the consequences, and reflecting on how they could do them differently next time. Increasing feed-back between prescribing and prescriber could help to increase the efficiency of learning from errors at the individual level” (Caroll & Edmondson, 2002; Dean, 2002).

Das Explizieren impliziten Wissens, beispielsweise aus der erfolgreichen Bewäl-tigung eines kritischen Ereignisses, ist Voraussetzung, um aus dem Wissen mögli-che Bewältigungsstrategien und Präventionsmöglichkeiten abzuleiten und für ei-nen größeren Kreis nutzbar zu machen (vgl. auch (Davenport & Prusak, 1998).

Damit erweitert die aktive und auch die passive Nutzung von IRS – zumindest bei institutionalisierten Rückmeldungen aus dem IRS an alle Mitarbeitenden – die Möglichkeit, fehlerhafte Handlungen zu erkennen und auf Methoden der koopera-tiven Problemlösung zurückgreifen zu können, womit ein Lernen auf individueller, kollektiver und organisationaler Ebene als wesentlicher Bestandteil von Berufsar-beit (vgl. Bergmann, 2002; Wiegand, 1996) möglich wird.

Einen etwas anderen Blick erhält man, wenn man wissenschaftliche Erkenntnis-se und Grundlagen aus dem Behavioral Risk Management berücksichtigt, wie zum Beispiel das Verhältnis von Zielen und Feedback. Das Definieren von Zielen, ohne dass hier näher darauf einzugehen wäre, wird als eine der wirkungsvollsten Maß-nahmen in Veränderungsprozessen beschrieben: „Goal setting is widely accepted as to be one of the most powerful behavioral motivation techniques” (Guzzo et al., 1985; Locke & Latham, 2002). Dabei ist die Beziehung zwischen Zielen und Feed-back im Sinne eines „Performance FeedFeed-back“ (Rückmeldung über den Wirkungs-grad der spezifischen Arbeitsleistungen) als komplementär anzusehen (Guzzo et al., 1985) und beeinflusst die Motivation und Informationsverarbeitung als hand-lungskontrollierend. Die Eigenschaften von Feedback können variieren. Zum einen kann eine Rückmeldung als positive Verstärkung bei erfolgreichem Handeln wir-ken, zum anderen als Bestrafung nach Fehlern, zudem kann sie eine Erwartungs-haltung setzen. Feedback ist eine „starke“ Veränderungstechnik und auch lernför-derliche Maßnahme.

Ziele hingegen informieren Menschen beispielsweise über bestimmte zu erreichen-de Leistungen, um diese zu messen und überprüfen zu können, während Feedback zu erbrachten Leistungen eine Selbsteinschätzung der eigenen Position erlaubt und gegebenenfalls eine Anpassung oder Veränderung mit sich bringt. In Kombination können Ziele und Feedback als sehr effizientes und kraftvolles Managementtool für Veränderungsprozesse fungieren (Zimolong & Elke, 2006). Der Rahmen lokaler IRS als Berichts- und Lernsysteme für ein organisationales und individuelles Lernen muss aus Sicht der Verfasserin um den Aspekt der klaren Zielsetzung erweitert werden. Aktionspläne wie die amerikanische „Saving 100.000 Lives Campaign“9 mit konkreten messbaren Zielen sind derzeit, selten in Zusammenhang mit IRS.

Hier liegt ein bisher wenig genutztes großes Potenzial der Organisationen und des Gesundheitswesens für Patientensicherheit und das Lernen.

Einen anderen Aspekt haben bereits 1981 Tversky & Kahneman (Tversky & Kah-neman, 1981) anhand der unterschiedlich dargestellten Risiken von Mortalitäts- und Überlebensraten aufgezeigt. Unterschiedliche Informationsdarstellungen rufen unterschiedliche Perspektiven, Urteile und Entscheidungen hervor. Die meisten persönlichen Alltagsentscheidungen werden automatisch getroffen, denn unser Verhalten im Alltag erfolgt oft automatisiert, ohne Kontrolle und Bewusstsein über allfällige Risiken. Reason beschreibt dieses Phänomen bereits 1987 beispielsweise in seinem Generic-Error-Modelling-System-Modell (Reason, 1987). Allein außerge-wöhnliche Umstände oder ungewohnte, neuartige Situationen versetzen Menschen in einen Zustand bewussten Problemlösens. Für den normalen Klinikalltag kann davon ausgegangen werden, dass kein bewusstes Risikoassessment sowie kein be-wusstes Urteilen und Entscheiden stattfindet. Dies gilt es für das Berichten in IRS, aber auch für Analysen und daraus folgende Prozessschritte zu berücksichtigen.

Als positive Lerneffekte aus IRS wurden u. a. ein verändertes Bewusstsein über Fehlerquellen und Prozesse und ein systemisches Lernen genannt. Wenig be-forscht ist bisher, unter welchen Umständen Menschen automatisch handeln, ihrem

„guten“ Gefühl vertrauen und die zuerst verfügbare Handlungsoption wählen be-ziehungsweise wann in einen anderen Modus gewechselt wird. Das Wissen um solche Trigger-Faktoren, u. a. aus IRS, könnte möglicherweise helfen: zum einen, um risikoreiche Situationen rechtzeitig zu erkennen und entsprechend frühzeitig zu handeln; zum anderen, um mehr kritische Situationen zu berichten und als Lernpotenzial zur Verfügung zu stellen.

9 Durch die Kampagne des Instituts for Healthcare Improvement (IHI) sollen 100.000 Patientenleben in beteiligten amerikanischen Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen gerettet wer-den.

Vgl. http://www.ihi.org/IHI/Programs/Campaign/100kCampaignOverviewArchive.htm (Zugriff am 5.12.2007).

Lernförderlichkeit und Systemergonomie (Mensch-Maschine-System). Eine Konklusion aus den zusammengetragenen Berichtsbarrieren ist der Bedarf nach IRS, welche den Eigenschaften, wie z.B. der Leistungsfähigkeit von Menschen entsprechen.

Diese sind sowohl in der Planung als auch in Einführung und Umsetzung von IRS zu berücksichtigen und bilden die Grundlage für eine lernfreundliche Gestaltung und erfolgreiche Nutzung.

Ist der Entscheid getroffen, ein kritisches Ereignis zu berichten, so ist die Erfas-sung von Informationen umso wichtiger, wenn die Erhebung anonym erfolgte und damit (zumindest) keine Möglichkeit besteht, direkt weitere Informationen zum Fall einzuholen. Werden Fallberichte elektronisch erhoben, besteht zudem eine Herausforderung an die Medienkompetenz, wobei auch hier die Human-Factors-Wissenschaft mit dem Wissen um optimale Mensch-Computer-Interaktion der Be-nutzung von elektronischen IRS zugutekommen kann.

Für die Nutzung von IRS wurden vor allem das Verstärken defensiver Abwehr-routinen und das Erlernen eines anderen Umgangs mit Fehlern als kritisch be-nannt. Zum Teil wurde berichtet, dass einzelne Personen im Laufe der Zeit bevor-zugten, Probleme über den Weg der direkten Kommunikation zu lösen. Diese Art der Problemlösung kann als Lernen erster Ordnung bezeichnet werden (Kim, 1993). Da über dieses Vorgehen sehr wahrscheinlich kein Berichten im IRS erfolgt, kann dieses Wissen auch nicht zum organisationalen Lernen und dem „Lernen aus dem Gelernten“ beitragen. Als Gründe wurden häufig die Angst vor Zusatzauf-wand und Konsequenzen wie Mehrarbeit angegeben. Eine entsprechende Gestal-tung und Anwendung von IRS sollte diesen Punkt besonders berücksichtigen. Wei-tere Kriterien, welche einer Nutzung förderlich oder hinderlich sein können, wur-den verschiewur-dentlich in der Diskussion aufgegriffen und finwur-den sich in verdichteter Form in Tabelle 4.4 und in der zusammenfassenden Beschreibung der Barrieren für die Einführung und Anwendung von IRS (s. Abschnitt 4.5 und Anhang).

Tabelle 4.4: Nutzungsfördernde und Nutzungshemmende Faktoren für IRS