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Klinik 4 und Foker

4.4 Diskussion der Ergebnisse

4.4.1 Merkmale der lokalen IRS

seinen Berichts- und Bearbeitungswegen vorgestellt. Diese Informationen waren damit nur den anwesenden Mitarbeitenden und über Protokolle verfügbar. Im Fal-le eines Personalwechsels hieß das: Die Informationen stehen den neuen Mitarbei-tenden nicht direkt zur Verfügung. Eine institutionalisierte Einführung der neuen Mitarbeitenden ins IRS erfolgte in keiner Klinik. Solange im Gesundheitswesen das Berichten und Lernen aus Incidents aber nicht Teil des Berufsauftrags i.S.e. berufli-chen Selbstverständnisses ist und entspreberufli-chend unterstützende Hilfsmittel wie IRS noch nicht im klinischen Alltag verankert sind, kommt solch einer Einführung je-doch eine zentrale Bedeutung zu. Die Kenntnis von papierbasiertem Erfassungsbo-gen (papierbasiertes IRS) oder elektronischem Erfassungsformular reicht dabei i.d.R. nicht aus. Die potenziellen Nutzer müssen frühzeitig in die Gestaltung und Implementierung eingebunden werden, zumindest aber die Zielsetzung, Chancen und Grenzen mit lokalen IRS als Hilfsmittel zum Lernen aus Incidents und für kon-tinuierliche Verbesserungen in der Patientenversorgung kennen. Das Erkennen ei-nes persönlichen Nutzens und die Kenntnis der Art und Weise der Fallbearbeitun-gen, sowie der Systemkriterien etc. können die Glaubwürdigkeit in das System und damit auch deren Nutzung fördern.

4.4.2 Lernförderliche praxisgerechte IRS-Gestaltung

Allen untersuchten lokalen IRS gemeinsam sind die auch im Anforderungsprofil an lernförderliche IRS (s.a. Kapitel 3) vorgeschlagenen Kriterien: Freiwilligkeit, Ver-traulichkeit bzw. Anonymität, nichtstrafendes Berichten und Professionalität im Umgang mit den Berichten (Cohen, 2000; L. Leape, 2002; L. L. Leape, 2003; WHO, 2005). Unter Professionalität werden z.B. neben einem fairen Umgang mit Berichten ins IRS und der Berichtenden untereinander auch zeitnahe strukturierte Ursa-chenanalyse und Feedback zu den Berichten verstanden (Kingston et al., 2004; L.

Leape, 2002). Der Schutz des IRS vor disziplinarischen Maßnahmen und rechtli-chen Abklärungen ist dabei eines der wesentlirechtli-chen Prinzipien (vgl. (L. Leape, 2002;

Vincent et al., 1998a). Der Fokus des zu Erfassenden lag daher auf Fehlern und kri-tischen Ereignissen ohne Schaden für den Patienten. Schadensfälle wie haftpflichti-ge Fälle oder außerhaftpflichti-gewöhnliche Todesfälle wurden über andere Wehaftpflichti-ge bearbeitet.

Es konnte mit der Untersuchung der lokalen IRS am Universitätsklinikum gezeigt werden, dass die Nutzung der IRS dabei abhängig vom allgemeinen wahrgenom-menen Betriebsklima, insbesondere dem Vertrauen untereinander und der bisheri-gen Art der Zusammenarbeit, war (Ausgeprägtheit einer Beschuldigungskultur

„cultur of blame“, Kingston et al., 2004). Auf die Bedeutung einer entsprechenden

Kultur für das Berichten von Incidents wird noch näher eingegangen (s. Studie 3, Kapitel 6).

Bei der Entwicklung und Einbettung der lokalen IRS wurden den spezifischen Einstellungen und Nutzungsbedingungen für den Einsatz als lokale IRS im Rah-men des klinischen RisikomanageRah-ments und der Qualitätssicherung insofern Auf-merksamkeit gewidmet, dass die IRS-Initiatoren eigene Systeme gestalteten oder zumindest auswählten und für die Klinkbedürfnisse anpassten (Andersen et al., 2002a). Die Adaption des papierbasierten IRS aus Klinik 2 für Klinik 1 ist ein ches Beispiel (s.a. 4.3.2.1). Kritisch zu erwägen bleibt allerdings, inwiefern eine sol-che Adaption bei aller Zeitersparnis und Synergienutzung eventuell auch Innova-tion verhindert. Ein praxistaugliches lokales IRS sollte daher zum einen die Ar-beitsbedingungen und Anforderungen des medizinischen Personals an ein sol-ches System stärker berücksichtigen (Manser et al., 2004). Für die Gestaltung und Implementierung traf dies, wenn nur für das System in Klinik 2 zu (Zwischeneva-luation zur Nutzerzufriedenheit). Zum anderen ist zu überlegen, inwiefern sich bei der Nutzung von lokalen IRS die Bedarfe der verschiedenen Beteiligten ausbalan-cieren lassen: der Wunsch des Qualitätsmanagements nach festgelegten und verschriftlichten Prozessen und Strukturen, der Anspruch des klinischen Risiko-managements der Minimierung potenzieller Risiken für Patient und Unternehmen

„Klinikum“ und der Anspruch, möglichst viel Mehrwert ohne Zusatzaufwand zu erreichen. Möglicherweise gilt es hier, einen Schwerpunkt zu finden: der Fokus auf Lernen aus Incidents für mehr Patienten- und Mitarbeitersicherheit (Andersen et al., 2002b; Schiøler et al., 2002). Die Diskussionen, um Unklarheiten betreffend den Meldegegenstand würde dies auch wieder eine pragmatischere Handhabung bie-ten, ohne die Terminologiediskussion außer Acht lassen zu wollen.

Für die IRS-Nutzung wurde von der Mehrheit der Befragten, unabhängig von der Berufsgruppe oder Disziplin vor allem eine einfache und benutzerfreundliche elektronische Erfassung gefordert. Aus den Beobachtungen der IRS-Komitees er-schloss sich zudem, dass die Erfassungsbögen und das elektronische Erfassungs-formular einige Elemente enthielten, die in kaum einer der Komiteesitzungen zur Analyse hinzugezogen wurden (z.B. die Ereignisbegünstigenden Faktoren in CIRSmedical von Klinik 3).

Eine Follow-up Studie berichtete, dass trotz Regulationen (z.B. Medical Device Reporting MDR) nach wie vor das Problem des „Underreporting“ besteht (FDA, 2002). Gründe werden nach Schoofs Hundt (Schoofs Hundt, 2007) vor allem im Be-reich der Gestaltung und des Layout von IRS gesehen.

„If potential contributors cannot use the fields of these documents to accurately provide necessary information then there is little likelihood that incident reporting systems will provide an effective tool for ‘organizational learning’.“ (Schoofs Hundt, 2007), S. 541)

Ein elektronisches IRS wurde am Universitätsklinikum auch wegen der als höher eingeschätzten Anonymität und damit einhergehendem Schutz vor Missbrauch der Daten aufgrund nicht identifizierbarer Handschriften, aber auch wegen des einfa-cheren Zugangs als Umsetzungsvariante für ein lokales IRS bevorzugt. Die vorge-nommenen Untersuchungen zum Berichtsverhalten von Ärzten bestätigten, dass ein elektronisches Berichten unter nichtstrafenden, vertraulichen und freiwilligen Bedingungen bevorzugt werden (Cohen, 2000; Davenport & Prusak, 1998; O'Neil et al., 1993). In einem solchen Fall vereinfacht sich auch die Arbeit der Komiteemit-glieder, da die Informationsübertragung und „Entsorgung“ der Originaldokumen-te entfällt.

Als Nachteile für die Nutzung der lokalen IRS müssen aus den Interviewanga-ben und Dokumentenanalysen ein „underreporting“ und Verzerrungen u .a.

durch das Berichten, die überwiegende Nutzung durch die Pflege und durch die nötige Rekonstruktion von Ereignissen (ein so genannter Hindsight Bias) ange-nommen werden (Caroll & Edmondson, 2002; Walker & Lowe, 1998). Gründe kön-nen beispielsweise in den unterschiedlichen Wahrnehmungen von Incidents, der Angst vor negativen Konsequenzen aus Berichten, der fehlenden Zeit, der teilweise fehlenden unmittelbaren Verfügbarkeit der IRS und des z.T. fehlenden Wissens gesehen werden (vgl. auch Kingston, 2004; Stanhope et al. 1999; Billings, 1998; Vin-cent et al. 1998; Walker & Lowe, 1998).

Aus den Interviews und Dokumentenanalysen der IRS-Berichte ist anzuneh-men, dass Berichte häufiger von Personen angefertigt werden, welche Fehler einer anderen Person melden. Die Studienergebnisse zu den lokalen IRS am Universi-tätsklinikum legen nahe, dass die Wahrscheinlichkeit von Drittmeldungen für mindestens die Hälfte aller Berichte ins IRS angenommen werden muß. Die von den Ärzten selbst in den Interviews als eher „passiv“ beschriebene Nutzung der IRS entspricht den Ergebnissen aus den Dokumentenanalysen.

Verschiedene Untersuchungen, basierend auf einer von Busse & Wright (Busse

& Wright, 2000) in einer Intensivstation (ICU) durchgeführten Studie zu Incident Reports, gehen davon aus, dass im Durchschnitt nur ein Drittel der Berichtenden in

den berichteten Fall direkt involviert waren. Weniger als 10 % der Berichte in Busse

& Wrights Studie (2000) wurden dabei von ärztlichem Personal verfasst.

Eine mögliche Erklärung ist, dass im Dreischichtbetrieb eines Klinikums bei-spielsweise durch die Nachtschicht für den falschen Patienten gerichtete Medika-mente erst während der Abgabe durch die Folgeschicht (Frühschicht) an den Pati-enten realisiert werden. Ein direkter Austausch und eine Besprechung des kriti-schen Ereignisses mit den beteiligten Personen sind oft nicht unmittelbar nach dem Bemerken des Incidents möglich, hier würde ein Bericht ins IRS eine solche Erfah-rung als Lerngelegenheit „konservieren“. Die Organisation der Arbeitsabläufe mit einer Aufgabenteilung, die über den Zeitraum und die Verantwortlichkeit einer Schicht hinausgehen, könnte damit eine mögliche Erklärung für Drittmeldungen bieten.

Zudem kann aufgrund der Interviews angenommen werden, dass kein ausrei-chendes Verständnis über das zu Berichtenden noch die Entstehungsbedingungen von Incidents vorliegt. Die Auslegung dessen was berichtetet werden soll und kann variiert vor allem zwischen Ärzten und Pflege sehr stark: von unerwünschten Er-eignissen ohne Konsequenzen bis hin zu Zwischenfällen mit gravierenden Konse-quenzen für die Gesundheit der Patienten (vgl. Taylor et al. 2004; Walker & Lowe, 1998; Johnson, 2007; Shekelle, 2002; GAO, 1997)7.

Zu beachten ist für die Interpretation von Daten zu verfassten Ereignisberich-ten, dass in den Organisationseinheiten von Krankenhäusern oft mindestens dop-pelt so viel pflegerisches wie ärztliches oder medizinisch-technisch-therapeutisches Personal anzutreffen ist. Bei den von uns untersuchten Organisationseinheiten war das Verhältnis Ärzte–Pflege in etwa 1:5. Methodisch korrekt müsste man dieses Verhältnis bei Angaben zum Berichtsverhalten berücksichtigen. Am Resultat – dass die Pflege IRS aktiver nutzt als der ärztliche Bereich – würde dies insofern wenig ändern, da auch dann immer noch relativ wenige Ärzte im Vergleich zu Pflegen-den berichten. Wenn aus InciPflegen-dents gelernt werPflegen-den soll, so muss vor allem die feh-lende Bereitschaft zum Berichten von ärztlicher Seite adressiert werden (Lawton &

Parker, 2002).

Nach wie vor sollten also bei der Gestaltung von IRS die Berufskultur, der Um-gang mit Problemen, die Arbeitsbedingungen und der Karrieredruck von Ärzten als Berichte beeinflussende Rahmenbedingungen stärker Berücksichtigung finden.

7 Shekelle (2002) zeigt beispielsweise auf, dass Ärzte sich weniger „enthusiastisch“ an Verbesse-rungsmaßnahmen im Krankenhaus, wie z.B. IRS beteiligen, weil Ängste vor Konsequenzen und Wi-derstände gegenüber der vorherrschenden „Qualitäts-Definition“ und deren Indikatoren vorherrsch-ten und nicht adäquat adressiert würden. Eine Studie des U. S. General Accounting Office hat unter-sucht, wie viele Meldungen an die Federal Drug Administration (FDA) bezüglich Medizinproduk-ten/-geräten in Zusammenhang mit Todesfällen, anderen Schädigungen am Patienten sowie Funkti-onsstörungen eingingen (GAO, 1997). Dabei zeigte sich, dass, ein Problem desto seltener berichtet wurde, je schwerwiegender es war.

Für potenzielle IRS-Nutzer muss das IRS außerdem bekannt und leicht zugänglich sein.

Optimierungspotenziale. Um Verzerrungen und „underreporting“ geringzuhalten gibt es zum einen die Möglichkeit, die IRS möglichst nutzerfreundlich und praxis-tauglich zu gestalten, ohne an Qualität einzubüßen (Kingston et al., 2004). Zum an-deren können alternative Berichtsformen wie E-Mail-Berichte, direkte Berichte an IRS-Verantwortliche oder eine zentrale Koordinationsstelle die Nutzung mögli-cherweise fördern. Da die Nutzung vonseiten der Ärzte vor allem für gravierende Fälle, vonseiten der Pflege mit einer größeren Bandbreite für sinnvoll befunden wird, könnte eine Aufklärung über die Absicht von IRS und das Prinzip der Un-fallentstehung eine klarere Definition für die Meldeinhalte schaffen. Eine priorisier-te Bearbeitung und Rückmeldung dieser Fälle mit Einblick in die Entwicklung bis hin zum Zwischenfall kann ein Bewusstsein darüber schaffen, dass nicht nur offen-sichtliche gravierende Fehler und Ereignisse Lernpotenzial bergen. Ursachenanaly-sen (root cause analysis) haben hingegen den Vorteil, dass sie mögliche Bewälti-gungsstrategien und erfolgreiche Vermeidungsstrategien in Zusammenhang mit Fehlern und Zwischenfällen ermöglichen, wobei auch hier Verzerrungen durch ei-nen Hindsight Bias drohen (C. Vincent et al., 1998b). Außerdem erfolgen vertiefte Abklärungen zumeist nur bei folgenschweren Schadensfällen, was eine Abklärung wiederum erschwert. Ferner ist diese Methode in der Praxis noch wenig standardi-siert und kaum im Einsatz.

4.4.3 Erfolgskritische organisationale Einbettung und