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Über Raschis Herkunft ist bis auf vereinzelte hagiographische und familiäre Notizen aus Quellen und Responsen wenig bekannt. Raschis Vater ist außer über das Patro-nym Raschis: Rav Schlomo ben Yitzchaq kaum bekannt. Zu Rav Yitzchaq gibt es zwei randständige Erwähnungen in Raschis Kommentaren. Da ist zunächst eine Stelle in Raschis Kommentar zu bAvoda Zara 75a, die von Abraham Berliner als pseudepigra-phisch eingeschätzt wurde:16

Raschi zu bAZ 75a:

בר ארוסד אנשילל ידכמ הווגב יל אישקו ירומ ןושל ןושארהו יניעב הארנ אוהו דובכ ותחונמ ירומ אבא ןושל יגילפ גלפימ לאומשו Das ist die Lesart meines Vaters und Lehrers, seiner Ruhestätte sei Ehre, und es scheint in meinen Augen (richtig zu sein); die erste Auslegung ist die meines Lehrers, und es ist schwer für mich zu entscheiden, aber die Auslegung Ravs und Shmuels in Sura stimmen nicht überein.

Bekannter hingegen ist das Zitat aus Midrasch Tanḥuma (אמוחנת שרדמ) mit der Phrase: קחצי׳ררמא „Rav Yitzchaq sagt...“, mit der Raschi seinen Kommentar zum Pentateuch wohl nicht ganz zufällig einleitet, und das im Verlauf der Fortschrei-bungstradition des Raschi-Kommentars die Gestalt der Homilie (187,3) aus Midrasch Yalkut Schimoni (ינועמשטוקלי) angenommen hat. Unter hunderten von Midraschim wählte Raschi für den ersten Vers seines Perusch ein Zitat, das mit „Rav Yitzchaq“

beginnt. Eine sekundäre Reminiszenz an seinen Vater ist hier nicht auszuschließen.17

15 Das Broce aux Juifs mit einer Fläche von 1½ ha befand sich im mittelalterlichen Troyes zwischen dem Canal des Bas-Trévois, der Cathédrale Saint-Pierre-et-Saint-Paul, dem Hôtel-Dieu-le-Comte und dem Couvent des Cordeliers (heute ein Gefängnis). Das Zentrum des Broce aux Juifs bildeten die Rue de la Juiverie (Rue du Paon) und die Rue Frobert (benannt nach Église Saint-Frobert, die im 14. Jh. über der Synagoge errichtet wurde). Die Tatsache, dass mit der Église Saint-Frobert (heute ein Privathaus) die Synagoge überbaut wurde, steht stadthistorisch außer Frage. Vgl. Grosley 1812, 293. Das heutige Raschi-Lehrhaus und die Synagoge im westlichen Teil der Altstadt stehen nicht am historischen Ort.

16 In seinem Kommentar bezüglich der Reinigungsvorgänge bei der Purifikation der Kelter erwähnt Raschi die Auslegung der Schule Pumbedithas als die seines Vaters. Abraham Berliner weist darauf hin, dass dieser Passus von Raschis Enkel, Rabbeinu Samuel ben Meir (ריאמ ןב לאומש) stammt und der erwähnte Vater und Lehrer sich auf Meir ben Samuel (לאומש ןב ריאמ) bezieht. vgl. Berliner 1903, 27.

17 Midrasch Tanḥuma liest (anders als Yalkut Shimoni 187,3): הרותה תא בותכל ךירצ היה אל, vgl. die Tanḥuma Ausgabe Buber 1885, 221; Berliner 1905, 424. Zur Eretz-Israel-Frage während des Ersten Kreuzzugs bei Raschi vgl. u.a Petzold 2017, 332–350.

Raschi zu Gen 1,1:

,םכל הזה שדוחהמ אלא הרותה ]תא[ ליחתהל ךירצ היה אל קחצי יבר רמא לארשי ]הב[ ווטצנש הנושאר הוצמ איהש Rav Yitzchak sagte: Die Torah sollte eigentlich mit dem Vers ‚von den Monaten sei euch (dieser der erste)‘ (Ex 12,2) beginnen, da dieser das erste Gebot enthält, welches Israel geboten wurde.

Von Raschis Mutter ist nicht einmal der Name bekannt. Offensichtlich war sie jedoch die Schwester R. Simeons des Älteren (ןקזה ןועמש ׳ר), eines nicht unbedeutenden Schülers Rabbeinu Gerschoms. Raschi erwähnt seinen Onkel, R. Shimeon den Älteren, an einer Stelle seines Kommentars in bShabbat 85b zusammen mit seinem späteren Mainzer Talmud-Lehrer R. Yitzchak ben Jehuda (הדוהיןבקחצי׳ר):

Raschi zu bShabbat 85b

הלוגה יבא םושרג וניבר יפמ ימא יחא ןקזה ןועמש יבר לש ודוסיב ךמס יל יתאצמו ]יניעב ורשי אל םינפ ׳גב הבישוהש[ הדוהי ןב קחצי וניבר תבושתו Und ich fand eine Stütze in der Begründung des Rabbi Shimeon dem Älteren, dem Bruder meiner Mutter, aus dem Munde unseres Lehrers Rabbeinu Gershom, des Vaters des Exils, und der Antwort unseres Lehrers Yitzchak ben Jehudas...

Ein weiteres Mal erwähnt Raschi R. Shimeon den Älteren im Kommentar bEruvin 42b ausdrücklich als seinen Onkel: ןועמש׳רידודןושלוהזו „Und dies sind die Worte meines Onkels R. Shimeons“. Es ist offensichtlich diese Beziehung über den Bruder seiner Mutter, die Raschi die Möglichkeit zum Studium an einer rheinischen Akademie eröff-nete. Vermutlich um das Jahr 1058 zog Raschi von Troyes an den Rhein. Dass Raschi zunächst in Mainz studierte, erhellt aus der Tatsache, dass die beiden Nachfolger Rabbeinu Gerschoms in Mainz R. Eleazar ben Yitzchak und R. Jakob ben Jakar in Raschis Kommentaren prominent Erwähnung finden und Letzterer Raschis erster Lehrer war. Raschi erwähnt R. Eleazar Hagaon ben R. Yitzchak (יברב ןואגה רזעילא׳ר קחצי), Rosch Jeschiva in Mainz bis 1060, u. a. in seinem Kommentar zu Ps 76,11.18

Raschi zu Ps 76,11 (Lemma רֹגּ ְח ַתּ)

ןואגה רזעילא יבר לש ומשמ יתעמשו .ןרופצה וב רוגחתש ידכ ןיכסה תמיגפ הנשמ ןושלב הבכע ןושל .רגחת הנשמ התואל הז ארקמ היאר איבמ היהש קחצי יברב רגחת ist ein Ausdruck der Hemmung in der Sprache der Mischna: Die Scharte im Messer muss den Nagel hemmen [bChul. 18a]: Und ich hörte dies im Namen R. Eleazar Hagaon ben Yitzchaks, der diesen Vers als Beweis zur gleichen Mischna vorbrachte.

18 Vgl. Raschi zu רֹגּ ְח ַתּ in Ps 76,11; i.d.F. Maarsen 1936. Vgl. dagegen App BHS: 𝔊 έορτάσει σοι = ךֶָגּ ָח ְתּ;

hier wird die Lesart ךל גחת (vgl. Kittel 1906) von griech. έορτάζω ‚ein Fest feiern‘ präferiert.

Der erste Lehrer Raschis im Rheinland war R. Jakob ben Jakar (רקי׳רבבקעי׳ר), ein Schüler Rabbeinu Gerschoms und ein Kommilitone R. Simeon des Älteren. R. Jakob ben Jakar war Oberhaupt der Mainzer Akademie, Rosch Jeschiva (אצנגמתבישישאר) und Raschi studierte fünf Jahre bei ihm. An einer Stelle seines Tamud-Kommentars, in bSukkah 35b, nennt Raschi ihn: ןקזהירומ „mein alt(ehrwürdiger) Lehrer“.19 Im Jahr 1922 wurde der Grabstein R. Jakob ben Jakars, als Spolie in der Mainzer Stadtbefesti-gung vermauert, gefunden und damit die Frage um den letzten Aufenthaltsort R. Jakob ben Jakars und mithin die Frage nach dem ersten Lernort Raschis gelöst.20

Epitaph R. Jakob ben Jakars

רקי ׄר ׄב בקעי יבר וניבר תבצמ וז ןדעב ושפנ אהת טרפל ׄד ׄכ ׄת ׄת תנשב ןדע ןגל רטפנה Das ist der Stein Rabbeinu R. Jakob ben R. Jakars,

verschieden in den Garten Eden im Jahr 824 (1064) der Zählung, seine Seele sei in Eden.

Im Jahr 1064 stirbt R. Jakob ben Jakar und sein Nachfolger im Amt des Rosch Jeschiva Mainz (אצנגמתבישישאר) wird R. Yitzchak ben R. Jehuda (הדוהי׳רבקחצי׳ר). Es ist nicht bekannt, wie lange Raschi sein Studium in Mainz unter R. Yitzchak ben R. Jehuda fort-setzt hat, offensichtlich ist jedoch, dass er seinen zweiten Mainzer Lehrer hochach-tungsvoll mein gerechter Lehrer oder einfach Rabbeinu Yitzchak nennt.

Raschi zu bYoma 16b: Raschi zu bShabb 59b:

הדוהי רב קחצי וניבר קדצ ירומ יל שריפ רתומ יתאצמ קחצי וניבר ידימלת ןושל רוסאו (das) lehrte mich mein gerechter

Lehrer Rabbeinu Yitzchak bar Jehuda. und es ist verboten nach der Lehre der Schüler Rabbeinu Yitzchaks..., ich fand, es ist erlaubt.

Unter den vielen berühmten Schülern von R. Yitzchak ben R. Jehudas waren neben Raschi auch Rabbeinu Eliakim ben R. Meshullam21 (יולהםלושמר׳׳בםיקילאונבר) und dessen Schwiegersohn R. Isaak ben Asher Halevi mi-Speyer (יולה רשאןבקחצי יבר ארייפשמ), der als Riba א׳׳ביר nach 1084 in Speyer lehrte, und der erste rheinische Tosafist wurde. Lange bevor R. Yitzchak ben R. Jehuda in Mainz im Jahr 1070 stirbt, zog es Raschi nach Worms (הזיימרוובהרותהזכרמ), den anderen großen Lernort für 19 Vgl. u.a. die Stelle, an denen Raschi auf R. Jakob referiert: z. B. in Ex 3,19: יברב בקעי יבר לש ומשמ יל רמאנ םחנמ „das wurde mir im Namen R. Jakobs ben R. Menachems, gesagt“, die sich offensichtlich nicht auf R. Jakob ben Jakar, dessen Vater R. Simeon ben Yitzchak ben Abun war, bezieht.

20 Vgl. Elbogen 1963; dagegen Blumenfield 1946.

21 R. Eliakim ben Meshullam schrieb Kommentare zu allen Traktaten des babylonischen Talmud, außer zu Berakhot und Niddah (vgl. Solomon Luria, Responsum § 29, und Ascher ben Jechiel, Respon-sum § 8). Nur sein Kommentar zu bYoma ist handschriftlich erhalten, vgl. Manuscript Codex Munich, No. 216. Nach Meinung von Graetz war R. Eliakim der vierte Lehrer Raschis.

Talmud und Torah der rheinischen Juden.22 Dort war R. Yitzchak Halevi ben R. Eleazar (רזעלא רביולה קחצי ׳ר) Rosch Jeschiva und Repräsentant der jüdischen Gemeinde gegenüber der christlichen Obrigkeit. Bei ihm lernt Raschi die Einführung und Umset-zung halachischer Reformen für den Verkehr mit christlichen Kaufleuten, und das rabbinische Wissen zur Führung einer Gemeinde.23 Raschi erwähnt R. Yitzchak Halevi an mehreren Stellen seines Talmud-Kommentars (z. B. bShabbat 119a, 123a, 129a und 139b; bSukkah 35b; bMeg 26a), und er setzt ihn in seinen Kommentaren kritisch in Beziehung zu seinen früheren Mainzer Lehrern. So folgt Raschi in der Frage stellung um die Terminologie der Etrogim für die Liturgie an Sukkot seinem späten Lehrer R. Yitzchak Halevi aus Worms.24

Raschi zu bSukkah 35b

ותמטפ שרפמ היה יולה קחצי וניבר לבא בקעי וניבר ןקזה ירומ ןושל הז אנכוב Bokhna (‚Stiel‘) ist die Bezeichnung meines alten Lehrers Rabbeinu  Jakob (ben Jakars), aber Rabbeinu Yitzchak Halevi erklärte es als Pitam (‚Nase‘).

In einer anderen Frage verwirft Raschi die Lehrmeinung R. Yitzchak Halevis und prä-feriert dagegen die Lehre R. Yitzchak ben R. Jehudas aus Mainz.25

Raschi zu bYoma 39a:

לוספ עראי םאש הנוממ ןגס המל הדוהי רב קחצי וניברמ יתעמש ינאו יולה קחצי ׳ר םשב ורמא ךכ So haben sie es im Namen R. Yitzchak Halevis gesagt, ich habe aber von Rabbeinu Yitzchak ben R.

Jehuda gehört, warum ein Vertreter (beim Schlachten) dabei bleiben soll, fallsnämlich etwas rituell unsachgemäß abläuft.

22 Die Reihenfolge und die Dauer der Aufenthalte (nach dem Tod R. Jakob ben Jakars 1064) sind un-bekannt. Vgl. die widersprüchlichen Angaben bei Grossman 2001, 220, 267, 268, 299.

23 Vgl. A. Grossman 1996, 282–288.

24 In seinem Kommentar zu bSukkah 35b kommentiert Raschi den Kaschrut von Etrogim mit fehlen-der מטפ (‚Pitam‘ = Pickel, Nase, Stiel). Das Problem besteht zum einen in fehlen-der unklaren Terminologie der Mischnah zu Pitam: a) Pitam ist אנכוב =Stiel an der Etrog-Unterseite; b) Pitam ist die מטפ =Nase an der Etrog-Oberseite (Raschis Auffassung), und zum anderen in der Frage, ob Etrogim mit fehlender מטפ koscher für Sukkoth sind. Raschi verweist auf die unterschiedliche Terminologie und Auslegung seines Lehrer R. Jakob ben Jakar und folgt in dieser Sache R. Yitzchak Halevis Auffassung.

25 In seinem Kommentar zu bYoma 39a kommentiert Raschi u. a. den Dissens zwischen Mischna und Baraita bzgl. der Frage der Rolle des stellvertretenden Priesters während des Tamid-Opfers: אק יאמב והנינ ידדה יכ רבס רמו לודג ןהכד הילאמשמ ףידע ןגסד אנימי רבס רמ יגלפימ „und was ist der Dissens? ein Weiser präferiert die rechte Hand des Ersatz-Priesters (ןגס) vor der linken des Hohepriesters; wohinge-gen der andere Weise beide gleich bewertet“. Raschi kommentiert, dass gemäß der Lehrmeinung R. Yitzchak ben R. Jehudas aus Mainz der Ersatz-Priester anwesend sein muss, ihm jedoch bei fehler-loser Durchführung der rituellen Schlachtung durch den Hohepriesters keine Aufgabe zukommt.

Auch in seinem Bibel-Kommentar (1 Sam 1,24; Spr 19,24) erwähnt Raschi R. Yitzchak Halevi namentlich, wenn er von ihm ungewöhnliche Auslegungen gehört hat oder eigene Auslegungen absichern möchte. So ergänzt Raschi seinen eigenwilligen Kom-mentar zu dem Lemma תחלצב in Spr 19,24 um eine Erklärung R. Yitzchak Halevis, die (wie seine eigene) der plausiblen Auslegung des Targum offensichtlich widerspricht.26

Raschi zu Sprüche 19,24 (MS Bodl. Opp. 34):

]...[ הכותל ודי םמחמ ]...[ המח הרויב .תחלצב חלצו עקביו םוגרת ןושלמ תחלצב יתעמש יולה קחצי וניבר םשמו תחלצב, in der Schüssel auf dem Herdfeuer [...], die Hand darin zu wärmen [...], und im Namen R. Yitzchak Halevis hörte ich, dass תחלצב in der Sprache des Targum עקביו bedeutet, so wie חלצו.

Wie lange Raschi in Worms unter R. Yitzchak Halevi studiert hatte, ist unklar. Auch scheint Raschi länger als bisher angenommen im Rheinland gelebt zu haben. Zum einen addieren sich die Studienzeiten unter R. Jakob ben Jakar und seinem Nachfolger R. Yitzchak ben R. Jehuda in Mainz auf mindestens 8 Jahre (1058–1066) auf, zum andern kann Raschis Aufenthalt in Worms bis 1070 angenommen werden, da seine erste Tochter, Yochevet, noch während Raschis Studienaufenthalt mit R. Meir ben Samuel, einem Kommilitonen Raschis, verheiratet wird. Ein Responsum Raschis erwähnt diese Liaison, aus der zum Zeitpunkt der Abfassung (um 1088) bereits seine ersten beiden Enkel, R. Yitzchak ben Meir (Ribam) und R. Samuel ben Meir (Raschbam), hervorgegangen sein müssen.27

Postskriptum des Responsums §59 (י״שר תובושת Elfenbein, 1943)

םולשו הבישב ןוכונו םידליהו יתב םע דעל ריאמ ׳ר ינתח יחי Lang lebe mein Schwiegersohn R. Meir ben Samuel mit meiner Tochter und den Kindern, es ist an der Zeit für Heimkehr und Frieden.

26 Die Ergänzung R. Yitzchak Halevis bleibt letztlich rätselhaft. Raschi versteht das Lemma תחלצב anders als Targum Jonatan: היל ברקמ הימופל אל ףא היתחשׁב הידי ישׁטמד אלטע „Der Faule, der seine Hand in der Armbeuge versteckt, wird sie nicht mal (zum Essen) an den Mund bringen“ (so auch Vulga-ta und LXX) wie in 2 Chr 35,13 Vulga-tatsächlich als ‚Schüsseln‘. Raschi ergänzt seine Auslegung deshalb mit R. Yitzchak Halevis Erklärung, auf die aram. Form ע ַק ָבּ, und mithin auf die Form ח ַל ְצ ‚spalten‘ referiert (vgl. Jastrow ח ַל ְצ). So gelangt der frühe Raschi-Kommentar (hier: Bodl. Opp. 34, Anfang 13. Jh.) zu den bei Frost ‚aufgeplatzten Händen‘; erst spätere Fortschreibungen erweitern den Ansatz ח ַל ְצ ‚spalten‘ zu der aus den Druckausgaben bekannten Wendung ‚die Hände in den Schoß‘ legen.

27 Elfenbein verweist darauf, dass R. Meir ben Samuel um 1070 der Schwiegersohn Raschis wurde (י׳׳שר לש ונתח רבכ היה אוה 1070 תנשבו, S. XXII). Zudem nimmt Elfenbein fälschlicherweise an (anders als Grossman), dass das Responsum §59 aus dem Briefwechsel mit R. Meir ben Samuel stammen müsse. Dagegen spricht, dass Raschi selbst in der dritten Person über R. Meir ben Samuel spricht. Für den Segen im Responsum §59 vgl. Israel Elfenbein 1943, 56; Grossman 2001, 168.

Raschis Lehr- und Wanderjahre in Mainz und Worms waren maßgeblich für seinen Aufstieg zum bedeutendsten Talmud- und Torah-Lehrer Nordfrankreichs. Raschi lernte bei den wichtigsten aschkenasischen Lehrern an den bedeutendsten Schulen des Rheinlandes. Gleichwohl war Raschis Karriere nicht widerspruchsfrei. Die wirt-schaftlichen Verhältnisse Raschis und seiner jungen Familie waren offensichtlich miserabel. So beklagt Raschi in einem Responsum (um 1095) an R. Nathan bar Makhir (ריכמ רב ןתנ ׳רל י״שר תרגא) die prekären Verhältnisse, unter denen er mit seiner Familie im Rheinland gelebt hatte (obwohl diese bekannte Notiz aus dem Kontext gerissen und bisher wenig verstanden ist).28

Responsum §14 (י״שר תובושת Elfenbein, 1943)

םלצא וּל ָכּ ימיו םהינפל יתשמש ראווצב םייחרו שובל ידעו םחל רסח יכ Denn es mangelte an Brot und Kleidung, und die Mühlsteine im Nacken diente ich vor ihnen (den Lehrern), und es ruinierte meine Tage mit ihnen.

Raschi macht im Rheinland keine Karriere: Weder trat er in Mainz im Jahr 1064 die Nach-folge R. Jakob ben Jakars an noch blieb er nach dem Tod R. Yitzchak Halevis in Worms.

Stattdessen heiratete Raschi eine herkunftslose Frau (aus Troyes?), von der nicht einmal der Name bekannt ist, und suchte seiner Tochter einen Ehemann aus dem kleinen Kreis seiner französischen Kommilitonen, die auch am Rhein studierten. Im Grunde kann Raschis Aufenthalt im Rheinland deshalb auch als ‚Nicht-Karriere‘ bezeichnen werden.29 Raschi knüpfte zwar Kontakte zu den akademischen Eliten der Gemeinden Worms und Mainz und korrespondierte zum Teil kontrovers (םבשדקהערזךתובירב)30 mit seinen ehemaligen Lehrern und Schülern, aber er gehörte aufgrund seiner Her-kunft nicht zur aschkenasischen Elite.31 Das politische Establishment im rheinischen Aschkenas bildeten die Familien der Kalonymiden (סומינולקתחפשמ), ein aus Lucca nach Deutschland eingewanderter Familienverband, aus welchem namhafte Gelehrte

28 In diesem stets ohne Kontext zitierten Satz referiert Raschi gerade nicht ausschließlich auf den materiellen Mangel an Nahrung (wie A. Grossman u. a. annehmen), sondern Raschi verweist (selbst-referentiell) auf den talmudischen Diskurs über das Torah-Lernen in bKid 29b: קוסעו וראוצב םייחיר הרותב „eintauchen in die Torah mit Mühlsteinen um den Nacken“, wonach die babylonischen Juden (anders als die Juden in Eretz Israel) sich zunächst eine Frau nahmen, um danach (mit der Last der Familie) in der Fremde (Eretz Israel) Torah zu lernen. Auch für Raschi galt diese Regel des R. Yochanan, weshalb er auch die Gemara dazu kommentierte und die ‚Last der Familie‘ in seinem Kommentar und in seinem Brief an R. Nathan bar Makhir talmudisch als ראווצב םייחרו „Mühlsteine um den Nacken“

bezeichnete. Vgl. zum Ausdruck וראוצב םייחיר Even-Shoshan 2010, 1574; vgl. zur Armuts-Notiz Raschis das Responsum §14 in Elfenbein 1943, 8; Grossman 2006, 24; Grossman 2001, 126.

29 Diese Feststellung traf zuerst Johannes Heil auf der Raschi-Tagung anlässlich des 900. Todestages Raschis in Worms zu Recht. Vgl. Heil 2007, 1–22.

30 Vgl. die Notiz im Responsum §14 (Brief von R. Nathan bar Makhir) in Elfenbein 1943, 7.

31 Vgl. Grossman 2006, 28 unter Punkt ה.

und politische Führer der aschkenasischen Juden des Rheinlands hervorgingen.32 So wurde ein Kommilitone Raschis, R. Schlomo ben Schimshon (ןושמש׳רבהמלש׳ר) nicht nur Rosch Jeschiva in Worms (אזיימרוותבישישאר) als er die Nachfolge seines und Raschis Lehrers R. Yitzchak Halevis antrat, sondern machte aufgrund seiner familiä-ren Herkunft auch eine politische Karriere: R. Schlomo ben Schimschon vertrat die jüdische Gemeinde Worms 1090 gegenüber Heinrich IV.33

Raschi spielte in den politischen Verhandlungen und Auseinandersetzungen der Kalonymiden zur Zeit des Investiturstreits zwischen den rheinischen Bischöfen und dem Kaiser keine Rolle. Sein Ruhm in Aschkenas erreichte ihn erst posthum. Die Eta-blierung einer Yeshiva in Troyes, die Durchsetzung von Rechtsentscheiden innerhalb der Gemeinde (הליהקהתונקת) und die intensive Korrespondenz mit Lehrern, Kommi-litonen und jüdischen Gemeinden bzgl. halachischer oder exegetischer Fragen (vgl.

z. B. die 13 Responsen mit den Gelehrten von Auxerre zur Auslegung der Propheten Jeremia und Ezechiel: ארוצלאינברתוליאשלי״שרתובושת)34 begründeten jedoch schon zu Lebzeiten Raschis seine Autorität in Nordfrankreich. Ein Responsum R. Nathan b.

Makhirs an Raschi (ריכמרבןתנ׳רלי״שרתרגא) von 1095 erwähnt diese Tatsache.

Responsum §14 (י״שר תובושת Elfenbein, 1943)

ולישבח ךיתלוכשא םב שדקה ערז ךתובירב תרחה אל תדמע ךיבא יבאב ויערמ תזחאו ךלמ תחמש יבנע In der Tradition deines Großvaters stehst du, du erzürnst nicht in deinen Disputen,

in ihnen ist heiliger Same angelegt, deine Reben sind gereift, Trauben der Freude des Königs, im Besitz seiner Genossen.

32 Die Tradition der Kalonymiden geht auf R. Meschullam ben Kalonymos (סומינולק ןב םלושמ ׳ר) zu-rück, der zwischen 950 und 1020 zunächst in Lucca und dann in Mainz gelebt hat. Er gilt als der Be-gründer der Mainzer Gemeinde und zugleich als Bindeglied zwischen der babylonischen Tradition Italiens (R. Schlomo ha-Bavli) und der aschkenasischen Tradition des Rheinlandes (R. Schimeon ben Isaak ben Abun mi-Magenza = אצנגממ ןובא ןב קחצי ןב ןועמש יבר) bezüglich der Gebetstradition, der Pijjutim und der Talmudauslegung. Sein Grabstein aus dem Jahr 1020 ist der älteste identifizierte Grabstein auf dem Mainzer Judensand. Aus der Familie der Kalonymiden geht im frühen 13. Jh. mit R. Schmuel ben Kalonymus Hechassid (דיסחה סומינולק ןב לאומש ׳ר) auch die Frömmigkeitsbewegung (זנכשא תודיסח) der Chassidei Aschkenaz hervor. Vgl. Marcus 1991, 60–88.

33 Ein Regest bestätigt, dass Heinrich IV. den Juden von Worms zur Zeit Salmans (R. Schlomo ben Schimschon), des Judenbischofs, ein Privileg erteilt (notum sit qualiter Iudeis de Wormacia et ceteris sodalibus suis statuta proavi nostri imperatoris Henrici tempore Salmanni eorundem Iudeorum epi-scopi). Für die Datierung um 1090 spricht die Rolle R. Schlomo ben Schimschons, der zur Zeit des Privilegs mindestens Rosch Jeschiva in Worms (אזיימרוו תבישי שאר) und Führer der Gemeinde (Parnas) gewesen sein musste. Der Titel ‚episcopus Iudeorum‘ bezeichnete weniger eine religiöse Führerschaft als vielmehr eine zivilrechtliche Schuldhaftung des Manhig (גיהנמ) oder Parnas (סנרפ) für den Kahal (Gemeindevorstand) gegenüber dem Kaiser bzw. dem lokalen Bischof, der im Falle eines Rechtsstreits

‚von den Zeugen das Geständnis der Wahrheit erzwingen soll‘ (ab eo qui est episcopus eorum veritatem fateri cogatur). Vgl. Aronius 1902, 71–77 (Nr. 171).

34 Vgl. Elfenbein 1943, 1–6.

Das Responsum R. Nathan b. Makhirs unterstreicht nicht nur die Tatsache, dass Raschi ‚in der Tradition seines Großvaters‘ stünde, sondern dass sein Same und sein Ruhm sowohl über seine Enkel als auch in seinen streitbaren Responsen und im nachreifenden Wissen seiner Schüler und Respondenten begründet ist.35 Damit erklärt sich auch das ambivalente Bild von Raschis Biographie, die ganz asymmet-risch zunächst aus seinen prekären Lehr- und Wanderjahren im rheinischen Aschke-nas und später aus sei ner schon zu Lebzeiten erlangten überregionalen Prominenz in Nordfrankreich besteht.

Über Raschis weitere Familie sind wenige Details aus seinen Responsen und de rer seiner Schüler bekannt. Bereits im Rheinland muss um das Jahr 1060 Raschis älteste Tochter Jocheved geboren worden sein. Sie heiratete R. Meir ben Samuel, und brachte zwischen 1085 und 1088 ihre Söhne Yitzchak ben Meir (Ribam) und Samuel ben Meir (Rashbam) und etwas später R. Jacob ben Meir (Rabbeinu Tam) zur Welt.36 Mit den drei Söhnen Jocheveds begründet Raschi seine Gelehrten-Dynastie, welche die Ge-schichte der Exegese und der Kommentarliteratur zur hebräischen Bibel und zum Tal-mud nachhaltig beeinflusst. Neben Jocheved hatte Raschi noch mindestens zwei wei-tere Töchter: Miriam und Rachel. Miriam heiratete R. Judah ben Natan (Rivan), ei nen bekannten Tosafisten, der Raschis Talmud-Kommentar zu Makkot (nach Raschis Tod im Jahr 1105) ab Folio 19b fertigstellte und zudem viele eigene Kommentare zum Tal-mud schrieb.37 Ein Sohn aus dieser Beziehung, R. Yom Tov, gründete in Paris eine Schule und stand mit seinem Cousin Rabbeinu Tam in enger Verbindung.38 Über Ra-schis jüngste Tochter Rachel ist nur bekannt, dass sie R. Eliezer ben Schemiah heira-tete und wieder geschieden wurde.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Familie Raschis (seine Vorfah-ren väterlicherseits und seine Kinder und Enkel) in Nordfrankreich in der Champagne (Troyes, Ramerupt, Dampierre, Melun) verortet waren, dass jedoch ein Zweig der Familie, nämlich die Vorfahren mütterlicherseits mit der erwähnten Onkellinie über R. Schimeon den Älteren (ןקזה ןועמש ׳ר) über Verbindungen ins aschkenasische Rheinland verfügte (dafür spricht auch die Notiz R. Nathan b. Makhir zum Großvater Raschis). Anders lässt sich die ausgedehnte Studienzeit Raschis in Mainz und Worms und die Rückkehr nach Troyes (die ‚Nicht-Karriere‘ Raschis im Rheinland) und die

35 Das Responsum §14 (י״שר תובושת Elfenbein 1943) erwähnt Raschis Großvater mütterlicherseits, den Vater seiner Mutter und seines Onkels, R. Schimeon der Ältere (ןקזה ןועמש ׳ר). Es ist auch über die Verwandtschaft des R. Simeon des Älteren mit R. Simeon b. Yitzchak b. Abun (ןב קחצי ןב ןועמש יבר ןובא) spekuliert worden. Vgl. Grossman 2001, 117.

36 Vgl. Epstein 1897, 306–307; und Liss 2011, 57.

37 Vgl. die Notiz des Jehuda ben Natan zu bMak 19b: רתוי שריפ אל הרהטב ותמשנ האציו רוהט ופוג וניבר ןתנ ‘רב הדוהי ‘ר ודימלת ןושל ךליאו ןאכמ „der Körper unseres Lehrers war rein, seine Seele entwich in Reinheit, und mehr hat er uns nicht ausgelegt, ab hier sind es die Worte seines Schülers R. Jehuda ben R.

Natan.“

38 Vgl. Gross 1897, 509–510.

gleichzeitige überregionale Bedeutung für die Juden der Champagne nicht erklären.

Als Raschi zwischen 1070 und 1075 vom Rhein nach Troyes zurückkehrte, gehörte er aufgrund seines langen Studienaufenthaltes am Rhein zu den bedeutenden jüdi-schen Lehrern der Champagne. Raschi errichtete in Troyes seine eigene Yeshiva, wurde Mitglied des Beth Din, korrigierte und ordnete die lokalen Gebetbücher neu,

Als Raschi zwischen 1070 und 1075 vom Rhein nach Troyes zurückkehrte, gehörte er aufgrund seines langen Studienaufenthaltes am Rhein zu den bedeutenden jüdi-schen Lehrern der Champagne. Raschi errichtete in Troyes seine eigene Yeshiva, wurde Mitglied des Beth Din, korrigierte und ordnete die lokalen Gebetbücher neu,