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Raschi hatte während seines Studiums in Mainz und Worms offensichtlich nicht nur echte aschkenasische Bibelkodizes gesehen, die (anders als die Torah-Rollen) einen punktierten und akzentuierten hebräischen Obertext mit Masora und Targum boten, sondern er hatte auch gelernt, dass der hebräische Bibeltext mit Hilfe der aramäi-schen Targume, der Midraschim, und der Masora selbst an den dunkelsten Stellen verständlich und damit erklärbar wird. Die Idee, dass die Torah, die Mose am Sinai empfangen hatte (mAvot 1,1: יניסמהרותלבקהשמ), grundsätzlich intelligibel ist, war zu jener Zeit nicht selbstverständlich, bediente sich die zeitgenössische christliche Hermeneutik doch vorzugsweise der Allegorese, um unverständliche Stellen im bib-lischen Text zu erklären. Gleichzeitig setzte Raschis Anspruch auf Erklärbarkeit der Torah ein Konzept der Schrift voraus, das die Torah mi-Sinai weiter fasst, als es der christliche Nomos-Begriff tat, nämlich als rabbinische Unterweisung (אתיירוא). Die Torah mi-Sinai als Unterweisung bedurfte ihrerseits der Erläuterung, denn sie war in der Lebenswelt Raschis viel mehr als das erweiterte Religionsgesetz, nämlich ‚Torah, Mischna, Talmud und Aggada‘ (Exodus Rabbah 47,1). Diesem erweiterten rabbini-schen Konzept der Schrift wurden zunächst die vielgestaltigen Auslegungen der unzähligen Midraschim mit dem hermeneutischen Prinzip der ‚Omnisignifikanz‘

gerecht, „with the basic assumption underlying all of rabbinic exegesis that the sligh-test details of the biblical text have a meaning that is both comprehensible and significant...“.47 Dieser umfassende, jedoch unsystematische und hermeneutische Ansatz änderte sich offensichtlich mit der erzwungenen städtischen Koexistenz jüdi-scher, christlicher und islamischer Theologien im Zeitalter der Kreuzzüge, der Recon-quista, und den damit einhergehenden apologetischen Tendenzen der Schrifterklä-rung. Der Schriftempfang (Torah mi-Sinai) und das kognitive Verstehen der Schrift als rabbinische Unterweisung (אתיירוא) war – angesichts des Quran und der Biblia Sacra und der durch sie begründeten politischen Herrschaftsansprüche – keine Selbstver-ständlichkeit mehr. Das Wechselspiel zwischen Quran-Exegese und judeo-islami-scher Wissenschaft und Diskurskultur (ʿIlm al-Kalām), hier vor allem die arabisch inspirierte Hebraistik der Karäer, und die damit verbundene Entwicklung der hebrä-ischen Lexikographie und Grammatik (Judah ben David Hayyuj; Menahem ben Saruq), verlangten nach neuen hermeneutischen Methoden der Texterschließung.

Die Hebraistik der Karäer und die linguistisch dominierte Hermeneutik mündete, vermittelt über den Herrschaftsbereich des Islam im Maghreb und Spanien (Sefarad), in der philologisch dominierten biblischen Exegese eines Abraham Ibn Ezra und R. David Qimḥi und beeinflusste die spätere mittelalterliche Bibelauslegung der europäischen Juden maßgeblich.

47 Vgl. zum Begriff der ‚Omnisignifikanz‘ v. a. Kugel 1981, 103–4; Harris 2004, 15–34.

Doch diese Entwicklung erreichte Raschi nicht. Sein Anspruch war ein anderer und so teilt er es in seinem Kommentar zu Gen 3,8 mit: „Und ich kam für nichts anderes, als für den Literalsinn (Peschat) der Schrift“ (ארקמלשוטושפלאלאיתאבאלינאו).

Raschi zu Gen 3,8

תושרדמ ראשבו הבר תישארבב םנוכמ לע וניתובר םורדס רבכו םיבר הדגא ישרדמ שי וינפוא לע רובד רבד ארקמה ירבד תבשימה הדגאלו ארקמ לש וטושפל אלא יתאב אל ינאו Es gibt viele aggadische Midraschim und unsere Weisen haben sie schon in Midrasch Rabbah und anderen Midraschim geordnet. Ich kam jedoch für nichts anderes, als für den Literalsinn der Schrift, und solche Midraschim, welche die Worte der Schrift erläutern, jedes nach seiner Art.

Das hermeneutische Prinzip, das mit Raschi und der auf ihn referierenden jüdischen Auslegungsliteratur Nordfrankreichs verbunden wird, ist der Peschat (טשפ). Obwohl bis heute nicht wirklich geklärt ist, welchen Begriff des Peschat Raschi hatte, wird der Peschat mit der Auslegung nach dem Literalsinn verbunden. Raschis Enkel, R. Samuel ben Meir (Rashbam), berichtet hingegen in seinem Kommentar, dass sein Großvater, der späte Raschi, ein verändertes Verständnis des Peschat hatte und seinen Bibel-Kommentar noch einmal und durchaus anders geschrieben hätte.

Samuel ben Meir (Rashbam) zu Gen 37,2

תוטשפה יפל םירחא םישורפ תושעל ךירצ היה יאנפ ול היה וליאש יל הדוהו ]...[ ימא יבא המלש ונבר םגו םוי לכב םישדחתמה Und auch unser Lehrer Rabbeinu Shlomo, mein Großvater mütterlicherseits, (...) gestand mir, dass er, wenn er mehr Muße hätte, noch andere Erklärungen schreiben würde, nach den Peschatot, wie sie täglich neu aufkommen.

Der Peschat bei Raschi ist seinem Wortsinn und seiner Methodologie nach schwer zu bestimmen, denn Raschi benutzt den Begriff ‚Peschat‘ nie in isolierter Form, sondern verwendet die Wendung Peshuto shel Miqra (ארקמלשוטושפ). Die Form טשפ (Pe‘al-Form von Aram.: ܛ ܰܫܦט ַשׁ ָפ = ausstrecken, flach machen, Arab. َطَسَب) bezeichnet in der exegetischen Terminologie der Amoräer einfach nur die Auslegung des Bibeltextes.48 Mit der von Raschi bekannten Wendung: Peshuto shel Miqra war noch keine semanti-sche Engführung oder Bezeichnung einer hermeneutisemanti-schen Methode verbunden, sondern lediglich die Übersetzung des rabbinischen Begriffs: Peshuto deQeria (היטושפ איירקד), der auf die Ausdeutung des hebräischen Bibeltextes in den tannaitischen Midraschim referiert.49

48 Vgl. Begriff ‚Peschat‘ ausführlich Bacher 1905, 170–174.

49 Vgl. z. B. den Gebrauch von איירקד היטושפ im Kontext von jSanh 18a zur Auslegung von Ex 21.

Der hermeneutische Begriff des Peschat (טשפ → טושפ) als ‚Literalsinn‘ in Abgrenzung zum ‚Derash‘ (שרד) entwickelte sich in der Gemara durch die Frage: יאמבארקדהטישפ ביתכ „was ist der Peschat (Literalsinn) des Schriftverses?“, die in der Regel durch eine amoräische Debatte zum Textverständnis der Mischna oder eine als Derash bezeich-nete Auslegung veranlasst war (bArach 8b). Der Peschat war also zunächst die Antwort auf den talmudischen ‚Derash‘ und erhielt erst mit der etablierten Ausle-gungsliteratur der nordfranzösischen Schule Raschis eine besondere Bedeutungszu-schreibung, nämlich die des Literalsinns. Aber was bedeutet ‚Literalsinn‘ im Kontext des Raschi-Kommentars? Meint der Peschat tatsächlich den sensus litteralis, die buchstäbliche Bedeutung des Wortes? Dann genügte die erklärende Paraphrase. Viel-mehr ist der ‚Peschat‘ bei Raschi eine Auslegungsmethode, die den historischen und literarischen Kontext eines Wortes oder Verses berücksichtigt und erklärt, also ein Literalsinn, bei dem der Buchstabe die Ereignisse lehrt (Littera gesta docet). Auch das viel zitierte talmudische Motto וטושפידימאצויארקמןיא „kein Schriftvers kann seinen Literalsinn verlieren“, das Raba in bYev 24a seiner Schriftauslegung voranstellt, erklärt nicht den Peschat, sondern bestätigt nur den Gebrauch des Nomens טוּשׁ ָפ im Diskurs der Gemara. Raschi legte sich gerade nicht auf eine hermeneutische Methode fest noch hatte er einen Begriff des Peschat als Literalsinn, den spätere Exegeten ihm zuschreiben wollten, sondern er bediente sich methodisch aus dem zeitgenössischen hermeneutischen Repertoire und legte den Text der hebräischen Bibel mit Hilfe der Targume und der ihm bekannten Midraschim aus. Die neuere Raschi-Forschung nennt deshalb die exegetische Methode Raschis ‚contextual exegesis‘ und versucht seinen Peschat als „an explanation according to its language; syntactical structure; its immediate literary context; its literary type, within a dynamic interaction among all of these components...“ zu erklären.50

Raschi hat weder eine Einleitung in seine Kommentare verfasst noch seine Methode hinreichend erörtert. Es gibt jedoch einzelne Kommentare, in denen Raschi Bemerkungen zu seiner Methode macht. So leitet Raschi das Vorwort zum Hohelied-Kommentar mit Ps 62 Vers 12 und einer methodischen Bemerkung ein:51

50 Es hat in der jüngeren Vergangenheit zwei Untersuchungen der Methode des ‚Peschat‘ bei Raschi gegeben, die den ‚Peschat‘ methodisch gegen den ‚Derash‘ abzugrenzen suchten. Benjamin Gelles und Sarah Kamin mussten jedoch beide feststellen, dass sich der ‚Peschat‘ bei Raschi weder als Be-griff noch als exegetische Methode eindeutig identifizieren bzw. gegen einen ‚Derash‘ kontrastieren lässt. Vgl. Gelles 1981 (Druckausgabe seiner Dissertation, London 1974); und Kamin 1986 (Druckaus-gabe ihrer Dissertation, Jerusalem 1978; die Dissertationsschrift mit dem Titel: לש תינשרפה ותעדות םירחא ארקמ ירפסל וישוריפמ רחבמו תישארב רפסל ושורפ י׳׳פע .שרדל טשפ ןיב הנחבהה רואל :י׳׳שר enthält anders als die Druckfassung eine englische Zusammenfassung).

51 Raschi erläutert in seinem Psalmen-Kommentar ad loc. „Eines hat Gott geredet: Ich habe zwei da-raus verstanden, und was sind die beiden? (erstens) Du hast die Kraft, einem Mann nach seinen Taten zu vergelten, und du, Gott, besitzt Ḥesed“ Raschi bezieht die beiden Dinge auf das Wort זע und erläutert sie als Aspekte der göttlichen Stärke. Raschi erwähnt weiter unten dazu, dass er diese Auslegung (Derasch) von Moses ha-Darshan gehört hat, dem Leiter der Jeschiva in Narbonne. (Die Handschrift Ms Lutzki 778 liest ad loc. das Zitat des Verses Ps 62,12 auch verändert als: ונעמש וז םיתש).

Raschi zu Hohelied (Vorbemerkung)

וטושפ ידימ אצוי ארקמ ךל ןיא רבד ףוסו םימעט המכל אצוי דחא ארקמ .יתעמש וז םיתש םיהלא רבד תחא תוארקמהש ומכ הרדס לעו הינפוא לע אמגודה בשייל ךירצ אמגודב םהירבד םיאיבנה ורבדש יפ לע ףאו עמשמו םרדס לע םרואיב בשייל ארקמה תועמשמ שופתל יבלב יתרמאו ]..[ הז רחא הז םירודס Eines hat Gott geredet, zwei Dinge habe ich gehört (Ps 62,12). Ein Bibelvers bringt viele Bedeutun-gen hervor, am Ende jedoch verliert kein Vers seinen Peschat. Und gerade weil die Propheten ihre Worte in Allegorien (אמגוד) gesprochen haben, muss man diese Allegorien auflösen nach ihrer Art und nach ihrer Anordnung, so wie die Schriftverse geordnet sind, einer nach dem anderen. [...] und ich sage mir in meinem Herzen: Ich will die Bedeutungen der Schrift einfangen und ihre Interpreta-tionen abgleichen nach ihrer Anordnung.

Raschi erweitert hier seine Erklärung zum Peschat aus Gen 3,8 und stellt nicht nur klar, dass die Sprache der Propheten erklärungsbedürftig ist, weil sie in Bildern (אמגוד = griech. δεῖγμα) sprechen, sondern er strebt an, die verschiedenen Bedeutun-gen der Schriftworte (Peschat, Derasch, Allegorie) und ihre Interpretationen im Mid-rasch inhaltlich aufzubereiten ארקמהתועמשמשופתל und in seinem Kommentar als Anthologie der besten Auslegungen darzubieten םרדסלעםרואיבבשייל.

In seinem Hohelied-Kommentar bietet Raschi zudem eine weitere bemerkens-werte allegorische Auslegung zum Thema ‚Lesarten, Torah und Masora‘, die für den Kontext dieser Untersuchung von außerordentlicher Bedeutung ist, und die in den Handschriften und Drucken unterschiedlich tradiert ist. So liest der traditionelle gedruckte Raschi-Kommentar zu Hohelied 3,8: עעמשןינמיסותורוסמןהונייזילכוברחשיא חכתשתאלשהרסמהואסריגהתאםדילעןידימ „Ein jeder hat sein Schwert (Hld 3,8): Das sind Kriegsgeräte, die Masorot und die Simanim, die von ihnen aufgestellt werden, die Lesarten und die Masora, damit nicht vergessen werde.“ Der Parallelismus erschließt sich jedoch nicht, weil der gedruckte Raschi-Kommentar mit pseudepigraphischen Erweiterungen kontaminiert wurde. Die frühen Handschriften hingegen lesen kürzer und bieten eine plausible Allegorie. So liest die Raschi-Kommentar-Handschrift München Cod. hebr. 5.1,2 (Würzburg 1233) ad loc.: םינמיסותורוסמםהונייזילכוברחשיא חכשתאלש םדילעהרותה םידימעמש „Ein jeder hat sein Schwert (Hld 3,8): Das sind Kriegsgeräte: die Masorot und die Simanim, die die Torah aufrichten, damit sie nicht vergessen werde.“ Es sind also die Masora und die Simanim (in der Masora magna und in den Okhla-Listen), die das Vergessen der Einzelheiten der verschriftlichten Torah in ihrer unterschiedlich ausgeprägten Materialität in Rollen und Kodizes ver-hindern sollen. Sie sind das Schwert der ‚sechzig Helden‘ (Hld 3,7–8), die im Krieg der Torah (הרותלשהמחלמ) die Buchstaben des Konsonantentextes, die Akzente und die Melodie des Gesetzes schützen. Doch der zweite Teil des Kommentars erfährt in der Fortschreibungstradition des Raschi-Kommentars eine Umdeutung: An die Stelle der Torah rücken die Lesarten der Masora.

Aus der Übersicht zu den Varianten des Raschi-Kommentars zu Hld 3,8 wird ersichtlich, dass der zweite Teil des Kommentars erheblichen Umdeutungen ausge-setzt war. Zunächst verdrängte die Lesart אסריגה (Variante) die ursprüngliche ‚Torah‘

in den Handschriften und wurde dann in den neuzeitlichen Drucken des 16. Jh. mit der ‚Masora‘ ergänzt. Die handschriftlichen Zeugen dieses Kommentars variieren jedoch be züglich der Frage, was genau die Masorot und die Simanim als ונייז ילכ (Kriegsgeräte) vor dem Vergessen schützen sollten: die Torah oder ihre Lesarten (אסריגה)? Die Drucke lassen von der ursprünglich intendierten und in einer schönen Allegorie versteckten Fragestellung nach der Torah nichts übrig und verschieben den Kommentar semantisch zu den Lesarten der Masora hin. Jenseits ihres offensichtlich pseudepigraphischen Charakters stellt Raschis Bemerkung zur Masora jedoch auch eine Besonderheit dar, da die Masora nicht zitiert, sondern selbst Denotat des Satzes, mithin zum Auslegungsgegenstand im Kommentar Raschis, wird.

Übersicht zu den Varianten des Raschi-Kommentars zu Hld 3,8 Mss & Ed.

חכשת אלש םדי לע הרותה םידימעמש םינמיסו תורוסמ םה ונייז ילכ ... München 5 חכתשת אלש םדי לע הרותה םידימעמש םינמיסו תורוסמ םה ונייז ילכ ... Leipzig 1 חכשת אלש אסריגה םדי לע םידימעמש םינמיסהו תורוסמה םה ונייז ילכ ... Parma 181

חכתשת אלש אסריגה תא ןידימעמש ןינמיסו תורוסמ ןה ונייז ילכ ... Oxford 186 חכתשת אלש םדי לע אסריגה ןידימעמש ןינמיסו תורוסמ םה ונייז ילכ ... Paris 155 חכתשת אלש אסריגה ןדי לע םידימעמש םינמיסו תורוסמ ןה ונייז ילכ ... Wien 220 חכתשת אלש אסריגה תא םדי לע םידימעמש םינמיסו תורוסמ ןה ונייז ילכ ... Lutzki 778 חכשת אלש ׳רסמהו אסריגה תא םדי לע ׳ידימעמש םינמיסו תרוסמ ןה ונייז ילכ ... Bomberg2 חכתשת אלש ]הרסמהו[ אסריגה תא םדי לע ןידימעמש ןינמיסו תורוסמ ןה ונייז ילכ ... MQG Haketer

חכשת אלש הרסמהו אסריגה תא םדי לע םידימעמש םינמיסו תרוסמ ןה ונייז ילכ ... Bar-Ilan Resp.

Der Raschi-Kommentar zu Hld 3,8 bietet zudem einen doppelten Erkenntnisgewinn.

Zum einen erläutert er das Konzept der Allegorie bei Raschi, besonders aber die Rolle der Priester und Schriftgelehrten im Krieg der Torah (הרותלשהתמחלמ) als im Kriegs-handwerk Ausgebildete (המחלמידמולמ), deren Waffen die als Kriegsgeräte (ונייזילכ) umgedeuteten Simanim der Masora sind, mithin die Rolle der Rabbinen (und damit der Soferim, Naqdanim und Masranim) gegenüber den frühen christlichen Hebrais-ten an den Kathedral-Schulen Nordfrankreichs (Hugues de Saint-Victor). Zum anderen beweist der zweite Kommentarteil die Fragilität des ursprünglichen Raschi-Kommen-tars in den frühen Handschriften gegenüber Kontaminationen aus Glossenmaterial des Fortschreibungsprozesses und der selektiven Auswahl von handschriftlichen Text-zeugen für die Druckausgaben des Raschi-Kommentars.

I.1.5.1 Exkurs: Die ‚trüben‘ Augen Leas

Vor dem Hintergrund der in der christlichen Umwelt Raschis zunehmenden Bedeutung der Allegorese als Methode der Schriftauslegung (vor allem für den Psalter und das Hohelied) muss man an einigen Stellen sogar von einem programmatischen Coun ter-Peschat Raschis gegen die christliche Allegorese sprechen. Die Allegorese als Metho de

„dessen, was zu glauben ist“ (quid credas allegoria), die in der Literaturwissenschaft die Auslegung eines Textes nach einem über den wörtlichen Sinn hinausgehenden alle-gorischen ‚Anderssagen‘ vermittels der bildlichen Darstellung eines abstrakten Begriffs versteht, war eine beliebte hermeneutische Methode, um neutestamentliche Inhalte oder Symbole der christlichen Volksfrömmigkeit in den fremden Kontext der hebräi-schen Bibel hineinzulesen. So benutzten die Zeitgenossen Raschis, wie der Kanoniker Bruno von Köln (1030–1101), der Ordensgründer der Kartäuser, die Allegorese, um den Vorrang des kontemplativen, klösterlichen Lebens gegenüber dem weltlichen Leben zu begründen.52 Bruno legte das komplexe Bild von Lea und Raḥel in Gen 29,17 „Die Augen Leas waren schwach, Rachel aber war schön von Gestalt und schön von Angesicht“ als Metapher für die trübe, aber fruchtbare Welt gegenüber dem klaren kontemplativen Leben der Mönche aus.53 Die Welt sei wie Lea, fruchtbar zwar, aber mit trüben Augen (lat. lippis, triefend und blöd), wohingegen die Mönche wie Raḥel sind, klarblickend und von schöner körperlicher und spiritueller Gestalt.54 Selbst der Name Raḥel wird etymologisch eigenwillig als ‚visum principium‘ umgedeutet, wonach der Kontempla-tive die Geheimnisse Gottes schauen kann, während die Augen der fruchtbaren und tätigen Lea bereits erloschen waren. Die Zurückgezogenheit des eremitischen Lebens der Mönche der Kartause (Ordo Cartusiensis) ist schön wie Raḥel: ‚Haec est Rachel illa formosa, pulchra aspectu, a Iacob plus dilecta‘ „Dies ist gleich der Raḥel, die mit ihrer schönen Gestalt und ihrem Liebreiz von Jakob mehr geliebt wurde...“.55

Raschis Antwort auf diese eigenwillige Allegorese hatte einen praktischen Ansatz für Leas Augen. Raschi folgt nicht dem Literalsinn des biblischen hebräisch (תוֹכּ ַר für

‚schwach‘), sondern bemüht den Midrasch aus bBB 123a: ולרוגבתולעלהרובסהתיהש ןטקלהנטקהולודגלהלודגהןבללתונביתשוהקברלםינבינשםירמואלכהויהשהכובוושעלש

„denn sie (Lea) vermutete in das Los Esavs zu fallen, und weinte, alle würden sagen, Rivka hat zwei Söhne, Laban hat zwei Töchter, die Ältere dem Älteren, die Jüngere dem Jüngeren“. Demnach waren die Augen Leas verweint, aber der Natur nach nicht trübe.

52 Vgl. Brox 1992, 15–45; und Grundmann 1977.

53 Vgl. Die Schrift, Buber 1997.

54 Vgl. Luther (1534) „aber Lea hatte ein blöde gesicht / Rahel war hübsch und schön“ gegen Luther (1984) „Aber Leas Augen waren ohne Glanz, Rahel dagegen war schön von Gestalt und von Angesicht“.

55 Vgl. Haec est Rachel illa formosa, pulchra aspectu, a Iacob plus dilecta, licet minus filiorum ferax, quam Lea fecundior sed lippa. Pauciores enim sunt contemplationis quam actionis filii, verumtamen Ioseph et Beniamin plus sunt ceteris fratribus a patre dilecti – „Dies ist gleich der Raḥel, die mit ihrer schönen Gestalt und ihrem Liebreiz von Jakob mehr geliebt wurde, auch wenn sie ihm weniger Söhne gebar als Lea. Diese war fruchtbarer, hatte aber glanzlose Augen. Denn die Kinder der Beschaulichkeit sind weniger zahlreich als die Kinder des tätigen Lebens.“ Vgl. Brox 1992, 59.

Doch dieser Ansatz Raschis verwundert auch deshalb, weil er sich nicht des Targum Onqelos bedient, das mit der Wendung: ןָי ַאָיהאָ ֵל יֵני ֵע ְו „und die Augen Leas waren schön“ einen überraschenden Befund bietet.56 Doch die Targume waren widersprüch-lich und es scheint offensichtwidersprüch-lich, dass Raschi nicht das Targum Onqelos vorliegen hatte, sondern die Rezension eines Targum, wie es z. B. noch im Fragment-Targum der Handschrift Ms Paris 110 vorliegt: איכבתווהדלעןכיכרןווההאלדאהנייעו „und die Augen Leas waren schwach und verweint“.57 Hier also hatte Raschi die verweinten Augen Leas gefunden. Andere Targum-Rezensionen bieten ähnliche Varianten: So lesen die Targume in den Mss Leipzig 1 und Vat. 440: ןיכיכרןווההאלדהנייעו „und die Augen Leas waren schwach“. Auch die christliche Umwelt Raschis jenseits der eremitischen Mönche hatte feste Vorstellungen von den Augen Leas. So gibt auch die zeitgenössi-sche altfranzösizeitgenössi-sche Übersetzung, die Bible Historiale des französizeitgenössi-schen Kanonikers Guyart des Moulins, das lateinische: ‚sed Lia lippis erat oculis Rahel decora facie et venusto aspectu‘ mit ‚Mais Lye auoit les yeulx chacieux‘ „Aber die Augen der Lea waren trübe“ wieder.58

Raschi wehrt in seinem Kommentar nicht nur eine konkrete Allegorese der Kartäu-ser auf Kosten der jüdischen Stammmutter Lea ab, sondern reagiert auf die zeitgenössi-sche Auffassung zur Äußerlichkeit Leas in der Vulgata, den Targum-Rezensionen und den altfranzösischen Übersetzungen und ist hierbei bestrebt, den inkriminierten Unterschied zwischen Lea und Rahel auszugleichen. Die christliche Allegorese stand im Raum des theologischen Diskurses und betraf theologische, exegetische und phi-lologische Aspekte der interdenominationellen Diskurse zwischen den christlichen (monastischen und regularkanonischen) Schulen und interkonfessionellen Diskur-sen zwischen jüdischen und christlichen Gelehrten. Das Beispiel illustriert den Unter-schied zwischen der monastischen Allegorese, die das eremitische Ideal der Kartause zu begründen sucht, und Raschis kombinatorischen Ansatzes, des Peschat als ‚con-textual exegesis‘ aus Midrasch und Targum-Varianten, um seinen Rezipienten und Schülern, also den im ‚Kriegshandwerk Ausgebildeten‘ (המחלמידמולמ), die Werkzeuge und ‚Waffen‘ (ונייז ילכ) für den ‚Krieg der Torah‘ (הרותלשהמחלמ) an die Hand zu geben, um den Text der hebräischen Bibel und die Deutungshoheit über seine religi-onsgesetzlich relevanten Passagen hinaus an ambivalenten Lemmata und komplexen Phrasen gegenüber den christlichen Hebraisten zu verteidigen.

56 Vgl. Targum Onqelos zu Gen 29,17: Berliner liest (mit der Ed. Sabioneta 1557) ןָי ַאָי האל יניעו; so auch Sperber 2013; die nordfranzösische Handschrift Vat. ebr. 14 liest die nicht identische, aber gleich lau-tende Variante: ןיָי ָאָי האל יניעו.

57 Es ist merkwürdig, dass Raschi an dieser Stelle die Lesarten des Targum Onqelos nicht gekannt haben sollte, zumal diese in den nordfranzösischen Ausgaben (vgl. z. B. Ms Vat. 14) interlinear in den hebräischen Bibeltext eingeflochten waren. Vielmehr ist wohl davon auszugehen, dass Raschi aus exegetischen Gründen auf eine Targum-Variante ausgewichen ist, welche die von ihm präferierte Les-art des Midrasch unterstützte.

58 Vgl. Taguchi 2010.