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IV.1 bSanh 4a: Die Orthographie der Qarnot

IV.1.4  Die Masora zu den תנרק in Leviticus

Dieser Konflikt zwischen orientalischer und aschkenasischer Tradition um die תונרק -Lesarten in Leviticus begegnet natürlich auch in den Bibelhandschriften. Die Masora zu den תונרק in Lev 4, die seit der frühen Neuzeit zu den acht תנרק in Leviticus bekannt war, war die Masora der zweiten Bomberg-Ausgabe von 1525. Diese Masora folgt der tiberiensischen Systematik, nach der die vier תונרק in Lev 4,4; 8,15; 9,9 und 16,18 plene und die תנרק in Lev 4,18.15.30.34 defektiv geschrieben werden.

Vers Lesart Mp/Mm Manuskript

Die tiberiensische Systematik wird in den Handschriften L (B 19a) und Sassoon 5702 für den orientalischen und in den Handschriften Valmadonna Trust 1 (=MOTB CG. MS 000858; ex. Sassoon 282) und Wroclaw M1106 für den europäischen Raum bezeugt.

Dieser Masora-Typ markiert das erste Vorkommen des Lemmas תונרק in Lev 4,7 mit einer Mp-Note in der Form ׄותב ׄלמ ׄד „viermal plene in der Torah“ und ergänzt eine Mm-Note in Lev 4,7 (MOTB CG. MS 000858; Wroclaw M1106), in Lev 8,15 (St. Peters-burg B19a) oder in Lev 16,18 (Sassoon 5702). Die Handschrift L (B 19a) fällt aus der Reihe, weil sie die Mp-Note falsch notiert. Die gedruckte Masora von Ben Chajim folgt in den wesentlichen Details der Masora dieses Typs und gibt damit bereits im Jahr 1525 ziemlich genau die tiberiensische Systematik wieder. In einem Punkt jedoch weicht sie ab und ergänzt zu Lev 4,18 und 25 die Mp-Note דמ״ב׳סחלוכ „alle (Formen תנרק) defektiv mit vier Ausnahmen“. Diese redundante Information ist tatsächlich in einigen Handschriften (Vat. ebr. 448; Regensburg) in der Form למ ׄד ׄמ ׄב׳סח ׄירואלוכ belegt und wurde auch in Masorot von solchen Kodizes aufgenommen, wo sie dem Konsonantentext eindeutig widersprach (Berlin Or. fol. 1214). An dieser Mp-Note kann man sehr gut das Aufwachsen des nicht widerspruchsfreien masoretischen Corpus innerhalb der tiberiensischen Systematik bis zur Übernahme in die Druckaus-gaben nachvollziehen. Die Durchdringung der Handschriften mit der tiberiensischen Masora lässt sich an drei aschkenasischen Handschriften (IM 180-52 ‚Regensburg‘;

Vat. ebr. 468 ‚La Rochelle1‘; Vat. ebr. 482 ‚La Rochelle2‘) beobachten, die sehr früh mit der tiberiensischer Masora kontaminiert wurden. Alle drei Handschriften bezeugen die tiberiensische Systematik im Text und in der Masora: die vier תונרק in Lev 4,4;

8,15; 9,9 und 16,18 plene und die vier תנרק in Lev 4,18.15.30.34 defektiv; dazu die Mm-Note beim ersten Vorkommen in Lev 4,7 wie in anderen westeuropäischen Hand-schriften (Valmadonna Trust 1 (MOTB CG. MS 000858) und Wroclaw M1106.

Eine zweite Gruppe von aschkenasischen Handschriften (Vat. ebr. 14; Oxford Bodl. Procock 347; de Rossi 668; BL Add. 9401; BM Add. 15252 ‚Duke of Sussex‘) bezeugt einen hybriden Masora-Typus und einen masoretischen Mischtext. Diese Handschriften vereint das Phänomen, dass ihr MT nicht mit der applizierten Masora übereinstimmt. So notiert die Handschrift Vat. ebr. 14 die Mp- und Mm-Note für die Plene-Schreibung in Lev 4,7, liest das Lemma im MT ad locum defektiv; dafür aber in Lev 4,25 plene. Die Handschrift Procock 347 notiert die Mp- und Mm-Note für die Plene-Schreibung in Lev 4,7 und setzt eine Mp-Note für Plene-Schreibung in Lev 9,9, liest jeoch ad loc. defektiv. Die Handschrift de Rossi 668 liest תונרק in Lev 4,25 plene, setzt aber die Mp-Note für die Plene-Schreibung in Lev 9,9. Dort liest sie jedoch defek-tiv und trägt den Circellus und das Wav nach. Originell ist die Masora der Handschrift BM Add. MS 15252 ‚Duke of Sussex‘. Die tiberiensische Systematik wird durch eine Mp-Note für die Defektiv-Schreibung in Lev 4,18, Mp ׄלמ ׄב ׄמ ׄב ׄסח ׄואלכ „alle (Formen תנרק) in der Torah defektiv mit Ausnahme von vier plene“ und eine Mm-Note mit den Simanim ergänzt, obwohl der MT ad loc. תונרק plene liest. Obwohl die Simanim der Magna-Note die tiberiensische Systematik der vier plene תונרק in Lev 4,4; 8,15; 9,9 und 16,18 notiert, liest der Obertext der Handschrift das Lemma תונרק an sechs Stellen plene (u.a. in Lev 4,25 und 4,34)!

Eine dritte Gruppe von Handschriften (u.a. BM Harley 5710; Oxford Huntington 11; Ambrosiana B30 inf.; Berlin Or. fol. 1214) bezeugt zunächst die hybride Masora, weist jedoch noch Spuren der aschkenasischen Tradition der Plene-Schreibung in Lev 4,34 auf! So notiert die Handschrift BM Harley 5710 an drei Stellen die Mp-Note ׄד

ׄלמ und liest die Form תונרק an Stelle von Lev 4,7 tatsächlich in Lev 4,34 plene! Der Masran hatte hier also die Mp-Noten noch nicht angepasst. In der Handschrift Bodl.

Huntington 11 wird die Form תונרק in Lev 4,34 plene gelesen, allerdings addiert sich diese Plene-Schreibung zu insgesamt fünf auf, obwohl die Masora: Mp ׄלמ ׄד „vier mal plene“ liest. Ähnlich ist die Situation in den Handschriften Ambrosiana B30 inf. und Berlin Or. fol. 1214. Beide lesen an sieben von acht Stellen die Form תונרק plene, beide in Lev 4,34, wohingegen die Masora diesem Befund widerspricht und mit den vier Mp-Noten ׄלמ ׄד „vier mal plene“ und zwei Mm-Noten in Lev 4,7 und 9,9 die tiberiensische Systematik notiert. Der gleiche Befund gilt für Berlin Or. fol. 1214. Auch hier liest der MT die Form תונרק sieben mal plene, darunter in Lev 4,34, obwohl die offensichtlich sekundäre Masora an drei Stellen die Mp-Note ׄלמ ׄד „vier mal plene“ notiert. In Lev 4,18 notiert die Masora an die Plene-Schreibungen von תונרק die Mp-Note: ׄד ׄנמ ׄרב ׄסח ׄלכ

ׄלמ „alle (Formen תנרק) defektiv mit Ausnahme von vier“ und bezeugt darin ihre hete-rogene Herkunft.

IV.1.5 Lesarten und Masora zu תונרק

Stelle Lesart Mp/Mm Manuskript

Stelle Lesart Mp/Mm Manuskript

Stelle Lesart Mp/Mm Manuskript

Die Untersuchung des Raschi-Kommentars zur talmudischen Diskussion bSanh 4a bezüglich der Plene- oder Defektiv-Schreibung der Form תונרק in Lev 4,25–34 konnte zeigen, dass der rezipierte masoretische Text in L (BHS) und die tiberiensische Masora keineswegs die Vorlage für die Gemara und für den Raschi-Kommentar gebildet haben können. Vielmehr zeigen die handschriftlichen Zeugen des Traktats Sanhedrin und die wenigen Reste der aschkenasischen Bibeltext-Tradition, dass sowohl im babylonischen Talmud als auch in den aschkenasischen Handschriften die Reihe der Formen תונרק in Lev 4,25–34 in der rabbinischen Tradition תונרק-תנרק-תנרק (zweimal defektiv, einmal plene) gelesen wurde. Der Raschi-Kommentar zur Stelle legt die Plene-Schreibung eindeutig auf Lev 4,34 fest. Dieser überraschende Befund wider-spricht zunächst dem MT von L (BHS) und wird in den Druckausgaben des Talmud zudem verfälscht. Das Responsum des Shlomo Ben Adret bezeugt jedoch

eindrucks-voll, wie problematisch sich die Ankunft der tiberiensischen Masora in Westeuropa gestaltete. Die tiberiensische Masora destabilisierte die Schreiber-Traditionen und kontaminierte in unterschiedlicher Intensität die europäischen Kodizes und Buchrol-len der Torah. Anhand der verschiedenen hebräischen Bibelhandschriften konnten diese Phasen der Durchdringung der tiberiensischen Masora nachgezeichnet werden.

Die drei Gruppen europäischer Bibelhandschriften bezeugen unterschiedliche Phasen der Kontamination mit tiberiensichen Material. Während die erste Gruppe die voll-ständige Übernahme der tiberiensischen Masora und ihrer Lesarten im Obertext in den mittelalterlichen europäischen Handschriften bezeugt, zeigen die beiden anderen Gruppen die verschiedenen Grade der Durchdringung. Während die zweite Gruppe die Masora widerspruchsfrei an den hebräischen Text appliziert und nur eine zusätz-liche Plene-Schreibung der Form תונרק in Lev 4,25 vornimmt, übernimmt die dritte Gruppe die tiberiensische Masora nur teilweise und hier auch nicht widerspruchsfrei, und liest dafür übereinstimmend die Form תונרק in Lev 4,34 weiterhin plene. Die Handschriften der letzten Gruppe bilden die wenigen heute noch erreichbaren hand-schriftlichen Zeugen für die von Raschi in seinen Kodizes vorgefundene, für seinen Kommentar zu bSanh 4a vorausgesetzte und in den frühen Manuskripten des Talmud bezeugte Lesart der Plene-Schreibung von תונרק in Lev 4,34.

Am Beispiel der Reihung תונרק-תנרק-תנרק und der Lesarten der תונרק-Formen in bSanh 4a und Lev 4,25–34 konnte auf Grundlage des Raschi-Kommentars und der erhaltenen frühen Lesarten in den europäischen Bibel- und Talmudhandschriften gezeigt werden, dass die tiberiensische Masora sowohl für die rabbinische Tradition als auch für die aschkenasischen Bibeltexte sekundär war. Das bedeutet, dass mit Hilfe der modernen Textausgaben des masoretischen Textes (BHS, BHQ, Haketer) die mittelalter liche europäische Textkultur nur bedingt und nicht widerspruchsfrei stu-diert und verstan den werden kann. Erst die Einbeziehung der westeuropäischen Lese- und Schreibtraditionen in den erhaltenen Artefakten des masoretischen Textes und der Masora in den aschkenasische Bibelhandschriften erklären plausibel die exegeti-schen und masoreti exegeti-schen Einlassungen Raschis und die für diese Arbeit antizipierte eigenständige aschkenasische Text- und Masoratradition Westeuropas.

Am Beispiel der Manipulation der Lesarten und der Reihung der תנרק in Lev 4,25–34 im masoretischen Text und in der Phrase des Beit Hillel in den talmudi-schen Traktaten bSanh 4a und bZev 37b und anhand des Raschi-Kommentars zur Gemara lässt sich der kulturelle Konflikt zwischen orientalischer (tiberiensischer) und okzidentaler (aschkenasischer) Tradition der hebräischen Bibeltextüberlieferung eindrucksvoll nachzeichnen.